SECHS - Das Kaninchen
Als Bea ihr Dorf im Morgengrauen verließ, trat sie durch eine Wand aus Nebel, hinein in den Frühling. In eine Welt, die sie zwar kannte, aber kaum Erinnerungen daran hatte. Es war so lange her gewesen. Und es schnürte ihre Kehle zu. Das Herz stockte, ihre Hände wurden schweißnass.
Etwas hielt sie zurück. Die Dunkelheit zu Hause verlangte nichts. Bea hatte alles andere vergessen. Hatte verlernt, zu leben und zu handeln. Die andere Seite war ein Ozean, bei dem man nicht wusste, was sich darin verbarg. Es war eine Fahrt ins Ungewisse, ein Labyrinth, eine Art Geburt. Schmerz und Erlösung zugleich.
Bea ging mehrmals zurück, konnte es kaum glauben, doch es war stets derselbe Effekt. Wie ein Vorhang, ein dünner grauer Vorhang. Er versteckte ein Paradies aus Licht, Farben, Geräuschen und Gerüchen. Bea ließ den Vorhang durch ihre Finger gleiten und fühlte sich wie nackt auf der anderen Seite. Als streifte der Vorhang ihr Kleid gleich mit ab. Als ließe sie ihre Hülle fallen, ihren Kokon?
War sie jetzt ein Schmetterling? Bea stand am Ufer eines Baches und betrachtete ihr Spiegelbild. Ein Mädchen stand da, mit dunklen Haaren bis zur Hüfte. Augen, Nase, Mund. Zwei Arme, etwas zu dünnen Beinen. Sie war gewachsen in den letzten sieben Jahren, aber sie konnte sich nicht erinnern, wie sie als Siebenjährige ausgesehen hatte. War sie dick oder dünn? Hübsch oder unscheinbar? Mutig oder schüchtern?
Sie wusste nicht mehr, wer sie damals gewesen war und sie wusste nicht, wer sie jetzt, in diesem Augenblick war. Die Raupe hatte gesagt, sie würde sich verwandeln. Was sollte das bedeuten? Sie fühlte sich nicht wie ein Schmetterling. War alles doch nur ein Traum gewesen? Doch sie sah den Ring an ihrem Finger. Er leuchtete grün wie das Gras in der Frühlingssonne.
Grün war es auch um sie herum. Sie hatte die Farben dieser Erde schon fast vergessen. Tränen rannen über ihre Wangen wie der Bach über Steine und die Tropfen fielen hinab, gesellten sich zu dem Tau auf den Gräsern. Etwas brach in ihr, die Schale, die ihre Sinne verschlossen hatte. Darunter kam eine Frucht zum Vorschein, die süß wie Honig war und anstelle des Blutes durch Beas Körper floss.
Bea blickte über den Bach hinüber. Gelbe Löwenzahn-Tupfer besprenkelten die Wiesen und Felder, die sich zu allen Seiten ergossen wie ein grünes Meer. Hier und da durchbrach die Fläche ein Baum, ein Busch, die sich wie schlafende Riesen aus der malerischen Kulisse herausschälten. Eine klare Linie bildete der blaue Horizont. Er hielt das Bild im Gleichgewicht, zeigte wo oben und unten war. Und dahinter das Gebirge.
Es erhob sich wie ein graues Imperium und passte so gar nicht zur künstlerischen Idylle der Natur. Bea spürte ein Ziehen in ihrer Brust, als würde der Berg an einem Seil ziehen, das in Beas Inneren verankert war. Eine Kette, eine Fessel.
Die Luft schien plötzlich stickig und ganz leicht sah Bea Nebel aufziehen, zwischen Disteln und Farnen. Sie erspähte das Ding dort oben als silbernem Punkt und ihr Kopf stach wie von Nadeln. Dann tanzten die Zahlen wie weiße Flirrer vor ihren Lidern. Bea zählte wie auf Kommando, als hätte jemand die An-Taste gedrückt. Auch die Sieben hüpfte immer wieder vor ihr her. Die Entspannung ging mit den Zahlen einher.
Bea schirmte ihre Augen ab, atmete tief durch, und schob das Gefühl von sich weg. Sie zwang sich, den Berg auszublenden. Sie wusste nicht warum, aber er lockte sie in die Dunkelheit zurück. Das durfte nicht passieren. Sie spürte ihren Kampfgeist wie Strom durch ihren Körper schlagen. Bea wollte ihre Aufgabe nicht aus den Augen verlieren. Ob es nun ein Traum war oder nicht. Solang der Ring an ihrem Finger saß, würde sie den Worten der Raupe Folge leisten.
Hoffentlich sorgten sich Beas Mutter und Großmutter nicht allzu sehr. Doch es gab keine andere Chance für Bea, gesund zu werden. Die Aufgabe der mysteriösen Raupe war die letzte Möglichkeit, das Glück zurückzuholen. Egal ob Realität oder Fantasie.
