FÜNF - Die Raupe
Bea war auf eine Liege gebettet worden. Das Gras kitzelte nur noch an den Fußsohlen, die an den Seiten des Holzrahmens herabhingen wie Anker auf einem Schiff, doch sie fanden keinen Halt.
Mit den Fingern strich Bea über das flauschige Kissen, sie sank tiefer und tiefer. Sie fühlte sich wie auf Wolken, die Luft roch nach Regen und warmer Erde. Nur die Geräusche waren noch weit entfernt wie unter Wasser. Oder fiel Bea zu schnell durch die Wolken? Es rauschte nur um sie herum und durch das Grau und Weiß tanzten die Zahlen wie Vögel im Wind und pickten in ihr Bewusstsein. Ihre einzigen Freunde.
Manchmal versuchte Bea, sie zu fangen, doch sie waren ohne Materie. Wie Nebel - wie Träume. Plötzlich kitzelte es an ihrem Bein. Die Zahlen flogen in alle Richtungen aus ihrem Kopf davon. Sie blickte an ihrem Kleid herunter, bis sie an etwas Grünem haften blieb.
Bea beugte sich vor. Wie konnte es hier etwas Farbiges geben und dann noch dazu grün? Bea träumte natürlich nur, wie könnte es auch anders sein? Sie ging noch näher heran. Eine Zwei und eine umgedrehte Fünf schwebte verloren vor ihr her. Sie wedelte sie mit einer Handbewegung fort. Wie lästig sie sein konnten - und so aufdringlich.
Eine Raupe! Eine giftgrüne Raupe mit braunen Härchen und dicken Füßchen! Sie erkannte den Kopf und die Augen, das ganze Gesichtlein. Sie schob Vorder- und Hinterbeine zusammen und erklomm Beas linke Wade. Es kitzelte. Sie beobachtet das Tierchen eine Weile. Es machte einen Bogen mit der Mitte ihres Körpers und schob sich so vorwärts.
Bald erreichte die Raupe Beas Knie. Es kitzelte so sehr und Bea musste an eine Spinne denken. Sie runzelte die Stirn, saugte die Luft tief ein. Seltsames Tier so eine Raupe. Ob sie bald zum Schmetterling werden würde? Bea zählte die Sekunden - wartete und beobachtete.
"Kleines Mädchen, was schaust du so grimmig?"
Wer war das? Wer hatte gesprochen? Bea sah hoch, ihre Blick schärfte sich wie ein Visier. Niemand war hier und nur Nebel rundherum. Nebelgeister? Oder wieder nur ihre Träume? Beas Augen tasteten nach irgendetwas, woran sie sich festhalten könnten. Aber sie rutschten ab wie von einer Glasscheibe. Da war nichts als Grau.
Als sie den Kopf wieder zur Raupe drehte, sah diese ihr direkt ins Gesicht. Die Raupe guckte aus wie ein Pfeifenreiniger mit Augen, die sie anblitzten. Ihre Augen sahen nicht aus wie die eines Tieres. Bea fröstelte und ihr Herz schlug schneller. Der kleine Raupenmund öffnete sich und die Stimme von vorhin erklang: "Hast du noch nie eine Raupe gesehen? Was starrst du mich so an?"
Bea öffnete den Mund, doch kein Wort wollte herauskommen. "Aehhh …", stammelte sie. Der Teer in ihrem Inneren verklebte die Wörter, nur einzelne Buchstaben lösten sich.
"Ich sehe schon, so wird das nichts mit dir, kleines Mädchen", sagte die Raupe und richtete sich soweit auf, dass sie nur noch auf zwei dicken Beinchen stand. Das Grün ihres Körpers wurde immer heller, leuchtender. Als hätte sie im Inneren eine Lampe angemacht. Dann wuchs sie, einige Zentimeter, bis sie in etwa so groß wie Beas Unterarm war. Sie hatte schmale Augen, ein kleines Näschen und ein breites Grinsen. "Buh!", machte die Raupe und Bea zuckte zusammen.
