Fünfunddreißig
Er sah mich an, als sähe er mich das erste Mal.
Ich blinzelte, weil all die Tipps meiner Familie und Freunden mir durch den Kopf jagten.
›Gib ihm Zeit.‹
›Halt ihn fest.‹
›Zeig Verständnis.‹
›Pass auf ihn auf.‹
›Dräng ihn zu nichts.‹
›Du musst jetzt stark sein‹
›Du musst kämpfen, Skyler.
Das müsst ihr beide.‹
Fuck.
Vielleicht sollte ich zur Abwechslung einfach mal das tun, was ich für richtig hielt. Und was Kane für richtig empfand.
Deswegen fragte ich: »Was machen wir jetzt?«
Meine Schultern strafften sich ein Stück, als ich erleichtert einatmete, weil Kane tatsächlich so etwas wie ein Lächeln zustande brachte. Diesmal ein Echtes - auch wenn es winzig war.
»Wir?«, fragte Kane und sah mich aufmerksam an.
Ich nickte, umgriff seine Hand fester und gab zurück: »Wenn du das möchtest, dann heißt es ab jetzt...wir«
Kanes Lächeln verblasste eine Weile, als ob er darüber nachdachte. Ich glaubte wirklich, er würde meinen Vorschlag abweisen – mich abweisen – aber als Kanes Lächeln stärker wurde und Kane sich erhob, wusste ich, dass es ab sofort kein ich und er mehr gab, sondern ein wir.
Kane stand so langsam und ziemlich unsicher auf, aber als er stand, erkannte ich die Schwäche in seiner Muskulatur. Ich sah das Zittern, welches ihn erfasste wie ein kräftiger Stoß und ich sah auch das kleine Zucken an seiner Wange, weil er die Zähne zu fest aufeinanderbiss.
Zügig folgte ich seinem Beispiel und unterdrückte ein Seufzen, als Kane seine Hand zurückzog.
Doch er zog sie nur zurück, um die Arme Sekunden später um mich zu schlingen.
Ich blinzelte erst überrascht, dann erwiderte ich seine Umarmung heftig, grub meine Finger in den warmen Stoff seines schwarzen Shirts und schloss die Augen.
Natürlich genoss ich den Moment, indem wir einander einfach festhielten und Kanes Atem sich immer mehr an meinem glühenden Ohr beruhigte.
Das war seit zwei Monaten - 8 Wochen und fünf Tagen - das erste Mal, dass ich Kane wieder so berühren konnte.
Und ich wollte es sicherlich nicht unterbrechen, aber ich war verschwitzt wegen der ganzen Aufbauarbeiten in der Sporthalle und roch wirklich übel, weswegen ich an Kanes Ohr murmelte: »Stört es dich, wenn ich kurz hier duschen gehe?«
Wahrscheinlich störte es ihn, aber meine Gefühle waren so überwältigend, so intensiv, dass ich in gewissermaßen nicht sensibel genug in diesem Augenblick war und die Frage tatsächlich laut ausgesprochen hatte.
Zu meinem Erstaunen sagte Kane jedoch in einem völlig ruhigen und klaren Ton: »Mach ruhig«
Also lehnte ich mich zurück und spürte seinen Bart an meiner Wange kitzeln, bis ich Kane wieder ins Gesicht sehen konnte und erneut feststellte, wie anders er aussah.
Seine Locken waren länger und der untere Bereich seines Gesichtes wurde verdeckt von diesem längeren dunkelbraunen Bart.
»Soll ich dir beim Rasieren helfen?«, entschlüpfte mir die nächste Frage und in seinen Augen blitzte etwas auf, das mich irritierte, bevor ich es erkannte.
Es war Scham, die da in seinen Augen aufleuchtete.
»Ich wollte es probieren. Ich weiß nicht mehr genau wann, aber...meine...«
Kane pausierte, als ob er sich schämte. Wirklich heftig schämte.
Er senkte sogar den Blick, seine Wangen färbten sich rot und alles, was ich dachte, war: Schäm dich nicht. Du machst das gut. Ich an deiner Stelle hätte nicht einmal versucht, mich zu rasieren.
Also hob ich Kanes Kinn achtsam mit meinem Zeigefinger an und sah ihn voller Wärme und Verständnis an.
Er erwiderte meinen Blick, weswegen ich meine Hand löste, nachdem ich mir sicher war, dass Kane nicht mehr wegblickte.
