Dreißig

Ich wusste nicht, ob ich tot war.

Aber wenn ich es war, dann war ich im Himmel.

Und der Himmel schlang seine Arme um mich, hielt mich fest und sorgte dafür, dass ich weiterkämpfte. Wofür, war mir in diesen Sekunden nicht klar.

Weswegen ertrug ich all die Jahre diese Schmerzen des Lebens, wenn sich der Himmel so anfühlte?

So warm, nicht ganz so weich, wie ich dachte, doch er war voller Liebe.
Liebe, die mir galt. Liebe, die ich brauchte.

Bis er irgendwann zu flüstern begann und ich feststellen musste, dass ich nicht tot war.
Blinzelnd drehte ich meinen Kopf und merkte, wie meine Wange an nackter Haut klebte.

Ich hatte geweint, schoss es mir in den Sinn.
Warum, war mir auch noch nicht klar.

Ich benötigte lange, um mich zu erinnern, wo ich mich befand. Weswegen ich dort war. Auf der nackten Brust eines jungen Mannes. Wahrscheinlich verdrängte ich die Gedanken, weil es sich so gut mit ihn anfühlte.

Besonders stark unterdrückte ich das Flüstern meines Kopfes, als der Griff um meinen müden Körper und meine noch erschöpftere Seele fester wurde und mein persönlicher Himmel zu Beben begann.

Ich wusste, wie sich Angst anfühlte.
Gott, natürlich wusste ich es.
Nur zu gut.

Aber das war nicht meine Angst, die ich da spürte.

Als ich leise durch die Nase Luft holte, da kam alles zurück.
Der Abend gestern und wie ich über das Dach geklettert und wenig später in ein anderes Zimmer gestiegen war.

Es roch nach Limetten.
Heaven.
Das war eindeutig Heaven, der mich festhielt, wie eine Würgeschlange ihre Beute, die kurz davor, jämmerlich zu ersticken.
Nur er grub seine Finger in meine Haut, als hätte er keine Angst davor, dass ich zerbrechen könnte.

Ich wollte nur 10 Minuten bei Heaven bleiben, doch ich brauchte die Augen nicht öffnen um zu wissen, dass es keine 10 Minuten waren und ich hier eingeschlafen war.

Wie lange ich geschlafen hatte? Keine Ahnung.
Eine Stunde, zwei, drei?
Die gesamte Nacht?

Wenn ich jetzt die Augen aufmachte, war der Himmel verloren und ich musste zurück in die Hölle.

Ich wollte nicht, aber das Leben zwang mich dazu, als es meinen hysterisch klingenden Vater in das Zimmer von Skyler King schickte.

Die Tür war zuvor mit Schwung aufgefallen und gehen die Wand gedonnert. Ich erstarrte auf Heavens Brust und er unter mir.

»Ist was mit ihm passiert?«, keuchte mein Dad und ich sammelte meine letzten Kräfte, drückte mich ein letztes Mal fester an Heaven und dann ließ ich los.

Fiel auf direktem Weg in die lodernden Flammen, die nur auf mich zu warten schienen.

»Er war ziemlich...traurig und brauchte eine Pause«, flüsterte Heaven, dessen Arme noch immer schützend um mir lagen.

Wusste er denn nicht, dass er mich nicht retten konnte?
So sehr ich es manchmal wollte, er konnte es nicht. Niemand außer Mom konnte das.

Müde – so verflucht müde – öffnete ich die Augen und kletterte ziemlich umständlich von Heaven herab.
Er ließ mich nicht gleich gewähren, als kannte er mein Schicksal und fürchtete sich davor.

»Heaven«

Es genügte seinen Namen zu hauchen. Ein einziger emotionsgeladener Blick und Skyler ließ augenblicklich von mir ab.

Ich ließ ihn los - gab meinen persönlichen Himmel auf, um mich meinem beschissenen Leben zu stellen.

Als ich stand, sah ich mich um.
Die Sonne war gerade erst am Aufgehen, dementsprechend duster erschien der Raum, indem wir uns befanden.

Heaven auf dem Bett, ich daneben und vor mir mein Vater, hinter dem Skylers Mutter verschwand.
Trotzdem sah ich die Tränen in ihren Augen, die sie zu verstecken versucht hatte.

Und ich sah die Tränen in Dads Augen, der seine zittrigen Hände in den vorderen Hosentaschen vergrub, sie versteckte, und sich von Kopf bis versteifte.
Seine Kiefermuskeln arbeiteten wie wild, während jegliche Farbe seine Wangen verlassen hatte.