Bea kehrte dem Schatten den Rücken zu und wendete sich zum Licht - schnallte ihren Rucksack enger und lief rechts den Weg am Bach entlang. Er glitzerte in der Sonne, als hätte jemand Partikel darauf verstreut. Die Gräser, der Sauerampfer und die Margeriten säumten den Wegesrand, als wären sie die Wächter der Wiesen.
Eine Biene summte um Beas Kopf. "Töte niemals eine Biene. Sie sind kostbarer als Gold. Gibt es eines Tages keine Bienen mehr, dann geht's auch mit uns dem Ende zu", hörte sie ihre Mutter sagen. Das Tierchen flog im Zickzack und landete auf einem Löwenzahnkopf. Bea lächelte über den Eifer des fleißigen Bienchens. Auch sie ließ sich niemals von ihrer Lebensaufgabe ablenken.
Die Biene hatte Bea von ihrem Weg abgelenkt und sie stolperte über einen Stein. "Autsch!", fluchte sie und hatte alle Mühe, nicht zu stürzen. Um im Gleichgewicht zu bleiben, trat sie mit einem Bein ins hohe Gras. Es raschelte und Samen der Pusteblumen segelten wie kleine Regenschirme in die Luft. Bea durchzuckte eine Erinnerung, doch sie konnte das Bild nicht greifen. Nur die Empfindung blieb auf ihrer Haut und verursachte ein Kribbeln.
Sie ging in die Hocke. Zupfte einen der Stängel ab und es ploppte. Dann tropfte der Saft heraus und Bea wusste, dass er braune Flecken hinterlassen würde, die nur schwer wieder zu entfernen waren. Doch woher sie dieses Wissen nahm, konnte sie nicht beantworten. Sie wusste auch, dass dieses eine Exemplar ein Teufelchen war, denn die Narbe der Blüte hatte schwarze Wurmstiche. Die Engel waren ohne diesen Makel. Mit dem Finger schnippte Bea das Teufelchen in die Wiese.
Als ihr Blick dem Wurf folgte, fiel ihr etwas Seltsames auf. Einige Meter weiter ins Grün hinein, war eine kreisrunde Stelle plattgedrückt. Der Rand, an dem die Gräser und Blumen noch hochragten, wackelte verdächtig hin und her. Wer oder was versteckte sich dort? Bea saugte tief Luft ein und späte vorsichtig hinüber.
Es war eindeutig ein Tier. Welches genau konnte Bea noch nicht genau erkennen. Es hatte schon mal zwei weiße Ohren, die zuckten, als würden sie lästige Fliegen verscheuchen wollen. Aber Bea konnte nichts dergleichen erkennen. Hatte das Geschöpf womöglich Angst? Zitterte es deshalb? Wahrscheinlich war die Kuhle ein Versteck.
Bea stakste wie ein Storch durch Glockenblumen, Rittersporn und Schachtelhalm. Der Duft nach Blüten und Nektar machte sie ganz schwindelig. Sie musste sich erst wieder an Gerüche gewöhnen. Ihre Sinne waren etwas überfordert mit der Explosion an Eindrücken. Als hätte jemand einen Sack über ihr geöffnet und alles fiel nun auf Bea hinab, ungefiltert und zu stark geballt.
Kurz vor der Stelle, an dem das Kaninchen saß, wie Bea nun erkannte, ging sie in die Hocke. Ihre Knie knackten und die Ohren des Häschens zuckten daraufhin noch heftiger. Es duckte sich in die Grube und schnupperte mit seinem schwarzen glänzenden Näschen. Die weißen Barthaare standen in alle Richtungen. Genauso das weiße buschige Fell. Seine nachtschwarzen Augen flackerten sie an wie glühende Kohlen. Gleich würde es davonhoppeln. Bea wagte nicht zu atmen, nur ganz flach, kaum merklich.
Einige Minuten vergingen und das Kaninchen begriff, dass Bea harmlos war, denn es wurde ruhiger. Die Ohren schliefen ein, die Äuglein verloren ihre Tiefe. Und es richtete sich sogar ein klein wenig auf. Es war so zuckersüß. Ein kuscheliger Wattebausch. Bea hätte das Kaninchen am liebsten auf der Stelle geknuddelt. Sie streckte ihre Hand aus. Der Ring leuchtete strahlend grün.
"Du musst für mich ein Liedchen singen, kleines Mädchen!", sagte da wie aus dem Nichts eine Stimme.
Bea drehte ihren Kopf. Strich sich ihre Haare aus dem Gesicht und überflog die Umgebung. Der Weg, der Bach, die Wiese. Sonst nichts. Seltsam. Die Sonne kitzelte auf ihrer Nase, es fühlte sich so sehr nach träumen an. Es musste ein Traum sein, was sonst? Dann fiel ihr Blick auf das Häschen. Sie blickte etwas genauer hin, beugte sich vor und erhob erneut die Hand, um es zu berühren. Sie musste einfach.