Selbst wenn er nicht weitergesprochen hätte, wäre es in Ordnung gewesen.
Ich wollte ihm nur zeigen, dass er bei mir Schwäche zeigen durfte. Ich verurteilte ihn nicht.
»Meine Hand hat so gezittert... Ich hab's selber einfach nicht geschafft, Heaven«, gestand er und plättete mich mit dieser knallharten, aber sehr mutigen Ehrlichkeit.
Ich war so stolz auf ihn und zeitgleich so fasziniert davon, wie sehr er sich in meiner Gegenwart verändert hatte.
»Ist okay, Kane. Probier's einfach nochmal«, ermutigte ich ihn und machte keine Anstalten, mich zu bewegen. Er genauso wenig, weswegen die Sekunden an uns vorüberzogen und wir einander schweigend weiter betrachteten.
Keine Ahnung wie lange, aber es war auch egal. Zeit spielte keine Rolle, wenn er bei mir war. Irgendwann beschloss Kane dennoch leise zu fragen: »Kannst du das machen?«
»Dich rasieren?«
Er nickte und meine Augenbrauen schossen erst überrascht ihn die Höhe. Aber Kane blieb ganz ernst, weswegen ich mit den Schultern zuckte und möglichst entspannt und trotzdem mit einem nervösen Lächeln sagte: »Okay«
Dass mein Herz in diesem Moment einen Marathon rannte, musste ich nicht aussprechen. Kane hörte es laut klopfen, ich hörte es laut klopfen.
Aber während Kane deswegen tatsächlich spöttisch schmunzelte, fingen meine Wangen an zu brennen und es fühlte sich fast so an, als läge seine Welt nicht in Scherben, wenn er bei mir war.
Es fühlte sich eher so an, als würden unsere geschundenen Herzen einander helfen zu heilen.
»Ich hab' das noch nie gemacht«, murmelte ich, während ich mit Kane zur Tür ging. Er öffnete sie und hielt im Türrahmen inne, als er mich mit gerunzelter Stirn ansah.
»Du hast dich noch nie rasiert?«
Meine Wangen wurden noch heißer.
»Doch, schon. Aber keinen anderen Kerl«, erwiderte ich und folgte ihm den Flur entlang. Auch wenn ich fast täglich die letzten Wochen in diesem Haus war, war ich in keinem anderen Zimmer als in dem Raum, in dem Kane sich für zwei Monate verschanzt hatte.
Dementsprechend irritiert war ich, als er einen Schlüssel aus der Hosentasche zog (warum auch immer) und die Badezimmertür aufsperrte. Erst als Kane zurücktrat und ich einen Blick ins Bad werfen konnte, verstand ich, warum er den Schlüssel bei sich trug und der Raum abgesperrt war.
Der Boden war an der Stelle beim Waschbecken übersät mit Spiegelscherben.
»Du wolltest nicht, dass das jemand sieht«, schlussfolgerte ich leise und sah Kane an, der das Gesicht verzog und beschämt die Arme vor der Brust verschränkte, bevor er das Chaos auf den Fliesen anstarrte.
»Ich wollte nicht, dass Lea oder Dad sich noch mehr Sorgen machen...oder Noah...«
Du wolltest nicht, dass sie dich für schwach halten.
Aber Kane, sieh dich an.
Du stehst hier.
Du lebst.
Du bist nicht schwach.
Du bist stark.
Ich war für einen kurzen Augenblick versucht, Kane zu berühren, aber ich entschied mich dafür, nach dem Besen zu greifen, der am Waschbecken stand.
Wahrscheinlich hatte Kane selbst versucht, die Scherben wegzumachen.
»Das hab' ich auch nicht geschafft«, ertönte es hinter mir, während ich die Scherben auf einen Haufen fegte und mich erst zu Kane umdrehte, als ich fertig war und der Besen wieder an seinem ursprünglichen Platz stand.
»Ist okay, Kane«, wiederholte ich meine Worte von vorhin und meinte sie exakt genauso.
Doch Kane schien nicht so überzeugt zu sein, denn er hatte die Arme noch immer vor der Brust verschränkt und starrte den Scherbenhaufen frustriert an.