Ich wusste, der Muskel in meiner Brust schlug noch. Aber er geriet ins Stolpern, denn das war ein Ausdruck in Dads Gesicht, den ich noch nie so gesehen hatte und dennoch kannte ich den Ursprung.

Mom.

Die Angst, das was passiert sein könnte mit ihr, verdrängte meine Erschöpfung.
Ich zog mein Shirt, das Heaven mir wortlos hinhielt, an und ignorierte das Zittern meiner Beine, welches mich in die Knie zwingen wollte.

Mom.

»Ist was mit ihr?«, stieß ich panisch aus.
Dad bewegte sich nicht, er starrte mich nur an, als überlegte er, wie er seine nächsten Worte formulieren sollte.

Ich wartete.

Dad antworte auf meine Frage nicht.

Sein Blick wurde unklar, sein Mund bebte wie Espenlaub.

Er schwieg und sein Schweigen war schmerzhafter als alle Beleidigungen dieser Welt, die er mir an den Kopf hätte werfen können, weil ich hier war und nicht bei ihr.

Mir lief es eiskalt über den Rücken.

Mom.

»Dad...«, setzte ich an und erkannte meine Stimme garnicht mehr wieder.
Ihr durfte nichts passiert sein.

Ich wollte doch nur 10 Minuten weg.
10 Minuten Frieden.
10 Minuten nicht leiden und durchatmen.
10 verfluchte Minuten egoistisch sein.

10 Minuten, Mom. Ich schwöre.

Ich griff nach meiner Jogginghose am Boden, als ein Schluchzen aus der Kehle von Simon Sinclair drang und er sich am Türrahmen abstützen musste. Ihn fehlte sogar die Kraft, sich aufrecht zu halten.

Nein.
Nein, nein, fuck - nein.

Mom ging es gut.
Das war ein Traum.
Das war alles ein beschissener Traum und ich würde gleich aufwachen.
Aufwachen an ihrer Seite.

Es war ein Traum, Mom.

Das war es doch, oder?

»Kane...deine Mutter ist heute Nacht eingeschlafen«, flüsterte Dad und klang dabei, als würde seine Kehle in Flammen stehen.
Dabei war es nicht seine Kehle, die in Flammen stand.

Es war mein Herz, welches sich lichterloh entzündete und alles was übrig blieb, war ein lächerlicher Haufen Asche.

Nein, Mom.

Während mein Herz verstand, was seine Worte zu bedeuten hatten, herrschte in meinem Schädel gähnende Leere.

Mom ist eingeschlafen,
dann muss sie wieder aufwachen.

»Du musst dich verabschieden, in einer Stunde wird ihr Leichnam überführt«, setzte er zögernd hinterher.

Ich blinzelte, das war alles.

Ich wollte schreien.
Ich wollte weinen.
Ich wollte irgendwas kaputt machen.
Ich wollte schweigen.
Ich wollte aus diesen Alptraum erwachen.
Ich wollte sterben.

Aber mein Herz ist Asche, Mom.
Ich fühle nichts, nur diese Taubheit.
Ich wollte nur 10 Minuten
nicht an den Moment denken,
der mich zerstört.

Also stand ich da, starrte Dad an, während ich innerlich am sterben war.

Ich stehe in dem Raum eines Jungens,
der mein Zufluchtsort wurde, Mom.
So wie du es bist.
Ich bin gestern Nacht vor dem Teufel geflohen und heute will er es mir heimzahlen.
Er nimmt mir das letzte bisschen Kraft und schickt mir seinen stärksten Dämon.
Ich will wieder flüchten, denn darin bin ich gut.
Doch hiervor kann ich nicht weglaufen.
Du sagst, ich bin stark. Ich bin ein Kämpfer.

Mom, das stimmt nicht.

Du bist mein Wegweiser und ohne dich,
liegt alles in Scherben und ich weiß nicht mehr, welchen Weg ich einschlagen soll.

Du kannst nicht tot sein.
Du bist kein Leichnam der überführt wird,
du bist Mom.
Meine Mom.
Du lachst und du schlichtest Streit.
Du bist schlau und witzig.
Du bist das Licht in meiner Dunkelheit.

Du bist lebendig.

Ich sah es in den Blicken aller Anwesender, dass das eine Lüge war.

Simon, der weinte. Er hatte lange nicht geweint.
Nicht so.
Nicht so voller Schmerz.

Heaven hatte mir gesagt, er würde mich nicht bemitleiden.
Und das tat er bis dato nicht, aber in diesem Moment, als unsere Blicke einander trafen, keimte in seinen grün-braunen Augen Mitleid auf. Er sah meinen Schmerz und bemitleidete mich.

Das war der Moment, der mein Herz und meinen Verstand wachrüttelte.

