EINS - Der Berg
Sie stand hinter dem Apfelbaum und beobachtete ihn von ihrem Versteck aus. Wie er durch den Garten schlich, als wäre er ein Tiger auf der Jagd. Der Duft der Blüten und das Summen einer Biene drangen zu ihr. Das feuchte Gras kitzelte ihre Waden. Der Frühling hatte seine Geschenke ausgebreitet und jeder durfte sich ein Päckchen nehmen. Eins schöner als das andere.
Gefühle, die aufplatzen wie eine Knospe, endlich frei. Die Farben der Blüten quollen über und rissen die Sinne mit fort in die Welt der Düfte und Farben, in das neue Leben. Er stand drüben und suchte hinter dem Rhododendren Busch. Seine dunklen Locken verschwanden hinter weißen Blüten. Bea kicherte mit vorgehaltener Hand. Was für ein Dummkopf und blind obendrein.
Die Rinde unter ihren Händen war so rau wie ihr Herz, wenn sie Fabian ansah. Nur klopfte die Rinde nicht so stark. Bea lehnte ihren Kopf an den Stamm und zählte leise die Sekunden. Sie war die Letzte, die Fabian noch nicht gefunden hatte und sie ließ ihn zappeln. Es war einfach ein Fest, ihn ohne Mühe beobachten zu können. Ohne Angst, jeder könne sehen, wie gern sie ihn betrachtete.
Sie hörte das Geschnatter der Mädchen, die irgendwo im Garten warteten. Wahrscheinlich machten sie sich gerade über die Kekse und die Limonade her, die ihnen Beas Großmutter herausgebracht hatte. Bei dem Gedanken an das begehrte Honig-Mandel-Gebäck passte Bea für einen Moment nicht auf und vergaß, still zu stehen. Hatte sie gerade ihre Hand hinter dem Baum vorschauen lassen? Oder vielleicht das Knie? Sofort machte sie sich wieder regungslos wie eine Katze kurz vorm Sprung auf ihre Beute.
"Hab dich!"
Bea entfuhr ein Quietschen. Jemand packte sie bei den Schultern und wirbelte sie herum. Es war, als hätte er sie beim Äpfel klauen ertappt, so sehr stand ihr der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Ihr Gedanke an die Süßigkeit ihrer Großmutter, und ihre Freundinnen, die alles alleine verputzten, hatten Bea mit Haut und Haaren aufgesogen. Sie war einfach zu verfressen - Leckereien raubten ihr den Verstand, als stünde sie unter Hypnose, fast wie ein Bienchen, wenn es Nektar roch.
"Hey!" Bea versuchte, sich ihm zu entwinden, aber Fabian kitzelte sie, ließ sie einen Moment los, um dann wieder ihren Arm zu greifen und sie heranzuziehen. Bea protestierte und kreischte, doch sie genoss seine Nähe. Sie liebte seinen Duft, der eine Mischung aus Sägespäne, Harz und Tannennadeln war. Seine Familie betrieb das Sägewerk.
"Komm, sonst essen die alle Kekse auf!", sagte er, hielt inne und zog seine Hände weg. Die beiden standen sich gegenüber. Bea sah in sein Gesicht, das aussah wie das des Piraten aus ihrem Lieblingsbuch. Fehlte nur noch der Papagei auf der Schulter und die Augenklappe. Die Narbe über der Lippe hatte er bereits. Wahrscheinlich von einem seiner Kämpfe auf hoher See, von denen er zu oft träumte. Doch auch sie träumte gern - von ihrer Rolle als Piraten-Prinzessin mit wilder Lockenmähne und einem silbernen Dolch in der Hand.
Bea hatte scheinbar wieder ihr typisches Eulengesicht gemacht, denn Fabians Mundwinkel zuckten und er prustete los. "Was fürn Geist siehst du denn?" Er hielt sich die Hand vor den Mund und Bea drehte sich von ihm weg. Wie konnte er es nur wagen, sie auszulachen? Er sollte sie anhimmeln und ihre Schönheit bewundern, sie war doch seine Prinzessin, anstatt sich über sie zu amüsieren.