»Ist es nicht. Es zeigt doch nur, wie schwach ich bin«, knurrte er und erst nachdem er das gesagt hatte, verstand ich, dass das keine Scham war, sondern brennende Wut. Wut die er sich selbst widmete.
»Kane...«
Er reagierte nicht, starrte die Scherben neben meinen Füßen weiterhin hasserfüllt an. Er hörte nicht einmal auf, sie anzusehen, als ich zu ihm trat und über seinen linken Wangenknochen und den Bart mit dem Daumen strich.
Es war, als wäre er nicht hier.
Als wäre er in irgendeiner Erinnerung gefangen, aus der er nicht ausbrechen konnte...nicht ausbrechen wollte.
Ich schluckte und sagte dann laut: »Kane Nicholas Sinclair«
Es dauerte keine Sekunde und da hatten sich seine Augen auf mich gerichtet und der tief verwurzelte Schmerz in ihnen glomm auf.
Wieder schluckte ich, fuhr erneut von seinem Wangenknochen mit dem Daumen hinab und sagte: »Schwäche zu zeigen ist ein Akt der Stärke, verstehst du das? Nur die...«, setzte ich an, doch ich traute mich nicht, meinen Satz vollende zuführen. Nicht, weil ich Angst hatte, dass Kane dachte, ich log. Ich hatte Angst diesen Satz vollende zuführen, weil ich nicht wollte, dass Kane noch mehr Schmerz empfand.
»Sprich es aus, Skyler. Du bist der Mutige von uns beiden«, drängte er mich und klang dabei völlig emotionslos, was mich erstarren ließ.
Ich holte durch die Nase leise Luft.
»Nur die Kämpfer können beides: Schwäche zeigen und trotzdem weiterkämpfen«, flüsterte ich und dachte an Luna, die in Kane schon immer ihren persönlichen Kämpfer gesehen hatte. Nur er selbst sah es nicht.
Nachdem ich das gesagt hatte, hörte ich ihn leise ausatmen, dann schüttelte er den Kopf, als wollte er schlechte Gedanken vertreiben. Als Kane mir wieder in die Augen blickte, erkannte ich den Schmerz noch immer, aber er wurde von etwas Stärkerem überschattet – Dankbarkeit.
»Ich weiß nicht, ob ich dir das schon mal gesagt habe...aber ich bin wirklich froh, dass du so besessen von mir warst«, meinte er trocken und ließ seine Arme endlich sinken.
Warst?
Ich grinste und Kane verstand schnell, weswegen, doch er kommentierte es nur mit einem kurzen Augenrollen, weswegen ich seine Hand nahm und ihn zum Waschbecken führte.
Dort lag ein silber-orangener Rasierer und daneben ein Päckchen mit vier neuen Ersatzklingen. Ich löste meine Hand von Kanes, ersetzte die alte Klinge durch eine Neue und nahm mir den Rasierschaum, der dort ebenfalls stand, bevor ich mich zu Kane drehte und nicht ganz wusste, womit ich starten sollte.
Also...ich wusste es schon. Theoretisch und praktisch.
Trotzdem stand ich mit der Dose Rasierschaum in der Hand da und starrte Kane an, als wäre er ein Geist.
Kane verengte die Augen, legte den Kopf fragend zur Seite und beobachtete mich dabei, wie ich ihn überfordert anstarrte.
»Sicher, dass du dich schon einmal selbst rasiert hast?«
Ich nickte peinlich berührt, weil es stimmte.
Kane nickte ebenfalls.
Wartete.
Bemerkte, dass ich noch immer nichts machte und runzelte dann die Stirn.
»Sollen wir's zusammen machen?«, fragte er und es tauchte ein so vertrauter spöttischer Ausdruck in seinem Gesicht auf, dass mein Herz kurzzeitig aufhörte zu schlagen und ich mich fragte, ob unsere Zukunft so werden könnte.
Eine Zukunft, in der Kane mich ansah, ohne Schmerz in den Augen. Eine Zukunft, in der wir einander halfen und es wirklich nur uns gab.
Wieder nickte ich und Kane verschwand, kam mit einem kleinen schwarzen Sitzhocker wieder, positionierte diesen vor meinen Beinen und setzte sich selbst darauf. Ich sah, wie erleichtert er Luft ausstieß, als er endlich saß.
Dann meinte er: »Ich sage dir, was du zutun hast und du führst es aus«
Kane saß wirklich vor mir.