»Sie ist tot«

Drei Worte.
Jedes davon zerlegte mich in meine Einzelteile.

Mom ist tot.

Eingeschlafen und sie würde nicht wieder aufwachen.
Weil sie gestorben war.

Meine Mom ist gegangen.
Endgültig...

Ich atmete.
Und lebte weiter...gerade noch so.

Alles, was nach diesem Moment, indem ich verstanden hatte, dass die wichtigste Person in meinem Leben nicht mehr da sein würde, geschah, war verschwommen.

Meine Welt stand nicht mehr nur in Flammen oder zerbrach.

Sie war nicht mehr existent.

Ich glaubte, ich hatte mich fertig angezogen, wie eine beschissene Maschine - ohne all diese zerstörerischen Gefühle.
Ich glaubte, ich hatte Heaven angeschrien, dass er mich hätte wecken müssen.
Dass er mir gar nicht erst erlauben hätte dürfen, bei ihm zu sein. Dieser Moment des angeblichen Friedens hatte Konsequenzen. Die schlimmsten meines Lebens.

Ich war aus dem Haus der Kings gerannt.

Ich glaubte auch, dass ich in Moms Zimmer gestürmt und vor dem Bett zusammengebrochen war.

Aber was ich nicht glaubte, sondern ganz sicher wusste, war, dass ich ihre Hand gehalten hatte.

Sie war eiskalt.

Daran konnte ich mich erinnern und daran würde ich mich bis zu meinem eigenen Tod erinnern.

Mom war so kalt.

Und dieses Zimmer, indem sie lag, war so verflucht still.
Meine Gedanken und das Chaos in mir waren dagegen so beschissen laut.

»Tut mir leid, dass ich nicht da war, Mom«, wisperte ich.

Sie sagte nichts.
Bewegte sich nicht.
Lachte nicht.

»Tut mir so leid«, wiederholte ich.

Immer und immer wieder, bis ich ihre Hand fester drückte, weil irgendein Teil in mir darauf hoffte, dass sie meine Hand irgendwann auch drücken würde.

Dass Mom sagte, es sei okay.
Alles würde wieder gut werden.

Sie bewegte sich immer noch nicht.
Sie blieb tot.

Ich glaubte, dass ich schluchzte, doch das Dröhnen in meinen Ohren war zu laut.
Also schrie ich.

»Du weißt doch, dass ich dich brauche! Mom, fuck! Was soll ich denn ohne dich machen?!«

Ich sah in ihr Gesicht, dass so friedlich aussah, während alles, was ich spürte, blutiger Krieg war.

Keine Reaktion.
Keine Antwort.

Sie war gegangen.

»MOM!«

Es ist zu spät.

Ich konnte sie nicht retten, nicht beschützen.

»Mom...«, würgte ich hervor.

Alles war so durcheinander.
Ich konnte meine Gefühle nicht zuordnen.
Es waren zu viele.

Das Einzige, das alles andere verdrängte und überschattete, war dieser unsagbare Schmerz den ich vernahm, wenn ich ihre Leiche ansah.

Ihr fahles Gesicht. Ihren Brustkorb, der sich nicht mehr schwach hob und senkte.
Ihre Grübchen, die für alle Zeit verschwunden waren, weil sie nicht mehr Lachen würde.

Mom war tot.

Was auch immer mir den letzten Schlag versetzte, mit einem Mal waren all meine Lichter aus.

Ich war wieder im Ozean, am ertrinken.

Diesmal war Heaven nicht da und er konnte mich nicht retten, denn ich entschied mich fürs Ertrinken.
Ich wollte nicht gerettet werden, wenn das bedeutete, ohne sie weiterzumachen.

»Ich habe versprochen, loszulassen. Aber ich kann nicht, Mom. Ich kann dich nicht loslassen. Ich bin verloren ohne dich.«

Also akzeptierte ich mein eigenes Schicksal und folgte der Dunkelheit des Meeres, die mich lockte, wie ein Wiegenlied.

Ich sank tiefer, spürte, wie meine Lungen geflutet wurden und dann war da nichts mehr.

Kein Schmerz, der mich in Fetzen riss.

Keine Angst, die an mir zerrte.

Kein Tod, der meine Welt zerstörte.

Keine Limetten, die meine Gedanken fluteten.

Kein persönlicher Himmel, der mich versuchte zu beschützen.

Keine Hölle, die mich für alles bestrafen wollte.

Keine Flammen, die mich verbrannten.

Kein Meer, in dem ich ertrank.

Keine Rettungsleine, die mich rettete.

Nur Dunkelheit.

»Mom, ich hab' dich lieb.
Ich hab' dich so verdammt lieb.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top