"Ahh-Ehh … mmh", stotterte Bea und zwickte sich in den Arm. Sie musste träumen, bestimmt war sie vorher unbemerkt eingeschlafen. Ja, das war die einzig logische Erklärung. Die letzten sieben Jahre waren ein einziger Traum, doch der Unterschied bestand in der Farbe. Dieses Tierchen war grün - nicht grau oder schwarz oder weiß.
Bea rappelte sich hoch, die Raupe klebte auf ihrem Knie. "Also, ich … ja, noch nie eine sprechende … schon eine Raupe, also ich hab schon oft Raupen gesehen, aber … ähm … keine, die mit mir spricht."
"Ahha, ja, das kann außer mir auch keiner!" Die Raupe verschränkte die kleinen Ärmchen vor ihrer Raupenbrust und räusperte sich. "Ich spreche nur für dich, Mädchen", sagte sie.
"Für mich? Warum denn das? Ich bin doch nur ein Mädchen … ein krankes Mädchen!"
"Papperlapapp! Krankes Mädchen, pfft. Du bist in deinem Kokon, in deiner Puppe. Das ist völlig normal und ganz nach Plan."
"Welche Puppe? Ich spiele nicht mehr mit Puppen."
"Muss ich dir denn alles erklären? Du verwandelst dich. Weißt du denn nichts über Metamorphose? Hat dir deine Mutter denn nie von Raupenpuppen und Verpuppung erzählt? Bei uns dauert es ungefähr sieben Tage, bei euch Menschen sieben Jahre."
Bea sah die magische Sieben vor sich und sie setzte die anderen Zahlen zusammen - es dauerte einige Zeit. Dann sagte sie: "Oh, das sind aber viele Sekunden. Es sind … ähm … genau zweihundertzwanzig Millionen und siebenhundertzweiundfünfzig Tausend Sekunden."
"Du bist ein schlaues Mädchen, weißt aber nichts von deiner Verpuppung?"
"Ähm … äh … nein", stotterte Bea und sah zu Boden.
"Du verlässt nun deine Puppe und musst deine alte Hülle abstreifen. Du wirst zum Schmetterling, zu einem kleinen feinen Papillon. Wunderschön. Frei. Bunt. Natürlich nicht so schön wie ich, aber schöner als du jetzt gerade."
"Ah, ok", sagte Bea und sah die Raupe an. "Und was dann?"
"Du wirst das Glück wiederfinden. Deine Mutter ist an jenem Tag, vor sieben Jahren, zum Gipfel gegangen. Der Berg ist der Schlüssel zu deinem Glück. Das Ding dort oben muss verschwinden und du, kleines Mädchen, musst dich auf eine Reise begeben und die sieben Glückstiere finden. Du nimmst sie mit nach Hause und das Glück wird an diesen Ort zurückkehren."
Beas Herz brannte, ihre Luft entwich und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Konnte das wirklich geschehen? Tiefe Sehnsucht überschwemmte sie. Bea zögerte nicht, trotz der Angst, die an ihr nagte wie eine Maus am Speck. "Wie finde ich diese Tiere?"
"Die Tiere kommen zu dir. Du musst nur deine Augen und Ohren offenhalten."
"Wie kann ich die Tiere erkennen?" Bea zweifelte, sie war doch nur ein kleines Mädchen.
"Hör auf dein Herz. Hör auf die innere Stimme, die mit dir spricht."
Bea wusste damit nichts anzufangen und seufzte. Sie hatte keine innere Stimme mehr, kein Gefühl und wahrscheinlich nicht einmal mehr ein Herz. Auf was sollte sie nur hören?
"Ich schenke dir diesen Ring. Er ist der Ring der Weisheit. Er wird dir helfen. Doch gib acht. Wenn du zu sehr zweifelst, verschwindet er. Die Weisheit verträgt keinen Zweifel."
"Ich gib mein Bestes. Auch wenn ich gerade großen Zweifel habe."
"Morgen wirst du ein neuer Mensch sein. Du wirst den Zweifel ablegen. Nun schreibe deiner Großmutter einen Brief. Beim nächsten Vollmond kehrst du zurück."
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