Er sprach und er erklärte sich bereit dazu, sich von mir rasieren zulassen.
Fuck, ich war kein Sensibelchen – oder vielleicht auch doch – aber das hier machte mich wirklich verdammt glücklich.
Also nickte ich erneut ohne Worte.
»Schütteln, Kappe ab und Schaum in die Hand sprühen«, war Kanes erste Anweisung, der ich wie ein blutiger Anfänger folgte, weil meine Gefühle mich maßlos überforderten.
Nachdem meine rechte Hand voller weißem Rasierschaum war, stellte ich die Dose auf die Ablage des Waschbeckens und verteilte den weichen Schaum in meinen Händen.
Dann sah ich Kane an, der meine Hände betrachtete und eine Augenbraue leicht anhob.
Er griff nach meinen Handgelenken und zog sie in Richtung seines Gesichtes. Dabei sah er mir so intensiv in die Augen, dass mir ganz schwindlig wurde. Bei meiner Magenregion prickelte es und meine Lippen prickelten auch - leider blieb es nicht nur bei diesen beiden Stellen.
Deswegen riss ich meinen Blick von seinen Augen los und konzentrierte mich auf das Wesentliche: seinen Bart.
Ich verteilte den Schaum an Kanes Wangen, seine Barthaare kitzelten meine Hände, aber davon ließ ich mich nicht beirren und schäumte alles gründlich ein.
Als ich mich zufrieden zurücklehnte und mein Werk betrachtete, musste ich grinsen.
»Ich will dir irgendwann mal dabei zusehen, wie du dich rasierst, Heaven«, sagte Kane, dessen Lippen ebenfalls voller Rasierschaum waren.
Vielleicht sollte ich nicht zu stolz auf meine Arbeit sein.
»Warum?«, fragte ich zögernd, während ich meine Hände wusch und die Klinge des Rasierers unter dem Wasserstrahl befeuchtete.
»Grinst du andauernd so, wenn du dich rasierst? Und schmierst du dir das Zeug auch in den Mund und die Ohren?«, fragte Kane kritisch.
»Hey, ich hab' dir nichts in die Ohr...shit. Tut mir leid«, seufzte ich zum Ende hin, als ich sah, wovon er sprach.
Es reichte nicht nur ein Ohr - nein, es waren beide Ohren von Kane schneeweiß.
Der hingegen legte schweigend den Kopf leicht in den Nacken, als ich mich bückte und die Klinge an seiner rechten Wange ansetzte.
Hoffentlich war das ein guter Rasierer, denn wir hatten einiges an Arbeit. Und hoffentlich hatte ich gute Nerven, denn ich war Kane so nah, wie schon lange nicht mehr.
Kane blieb während ich ihn rasierte ganz still und nach der Hälfte (und einer neuen Klinge) wusste ich auch, wohin er währenddessen die ganze Zeit sah.
Ich wünschte, ich wüsste es nicht, denn es lenkte mich ab.
»Kannst du woanders hinsehen?«, murmelte ich und war gerade dabei, sein Kinn von Haaren zu befreien, als er sich bewegte und ich abrutschte.
»Fuck«, zischte ich, warf den Rasierer ins Waschbecken und griff nach dem trockenen Waschlappen, der bei der Dose Rasierschaum lag und presste ihn auf den kleinen blutenden Schnitt.
Kane hatte nicht einmal gezuckt. Es schien eher so, als würde es ihn nicht interessieren.
»Warum stört es dich plötzlich so, wenn ich dich ansehe? Du hast doch eigentlich kein Problem mit...anstarren«
Er wollte Stalking sagen.
Ich spürte es, weswegen ich den Blick hob und ihn wissend ansah.
Doch Kane korrigierte sich nicht, er wartete einfach still auf eine Antwort, während er mit seinen Fingern am Saum meines Shirts spielte und mich immer mehr in den Wahnsinn trieb.
Es kitzelte und das Prickeln wurde immer heftiger.
Aber was hatte ich erwartet?
Da saß Kane vor mir, breitbeinig, behielt mich andauernd im Blick, berührte mich ununterbrochen und merkte es wahrscheinlich nicht einmal und...er war endlich wieder da.
»Es stört mich nicht, wenn du mich ansiehst«, murmelte ich, während ich die Klinge mit einer Hand säuberte und mit der anderen seine Blutung weiterhin stillte.