"Ja! Genau dich mein ich!", sagte dieselbe Stimme und das Häschen hüpfte plötzlich auf sie zu. Nun war es nur mehr wenige Zentimeter von Bea entfernt. Beide blickten sich in die Augen. Die Pupillen des Kaninchens schimmerten silbern. Es sah gar nicht aus wie ein Tier. Es sah aus, als wisse es mehr als Bea. Hatte dieses Wesen gerade gesprochen?
"Meinst du … mich?", stotterte Bea.
"Siehst du sonst noch jemanden? Dummes Ding!", sagte allen Anschein nach das Kaninchen.
"Ähh … wieso reden plötzlich alle Tiere mit mir?", stammelte Bea und kratzte sich am Kinn.
"Weil du-u die bist, die das Glück sucht, nicht wa-ahr?" Das Häschen zog die Worte in die Länge.
"Äh … ich glaube schon. Die Raupe hat es mir gesagt."
"Die Raupe ist die Königin!", sagte das Kaninchen.
"Die Königin von wo … von wem?", fragte Bea.
"Die Königin von Ich", flüsterte das Kaninchen und duckte sich in den Kies hinein.
"Von dir?", fragte Bea.
"Nein, nicht von mir, von Ich - das ist etwas komplett anderes. Es ist in dir."
"Was ist in mir?" Bea saß nun im Schneidersitz, das Häschen direkt vor ihr. Schweiß trat ihr auf die Stirn, die Sonne glühte auf ihre schwarzen Haare hinab und lähmte die Gedanken.
"Das Ich ist in dir, kleines Mädchen. Die Raupe ist die Königin von Ich in dir. Und ich bin in mir, so einfach ist das. Dein Königreich. Mein Königreich. Zwei verschiedene Dinge."
Bea hob die Arme, wollte weitere Fragen stellen, und ließ sie kurz darauf wieder sinken. Mit Zahlen kannte sie sich aus, aber Wörter! Wörter waren nicht gerade ihre Freunde. Bea wechsekte das Thema. "Was meinst du mit Lied singen?"
"Du musst für mich ein Lied singen. Dann komm ich mit dir."
"Ich hab das Singen vor sieben Jahren verlernt", sagte Bea und ihre Stimme klang wie Rauch. Sie ließ ihren Kopf sinken und die Haare verdeckten ihr Gesicht wie ein Vorhang.
"Papperlapapp! Sowas verlernt man nicht!", sagte das Kaninchen und hüpfte noch näher zu Bea.
Sie fühlte das weiche Fell an ihrem Knie. Vorsichtig legte sie eine Hand auf den Rücken des Kaninchens. So flauschig wie die Haare ihrer Mutter oder das Lammfell vor dem Kamin.
"Sing bitte einmal Häschen in der Grube für mich!", befahl das Kaninchen.
Bea wollte es nicht verärgern und versuchte sich zu erinnern, wie man singt. Es war schon lange her, als sie das letzte Mal gesungen hatte. Die Erinnerung daran war wie ein Tropfen im Ozean. Sie strengte sich trotzdem an, denn es war ja schließlich nur ein Traum und alles möglich.
Die ersten fünf Versuche waren bloßes Gekrächze. Aber nach dem siebten Mal kam so etwas wie ein Ton heraus. Das Kaninchen sah Bea mit großen schwarzen Äuglein an. Die Ohren zitterten.
"Häschen in der Grube saaß und schlief, saaß und schlief …" Beas Stimme wackelte, als balancierten sie über ein Seil. Doch es gefiel ihr.
"... armes Häschen bist du krank, dass du nicht mehr hüpfen kannst …" Bea sang bereits nach wenigen Strophen flüssig, klar und hoch wie ein Fink.
"... Häschen hüpf! Häschen hüpf! Häschen hü-ü-üpf!" Am Ende wurde ihre Stimme so hoch, dass Bea ihre Arme in die Luft heben musste, um genügend Luft holen zu können.
Ihr Lied wurde von der Sommerbrise mit fortgetragen und klang so rein wie das Bächlein. Beas Augen glänzten und ihre Wangen glühten. Ihr Herz war schon längst mit davongeflogen.
Das Kaninchen hüpfte um sie herum und schlug einen Haken. "Häschen hüpf! Häschen hüpf!", sang es dabei und Bea wusste nicht mehr, wie ihr geschah. Etwas in ihr hatte sich verändert.
Da fiel es ihr plötzlich auf. Eine silberne Strähne hob sich aus ihrem Haar ab. Sie nahm es zwischen ihre Finger und bewunderte es. Was hatte das alles zu bedeuten? Was geschah nur mit ihr?
Sie schnappte sich das Häschen und tat, was die Raupe ihr gesagt hatte. Sie ging den Weg weiter entlang, sie folgte ihrem Herzen.
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