"Jetzt komm schon!", forderte Fabian und drängelte sich an ihr vorbei, gab ihr im Vorbeigehen noch einen Klaps auf die Schulter und steuerte auf das Stimmengewirr in Richtung Terrasse zu. Niemals würde Bea ihm sagen, was er in ihr auslöste. Niemals. Die Blöße wollte sie sich niemals geben. Lieber würde sie hier und jetzt diese Baumrinde essen. Der Hohlkopf sollte von selbst drauf kommen! Warum nur sind Jungs immer so furchtbar blind? Ihr Herz glühte und er ... er lachte sie aus.
"Bea! Bea!", ertönte die Stimme ihrer Mutter. Bea stand noch immer am Apfelbaum, als hätte sie selbst Wurzeln geschlagen und sich mit dem Baum vernetzt.
"Bea, schnell, komm zu mir! Es ist wichtig!" Sie klang, als würde das Haus brennen. Ihre Stimme stolperte und sie rang nach Luft.
Beas Mutter hastete auf sie zu. Ein Korb hing an ihrem Arm und an ihren Füßen trug sie ihre Wanderschuhe. Seltsam. Ihr Blick erinnerte Bea an letzte Woche, als der alte Baldur die gesamte Dorfgemeinschaft gewarnt hatte, dass ein schwerer Sturm aufziehen würde. Er war panisch von Haus zu Haus gelaufen und hatte geschrien: "Sperrt euch ein, macht Tür und Tor zu, der Todessturm ist im Anmarsch, ich habe es gesehen, ganz deutlich habe ich es gesehen!"
Bea entriss sich ihren Wurzeln und eilte zu ihrer Mutter. "Was ist los, Mama?"
"Deine Großmutter wurde von einer Misga-Schlange gebissen, ich muss umgehend Alpenveilchen besorgen. Das hilft. Bis ein Arzt hier hochkommt, könnte es zu spät sein." Beas Mutter redete wie ein Platzregen. Sie Sache musste wirklich ernst sein.
"Kommst du mit mir?", fragte sie Bea.
Fabian. Er wartete bei den Mädchen. Und sie würden ohne sie Spaß haben. Bea dachte an ihre Großmutter und ihre Mutter und an ihre Freunde. Sie schwankte hin und her wie ein Pendel, das nie stillstand.
"Ist in Ordnung, Kind! Schau nach deinen Freunden. Ich schaff es allein. Ist vielleicht auch besser, dann bin ich schneller!"
Bea nickte. "Sieh bitte kurz nach Großmutter. Sie ist oben im Bett. Sag, ich bin gleich bei ihr. Vielleicht gibst du ihr ein Glas Wasser und einen kalten Lappen gegen das Fieber."
"Ist gut, mach ich. Beeil dich, Mama."
Die Sorge um ihre Großmutter wuchs immer mehr und kurze Zeit später schickte Bea ihre Freunde nach Hause. Jetzt war es wichtig, sich um Großmutter zu kümmern. Bea hastete die Holztreppe nach oben. Die Holzdielen knarzten unter ihren nackten Füßen. Ebenso die Türe, die Bea vorsichtig öffnete. Unter einer Wolldecke mit bunten Streifen und Fransen an den Enden lag die Großmutter in ihrem Bett.
Sie schlief. Ihr Gesicht glänzte von Schweiß und ab und zu zuckte ihr Körper. Das Sonnenlicht fiel zum Fenster herein und offenbarte die Staubkörner, die wie Feenstaub im Lichtstreifen flimmerten. Bea kroch die Sorge wie ein Käfer den Hals hinauf und erschwerte ihr das Atmen. Es kratzte und drückte. Sie griff mit der Hand an den Hals und wusste nicht, was sie tun sollte.
Bea blickte aus dem Fenster in Richtung des Berges. Hoffentlich käme ihre Mutter ganz schnell zurück. Doch die Stille der Berge war das Einzige, was zurückkam.
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