»Warum soll ich dann wegsehen, Heaven?«
Ich schwieg verbissen, nahm den Lappen von der Schnittwunde und machte schließlich weiter mit der Rasur, nachdem die Wunde aufgehört hatte zu bluten.
Kane hingegen beobachtete mich stur weiter. Er sah jede noch so kleine Regung in meinem Gesicht. Er bemerkte, wie meine Wangen sich immer weiter rot färbten und er bemerkte ganz bestimmt auch, wie fahrig und ungenau meine Bewegungen wurden.
Irgendwann sagte er dann seufzend: »Du bist so still«
»Ich will dich nicht nochmal verletzen«, antwortete ich und es war vielleicht nicht gelogen, aber so ganz die Wahrheit, weswegen ich nichts sagte, war es auch nicht. Kane wusste es, denn der lehnte sich zurück, obwohl ich nur noch eine kleine Fläche hatte.
Er sah schon viel mehr nach dem Kane Sinclair aus, den ich kannte.
Auch wenn die dunklen Augenringe und der stetige Schatten des Schmerzes in seinem Gesicht daran erinnerte, dass dieser Moment den wir da gerade erlebten sehr kostbar und selten war.
»Warum soll ich wegsehen? Macht es dich nervös?«
Gott, Kane. Das auch, ja.
Aber in erster Linie will ich Dinge mit dir tun, die ich gerade im Augenblick nicht tun sollte. An die ich nicht einmal denken sollte. Das ist unangebracht.
»Heaven...«, drängte Kane mich und schob seine Hand, die aufgehört hatte mit dem Stoff meines T-Shirts zu spielen, an meine nackte Taille, die er ergriff und mich noch näher zu sich zog.
Atemlos löste ich meinen Blick von dem Rasierer in meinen Fingern und sah in seine obsidianfarbenen Augen, die mich noch immer fragend analysierten.
Und dann gab ich nach, weil ich wusste, dass es zwecklos war, die Wahrheit zu verbergen. Ich wollte genauso ehrlich sein, wie er es war. Und gewissermaßen zeigte ich mich genauso verwundbar.
»Ich bin absolut überfordert, okay? Ich darf dich nach Wochen endlich wieder anfassen und das... Nein, du löst so viel in mir aus. Es macht mich scharf, wenn du mich ansiehst. Es macht mich nervös, wenn du mich berührst...Da hast du deine Antwort. Kann ich jetzt bitte fertigmachen?«
Das Blut rauschte in meinen Ohren und hätte Kane was gesagt, ich hätte es höchstwahrscheinlich nicht gehört.
Aber seine Lippen bewegten sich nicht, er drehte mir nur schweigend die Wange hin, die noch nicht fertig rasiert war.
Irgendwie wäre mir lieber gewesen, er hätte was gesagt. Dann wüsste ich nun, wie daneben er meine Aussage tatsächlich fand.
Seine Mutter war verstorben und er bat mich, ihm bei der Rasur zu helfen.
Kane berührte mich - nicht sexuell betrachtet - er hatte mich einfach nur berührt und angesehen und was tat mein Körper?
Er veranstaltete ein Feuerwerk an sämtlichen Stellen.
Und ich? Ich sagte ihm das.
Das war unangebracht.
Diesmal war ich derjenige, der sich schämte und als ich fertig mit Kanes Rasur war, den Waschlappen ausgewaschen und sein Gesicht saubergemacht hatte, sagte er: »Danke«
Ich nickte nur und versuchte die Klinge vom Rasierer zu bekommen, aber es gelang mir nicht, weswegen ich ihn ins Waschbecken fallen ließ und wieder zu Kane sah.
»Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen«
»Warum?«, wollte er wissen.
»Weil es unangebracht war«
Es herrschte für drei lange Sekunden eine kalte Stille, bevor Kane diese mit einer sehr klar ausgedrückten Frage durchschnitt.
»Ist es unangebracht, weil meine Mom tot ist und ich zwei Monate damit verbracht habe, an sie zu denken und dabei wieder einmal mich selbst vergessen habe?«
Ich starrte Kane an und wusste wirklich nicht, was ich dazu sagen sollte.
Ja?
Hatten Gedanken, Gefühle oder Verlangen wie diese die ich hegte gerade Raum?
Oder war es wichtiger meine Bedürfnisse zu verdrängen und sich auf die Trauerbewältigung zu fokussieren?
