ACHT - Die Grille
"Fabelhaft! Gutes, gutes, Kind! Bin stolz auf dich, tapferes Mädchen!" Das Kaninchen hoppelte vor Bea den Feldweg entlang. Es erinnerte sie an einen Schneeball und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Wie eifrig und aufgeregt das Häschen doch war, so ein putziges Ding.
Noch immer wusste Bea nicht, ob dies ein Traum war. Natürlich war er es! Es gab keine sprechenden Tiere, keine Vögel, die sie bedrohte und keine Glückstiere, die Glück zurückhalten. Das war Unsinn. Genauso wie das seltsame Ding auf dem Berg, das Bea krank gemacht und alle Menschen verschluckt hatte.
Doch wenn auch das Ding auf dem Berg ein Traum war, träumte Bea dann seit sieben Jahren? Vor dem Tag, als ihre Mutter die Medizin auf dem Berg geholt hatte, gab es all diese verrückten Dinge nicht. Da war ihr Leben normal, gewöhnlich. Da hatte sie nicht das Gefühl gehabt, in einem Traum oder Alptraum zu stecken.
Das war die logische Erklärung. Wie die Erklärung, warum es regnete oder schneite, warum es Bäume, Wiesen und Felder gab. Es war wie eine Rechenaufgabe. Wie Beas geliebte Zahlen. Eine Eins ist eine Eins und eine Zwei ist eine Zwei. Und eins plus zwei ist drei. Das ist einfach ein Naturgesetz.
Seit sieben Jahren gab es das nicht mehr. Keine Logik, keine Gesetze, keine Natürlichkeit. Aber kein Mensch dieser Erde konnte sieben Jahre lang träumen. Oder? War sie überhaupt ein Mensch? Nun wurde ihr Kopf zum Karussell und ihren Gedanken übel. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
"Hey, Träumerin! Ich hab dich was gefragt?"
"Ähh … entschuldige bitte, was hast du gesagt?"
"Wegen der Krähe! Wie hast du es geschafft? War es sehr schlimm? Armes Ding, bist ja ganz durch den Wind!"
"Ich hätte fast den Verstand verloren, so verzweifelt war ich", antwortete Bea. Nun kam die Erinnerung zurück wie die Flut.
Sie zitterte innerlich bei dem Gedanke an das Vogeltier. Hatte das Krächzen noch in den Ohren und dachte an ihre Mutter. Leiser Zweifel nagte an ihr und ihre Schultern hingen so tief, dass ihre Hände fast die Steine am Boden berührten. Das rosafarbene Dämmerlicht legte sich wie ein Film auf Beas Silhouette. Sie glänzte. Aber nur äußerlich.
"Papperlapapp, dummes Mädchen. Wann legst du nur endlich deine Ängste ab. So wird das nichts", schimpfte das Kaninchen und hoppelte schneller. Es klopfte mit seinen Läufen bei jedem Hopser und Bea musste rennen, um ihm auf den Fersen zu bleiben.
"Deshalb musst du mich doch nicht so hetzen, was hast du vor?", rief Bea.
"Da vorne ist ein Unterschlupf. Ich kenn mich hier aus. Jetzt wird geschlafen."
"Das ist eine gute Idee", sagte Bea und die Aussicht auf ein kuscheliges Bettchen trieb den Rest an Energie durch ihren Körper.
Das Kaninchen hatte nicht zu viel versprochen. Bea entspannte sich augenblicklich zwischen Moos, Steinen und Wurzeln. Sie hatten ein Nachtlager am Waldrand gefunden und es duftete nach feuchter Erde, Kiefernholz und Tannennadeln.
Die Waldluft reinigte ihre Lungen - und auch den ruhelosen Verstand. Ihr Herz fühlte sich an wie Honig und das Pochen eines Spechtes begleitete sie hinüber in einen traumlosen Schlaf. Das Kaninchen schmiegte sich in ihre Arme und Bea brauchte keine Zahlen, um sich zu beruhigen.
"Sieh dir nur dieses Paradies an, Kindchen!", schwärmte das Kaninchen und seine Augen glänzten wie Murmeln. Es schnupperte in die Abendluft und seufzte tief.
Die Wärme war wie Medizin an Beas Brust. Wann hatte sie zuletzt solch ein Gefühl verspürt? Sie wusste es nicht einmal zu benennen. Ein wenig wie warme Schokolade, die den Hals hinunter in den Bauch rinnt und die Mundwinkel zucken lässt. Oder wie Großmutters Pfannkuchen mit Heidelbeeren.
Bea ließ ihren Blick über das Land gleiten. Genauso das Abendrot, das die Erde küsste und all seine Farben hinaus spuckte, sodass die Wiesen, Felder und Berge wie ein riesiges Gemälde erschien. Nicht echt. Ein Traum? Bea war es gleichgültig. Ob Traum oder nicht, sie genoss jede Sekunde, als wäre es ihre letzte. Sie glitt nun ganz sicher in einen Traum, denn die frische Waldluft machte unglaublich müde ...
Ein ohrenbetäubendes Zirpen riss Bea aus dem Schlaf. "Was ist hier los?", schrie sie und fuhr ruckartig hoch. Stocksteif saß sie im Moos. Ihr Haar voller Nadeln, Blätter und Moosfäden. Sie blickte, als schliefe sie noch immer - nur mit geöffneten Augen. Und Waldboden im Gesicht.
"Alles ok, was ist passiert, Kindchen? Hat dich was gestochen?", fragte das Kaninchen. Es wackelte mit den Ohren und rümpfte das Näschen. Seine Murmel-Augen waren geweitet und drohten, herauszukullern.
"Ähh … hier zirpt irgendwas", stammelte Bea.
