DREI - Der Nebel
Der Boden unter ihren Füßen brodelte wie ein Vulkan - ein schlafender Riese. Was war es, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte? Wer hatte ihn geweckt und somit seine Wut freigesetzt? Sein tiefes Grollen - ein Brüllen - ließ die Wände erzittern. Bea kauerte sich auf den Sessel, der am Fenster stand. Die weichen Kissen zogen sie an sich, umarmten sie wie ein tröstender Freund.
Dieser Tag, an dem das Licht verschwunden und der Riese erwacht war, wurde Alltag. Jeden Morgen wartete Bea auf den Sonnenaufgang, wartete, dass die Nebeldecke aufbrach, die über dem Ort lag. Jeden Abend blickte sie zu den Sternen und zählte sie. Das Licht der Sonne war nach einigen Wochen der Finsternis nur noch eine entfernte Erinnerung.
Bea blickte niemals in die andere Richtung, dort wo der Berg war. Sie wusste, dass es immer noch dort oben hockte wie eine Spinne in ihrem Netz, die Gift versprühte und die das Leben aussaugte. Das Dorf war nur noch eine Fliege, die tot und ausgetrocknet in einer dunklen Ecke lag. Und die Bewohner: kleine Mücken, gefangen im Spinnennetz.
Beas Freunde verschwanden aus ihrem Leben. Ihre Mutter sagte, das Dorf sei wie leergefegt. Keine Menschenseele weit und breit. Seit dem Tag, als das Ding gelandet war. Das Ding, was hatte es zu bedeuten? Keiner der drei Frauen wollten über das seltsame Objekt sprechen, das aussah, als käme es aus einer anderen Welt.
Nichts war mehr so wie zuvor. Großmutter erholte sich nur sehr langsam von dem Schlangenbiss. In dem Alter regeneriert sich der Körper nicht mehr so gut. Mutter steckte all ihre Energie in die Pflege ihrer Mutter. Bea beobachtete sie von ihrem Platz am Fenster. Wie eine fleißige Ameise krabbelte sie von einem in das andere Eck. Nur niemals ruhen.
Bea war umgeben von Watte. Gedämpfte Stimmen. Ferne Gesichter. Sie konnte den Tag nicht von dem Abend unterscheiden. Den Sommer nicht vom Winter. Die Welt war ein Nebelmeer. Die Zeit ein Wolf im Schafspelz. Die Körner rieseln unaufhaltsam zwischen den Fingern hindurch.
Die Erinnerungen stachen wie Dornen. Bea sah das Licht. Golden schimmerte die untergehende Sonne. Lachende Gesichter. Wärme. Geborgenheit und - Glück. Das war alles so weit weg wie die Sonne selbst. Unendlich und unerreichbar. Nur ein Traum. Eine Reflexion. Ein Fata Morgana.
Fabian. Auch er war nur noch eins von vielen Bildern im Kopf. Ein Traumbild. Weit entfernt. Würde sie ihn jemals wiedersehen? Wo war er, was war mit all den Menschen geschehen? Bea saß auf ihrem Stuhl und blickte aus dem Fenster. Sie konnte die Umrisse des Apfelbaumes sehen, da, wo Fabian sie geschnappt hatte, am letzten Tag, an dem die Sonne schien.
Wo waren sie alle? Kein Mensch kann verpuffen wie Wasserdampf oder Seifenblasen. Großmutter sagte, sie seien von dem Ding aufgesaugt geworden. Wie die Motten vom Licht waren sie angelockt und dann verschlungen worden. Doch sicher wussten sie es nicht. Und warum waren sie noch hier? Warum waren sie die Einzigen weit und breit?
Verwaiste Häuser, verwilderte Gärten. Dornenranken, die sich die Hauswände empor fraßen. Klappernde Fensterläden, streunende Hunde und Katzen, die nach Nahrung suchten, ihr Napf war von einen auf den anderen Tag nicht mehr gefüllt worden. Bald kamen Füchse und Wölfe, sogar Rehe und ein Wildschweine hatten die leeren Häuser gewittert und durchforsteten die Speisekammern.
Die Nutztiere der Bewohner überlebten draußen kaum und Mutter jammerte oft über dieses Elend. Alles verkam immer mehr und sie konnten nichts dagegen tun. Das Essen wurde knapp. Ihre Vorratskammer würde bald leer, das letzte Brot gegessen, die letzte Butter angebrochen sein. Gemüse hatten sie noch genügend im Garten, aber allein davon würden sie nicht über den Winter kommen.
"Ich gehe ins nächste Dorf, unten im Tal. Es ist die einzige Möglichkeit. Ich nehm den alten Leiterwagen mit und pack ihn voll", sagte Beas Mutter eines Tages im Herbst. Es war schon kalt geworden. Der Winter machte sich bereits auf den Weg. Bea konnte es riechen.
"Wie willst du das schaffen? Den vollen Wagen wieder hochzuziehen?", fragte Großmutter. Sie lief wie ein Tiger auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Unablässig stöhnte und jammerte sie. Als steckte ihr das Gift der Schlange noch immer in den Knochen. Es machte sie ruhelos wie ein Ameisenhaufen.
Bea saß am Fenster in ihrem Sessel. Ihre Hand strich über das Rosenmuster auf der Lehne. Vielleicht könnte sie der Blume Leben einhauchen, sie blühen und duften lassen. Sie nahm die beiden Frauen nur aus den Augenwinkeln wahr, denn ihr Blick war Tag und auch Nacht nur auf das Ding gerichtet. Sie wollte nicht verpassen, wenn es wieder fortfliegen würde. Die grünen Lichtblitze zuckten über das Land. Bea kannte die Muster der Strahlen in und auswendig.
"Ich werde einen Arzt auftreiben. Es muss jemand nach Bea sehen, Mutter. So geht es nicht weiter. Sie wird von Tag zu Tag stiller und trauriger. Sie ist krank und braucht Hilfe. So kann er mir auch gleich mit dem Leiterwagen herauf helfen."
"Aber was wirst du erzählen? Die halten uns für verrückt, wenn du das erzählst, was hier los ist!" Großmutter sollte sich nicht so aufregen, dachte Bea. Sie war aber zu weit weg, als dass sie hätte eingreifen können. So blickte sie weiterhin aus dem Fenster. Wie eine Puppe fühlte sie sich. Eine leblose Puppe, die trotzdem alles hörte und alles sah, aber selbst zu keiner Handlung imstande war. Eine Art Koma, Gelähmtheit, gefangen in einer Zwischenwelt.
"Ich sag gar nichts. Er wirds schon selbst sehen, wenn er hier ist." Mutter verfolgte ihr Ziel, ohne sich verunsichern zu lassen und kurze Zeit später trat Stille ein. Ein Tee wurde zu Bea aufs Fensterbrett geschoben. Irgendein Gemurmel drang zu ihr. Der Dampf von heißem Wasser stieg ihr ins Gesicht. Bea wusste, dass es Tee war, aber sie besaß keinen Geruchssinn mehr, geschweige denn schmeckte sie die Sorte. Für sie war es heißes Wasser - mehr nicht. Der Dampf schlug gegen das Fenster und die Welt da draußen wurde noch grauer.
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