»Gerade eben hält sich mein Schmerz in Grenzen, Heaven und das tut gut. Verdammt gut. Ich kann durchatmen und bin bei dir. Es ist nicht unangebracht etwas zu wollen«, sagte Kane und hob das Kinn noch ein bisschen an, während sein Blick sich in meinen brannte.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Wieder einmal.
Also stand ich vor ihm, sah Kane an und wünschte mir, ich hätte einen Ratgeber.
Wie lange hielt sich sein Schmerz in Grenzen?
Wann brach er wieder aus?
Ich war dankbar, dass er in meiner Gegenwart gerade atmen konnte ohne Schmerz.
Dass ich so ein positiver Einfluss für sein Wohlbefinden darstellte.
Aber irgendwie überforderte mich dieses Wissen auch.
Wie lange hielt dieser Zustand an?
»Komm her«, sagte Kane nach einer Minute, in der ich absolut nichts getan hatte, außer ihn anzustarren.
Er streckte die Arme nach mir aus, als wollte er, dass ich mich auf seinen Schoss setzte. Ich schaute ihn verwirrt an, bis ich realisierte, dass er tatsächlich wollte, dass ich mich auf seinen Schoss setzte.
»Bist du sicher?«, fragte ich mit kratziger Stimme und plötzlich ganz weichen Knien.
Nicht, dass ich zu schwer für ihn war. Ich wollte nicht-
»Ich dachte du bist der Mutige von uns beiden«, sagte er mit neckendem Unterton. Kane neckte mich. Er wollte mich provozieren, was nicht mehr passiert war seit Monaten.
Kane wollte diesen Augenblick indem kein Schmerz ihn lähmte, nutzen, weswegen ich nicht lange darüber nachdachte und mich behutsam breitbeinig auf seinen Oberschenkeln niederließ und ihm plötzlich so nah war, dass ich seinen warmen Atem deutlich auf meinen Lippen spürte.
»Das war schnell«, flüsterte Kane und legte seine Hände flach auf meinen unteren Rücken. Er stützte mich, zog mich dichter an seinen lauwarmen Körper, der nur langsam an Temperatur gewann.
Ich legte meine Hände auf seine Schultern und wartete darauf, dass er noch etwas tat oder sagte, aber er sah mich nur an.
Dabei konnte man seinem Hirn richtig beim Denken zusehen.
»Woran denkst du?«, fragte ich ihn.
»Ich bin fasziniert davon, wie du es immer und immer wieder schaffst mich aus dieser Dunkelheit und der Taubheit zu holen, Heaven«, flüsterte er beeindruckt, glitt währenddessen mit den Händen wieder unter mein Shirt und jagte damit einen heftigen Schauder über meinen Rücken.
»Das bin nicht ich. Du entscheidest dich dafür«
Kane lächelte dankbar und malte einige wirre Muster auf meine nackte Haut, die unter seinen Fingerspitzen immer wärmer wurde.
»Ich habe mich übrigens für noch etwas entschieden«, fügte er hinzu und seine Augen wanderten aufmerksam zwischen meinen hin und her.
Das Kribbeln, das ich zu unterdrücken versucht hatte war stärker als zuvor.
»Und das wäre?«, fragte ich und sah ihm dabei zu, wie er mit der Zungenspitze kurz seine Unterlippe befeuchtete.
»Ich würde dich jetzt gerne küssen, Skyler«
Kane ließ mir nicht viel Zeit, seine geraunte Aussage zu verarbeiten, da hatte er mich an seinen dünnen Körper gezogen und seine Finger in meine Haut gegraben.
Vorsichtig legte er seine Lippen auf meine Wange, als hätte er Angst etwas zu überstürzen oder falsch zu machen. Sein weicher Mund fuhr zärtlich an meinem Kiefer entlang, bis er bei meinem linken Mundwinkel stoppte und zu mir sah, als wartete er auf eine Bestätigung, weitermachen zu dürfen.
Meine Finger an seinen Schultern zuckten, was ihm Antwort genug war.
Kanes Lippen trafen auf meine und dieser Kuss war der zärtlichste Kuss, den ich je bekommen hatte und je erwidern durfte.
Kanes Kuss war forschend, gemächlich und voller Gefühlen – guten, wie auch schlechten Gefühlen. Wärme, Schmerz, Freude, Trauer, Hoffnung und Angst.