"Ja, das nennt man Grille."
"Ähh … ok, ja, ich …" Bea erhob sich und klopfte ihr Kleid ab. Dann fuhr sie sich durch die Haare und durchs Gesicht. "Ich hab den halben Wald im Gesicht", murmelte sie.
"Sieh nur, da hinten auf dem Stein. DIE Grille. Das ist DIE Grille, dein zweites Glückstier."
Bea stockte und ihre Augen suchten die Bäume ab. Das Morgenlicht strahlte hindurch und schickte glitzernde Lichtpunkte über den Waldboden. Die Blätterkronen und die Sonnenstrahlen zauberten ein Kaleidoskop auf Steine und Wurzeln. Es war angenehm warm und Bea blinzelte, um die Grille entdecken zu können.
Und da war sie. Eine grasgrüne Grille hockte etwa drei Meter von ihr entfernt auf einem flachen Stein. In etwa so groß wie ein Spatz. Bea traute ihren Augen kaum. Sie trat vorsichtig näher. Das Tier spielte auf einer Geige. Die Melodie war "Schmetterling du kleines Ding, such dir eine Tänzerin …"
"Ei wie fein, ei wie fein, ei wie fein ist Ringelreihen", sang Bea. Sie wollte nur mal so nebenbei testen, ob sie wirklich noch immer singen konnte.
Sie blieb wenige Zentimeter vor der Grille stehen und betrachtete sie. Die feinen Härchen an den Flügeln, durch die das Licht neongrün hindurch schimmerte. Lange Fühler die im Takt der Melodie hin und her wiegten. Die weit hochstehenden Sprungbeine und der lange Stachel dazwischen. Ihre Augen hielt die Grille geschlossen, die Ärmchen an der Geige.
Bea musste wohl doch träumen, so etwas gab es nicht in der Realität. Niemals. Es war einfach unmöglich! Aber alles war dich so klar und sie war doch gerade erst aus einem Traum erwacht. Man kann doch nicht im Traum träumen, oder? Das war absurd und völlig lächerlich. Also doch die nackte Realität?
Sie stand vor der Grille wie in Trance, wartete, bis etwas geschah. Und das tat es auch. Die Grille unterbrach ihr Spiel und öffnete ihre Augen. Sie blickte Bea direkt in die Pupillen. Beas Herz blieb stehen. Es war, als würde sie dieser Blick aufsaugen. In Millionen unterschiedlicher Farben schimmerten die Facetten der Augen. Es sah außerirdisch aus, wie ein Roboter.
Bea blieb reglos, Furcht kroch in ihr hoch. Sie hatte eine so große Grille noch nie so nah und so detailliert gesehen.
"Ich bin wunderschön, nicht wahr?", zirpte das Tier.
Bea blieb stumm und nickte nur zögerlich.
"So schön, dass meine Brillanz dir die Stimme verschlägt?"
"Ähh … ja, wirklich … magisch", stotterte Bea.
"Ich bin es ja gewöhnt. Alle sind von meiner Erscheinung verunsichert", zirpte die Grille und putzte sich die Flügel.
Bea nickte noch einmal und faltete die Hände, trat von einem auf den anderen Fuß.
"Na, mach ich dich nervös, Kindchen?" Die Grille kicherte. "Unsicherheit ist der erste Schritt zur Veränderung. Denn wer sich immer sicher ist, der kann nichts lernen."
Bea nickte, obwohl sie nicht ganz folgen konnte.
"So, und jetzt tanze für mich. Ich will unterhalten werden, schönes Püppchen!"
"Ähh … was?", stotterte Bea.
"Du musst tanzen, wenn ich mit dir gehen soll! Das ist meine Forderung. Sonst bleib ich hier und warte auf ein anderes Kind, das meine Musik zu würdigen weiß."
"Nein. Ich mach das schon, ich weiß nur nicht, wie das geht!", stotterte Bea.
"Papperlapapp, jeder kann tanzen. Du kannst doch auch laufen. Außerdem, bei meiner Musik muss jeder tanzen, sogar so ein tollpatschiges Ding wie du!"
Dann schloss die Grille wieder ihre Augen und stimmte dasselbe Liedchen an. Und Bea tanzte. Je mehr sie wagte, desto sicherer wurde sie. Sie tanzte, als hätte sie nie etwas anderes getan.
Sie breitete ihre Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und schloss ihre Augen. Das warme Licht fiel auf ihr Gesicht. Es kitzelte und Bea lächelte. Sie drehte sich immer schneller im Kreis und das Kleid schwebte wie ein blauer Reifen um sie herum. In ihrem Bauch war ein Feuerball, der unbedingt hinaus musste - so ein Gefühl hatte Bea.
Das Kaninchen hüpfte um die Grille und Bea herum und alle drei sangen lauthals mit. Die Lärchen und Finken trällerten von den Ästen herab und dann tanzte und musizierte der ganze Wald. Der Boden vibrierte und die Luft knisterte. Gleich würde irgendwo ein Feuer entfacht, von dieser geballten Energie.
Keuchend ließ sich Bea eine Weile später ins Laub fallen, als die Grille ihr Liedchen beendete. Sie lachte und schnaufte und ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust. Sie fühlte eine neu gewonnene Freiheit. Als sie sich aufsetzte, bemerkte sie eine Veränderung. Kurz hielt sie inne. Eine ihrer Strähnen - sie war grün. Grasgrün. Bea nahm sie zwischen die Finger und bewunderte sie.
Dann schnappte sie sich das Kaninchen und auch die Grille hüpfte zu den beiden. Bea zwinkerte ihr zu und dann setzten sie den Weg fort.
Sie tat, wie die Raupe es gesagt hatte. Sie folgte weiter ihrem Herzen.
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