Und dennoch verstärkte ich die Intensität des Kusses indem ich mein Becken gegen seines drängte und alles in mir aufnahm, was Kane mir gab.
Ebenso gab ich ihm dasselbe zurück. Gab ihm Vertrauen und Frustration – Liebe und Verzweiflung. Und Kane nahm wie auch ich jedes noch so kleine Gefühl in sich auf.
Sein Griff wanderte zu meinen Hüften, seine Fingernägel bildeten kleine Sicheln auf meiner nackten Haut, weil er sich festkrallte an mir.
Obwohl seine Hände immer kräftiger zupackten, spürte ich wie Kane selbst sich immer weiter entspannte.
Seine Lippen bewegten sich stürmischer und hungriger gegen meine. Es keimte diese Lust auf, diese Sehnsucht, die sich über Wochen hinweg angestaut hatte.
Doch dann lehnte Kane sich keuchend zurück und ich starrte mit großen Augen in sein wunderschönes Gesicht.
»Wir müssen tauschen, ich kann dich gleich nicht mehr halten«, stieß Kane angestrengt aus und ich blinzelte benommen, bewegte mich keinen Millimeter, weil jeder Zentimeter meines Körpers unter Strom stand und ich geistig noch immer in diesem verdammt heißen Kuss gefangen war.
Erst als Kane mich losließ und ein geschwächtes Beben seine Oberschenkel erfasste, sprang ich wie von der Tarantel gestochen auf und wollte nach ihm greifen, doch da sackte er bereits nach hinten und fing seinen Sturz nur noch leicht mit den Händen ab.
Der Hocker auf dem Kane gesessen hatte rutschte gegen meine Schienbeine und aus meiner Kehler drang ein erstauntes Lachen.
War Kane gerade wirklich rückwärts vom Stuhl gekracht?
Sah er mich gerade wirklich genauso verdutzt an, wie ich ihn?
»Wow. Deine Hilfsbereitschaft ist wortwörtlich umwerfend«, knurrte Kane und ich presste meine prickelnden Lippen aufeinander, als ich über den Stuhl stieg, um Kane meine Hand hinzuhalten.
»Hast du dir wehgetan?«, fragte ich, als er meine Hilfe annahm. Zumindest dachte ich das, bis Kane mich mit einem kurzen, aber unerwarteten Ruck zu sich auf den Badezimmerboden verfrachtete.
Ich fluchte im ersten Moment leise, doch spätestens als ich die Belustigung in seinen Augen erkannte, waren meine Flüche verstummt und zurück blieb Wärme. Wie sehr ich es liebte, wenn Kanes dunkle Augen zu strahlen begannen, wenn ihn was amüsierte.
Wie in Trance streckte ich meine Hand aus und fuhr mit dem Daumen ehrfürchtig über seinen leicht gehobenen Mundwinkel.
»Wir schaffen das, Kane«, flüsterte ich und hielt die Luft an, als dieses flüchtige Lächeln augenblicklich mit dem Funkeln in seinen Augen erstarb.
Shit, das hätte ich nicht sagen sollen. Ich hätte es nicht sagen sollen, aber dieser Moment hatte mich so glücklich gemacht, dass es einfach aus mir herausgeplatzt war.
Denn das war es, was ich mir wünschte.
Dass Kane Sinclair wieder glücklich wurde.
»Ich weiß es nicht, Heaven. Aber ich will es versuchen. Mit dir.«
Kane legte seine Hand auf meine und dann beugte er sich zu mir und schenkte mir tatsächlich einen weiteren Kuss.
Doch dieser schmeckte wieder nach Angst und da wusste ich...der Augenblick, indem Kanes Schmerz sich in Grenzen gehalten hatte, war vorbei...
Das würde eine lange und heftige Schlacht werden, aber immerhin kämpfte Kane nun nicht mehr allein.
Ab jetzt kämpfte ich mit ihm an seiner Seite.
»Heaven?«, murmelte Kane plötzlich an meinen Lippen und ich hielt inne, verdrängte meine Gedanken und konzentrierte mich auf ihn.
»Mh hm?«, erwiderte ich abwartend und öffnete die Augen, nachdem Kane sich ein Stück von mir entfernt hatte.
»Du solltest wirklich duschen gehen.«
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