Drei

Ich trommelte mit den Fingerspitzen gegen die warme Fensterscheibe meines Zimmers, während ich zum unbeleuchteten Nachbarhaus blickte und die Stirn runzelte.

Dieser Kane war schrecklich. Wirklich schrecklich.

In nur einer Stunde benahm er sich so daneben, dass ich kurz davor war, ihn zu packen und aus dem Garten zu schleifen.

Er war vor zwei Stunden immerhin von selbst abgehauen, unten herrschte nun die totale Erwachsenenversammlung, weswegen mein bester Freund und ich uns in mein Zimmer zurückzogen.

»Findest du ihn wirklich so schlimm?«, hörte ich Noah von meinem Bett aus interessiert fragen.
Ich drehte mich um, schob die Hände in meine vorderen Hosentaschen und zog eine Augenbraue hinauf. Mit dem Rücken lehnte ich mich gegen meine große Fensterscheibe.

»Er ist ein Arsch, Noah. Wie hältst du das mit ihm aus?«

Daraufhin sah ich Noah an. Noah Sinclair, der mit seinem Halbbruder so gar keine Gemeinsamkeiten hatte. Außer deren gemeinsamen Vater.

Noahs Haar war honigblond, das von Kane unwahrscheinlich dunkel.
Kane war größer und ich glaubte zu meinen, dass er auch ein paar Jahre älter war, als Noah und ich.
Und Noah war fürsorglich. Nett und ein guter Zuhörer.
Kane...schien in dieser Stunde das vollkommene Gegenteil zu sein.

»Er ist sehr direkt, ja. Unhöflich auch, aber er ist kein schlechter Mensch. Er muss erst aus sich rauskommen. Aber findest du es so schlimm, dass er so direkt ist?«

Oh, da kam der beschützende kleine Bruder in ihm zum Vorschein. Ich räusperte mich. Keine Ahnung wie das mit Geschwistern war, ich hatte leider keine. Nur Noah, der einem Bruder für mich sehr nah kam.

»Ich habe kein Problem, wenn er das sagt, was er sich in dem Moment denkt. Soll er doch. Aber es macht verdammt viel aus, wie er es sagt. Das macht mich wütend. Ich habe ihm nichts getan«

Noah verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und betrachtete die Decke über sich eingehend. Er nickte verständnisvoll und zuckte dann mit den Schultern.
»Kane hat es momentan nicht so leicht, Sky. Er war früher aufgeschlossener. Gib ihm eine Chance, dich besser kennenzulernen«

»Warum hat er es denn nicht leicht? Er wohnt seit drei Wochen bei euch und du erzählst mir nichts. Willst dich lieber hier bei mir treffen und dein mysteriöser Bruder scheint mehr ein Hirngespinst als Realität zu sein«

Noah drehte das Gesicht in meine Richtung und in seinem Blick lag eine stumme Entschuldigung.

»Frag ihn selbst, wenn es dich wirklich interessiert, Sky. Ich habe versprochen, nichts hinter seinen Rücken über ihn zu erzählen«

Ich kniff die Augen zusammen und trat zwei Schritte näher an mein Bett heran. Wir verschwiegen sonst nichts voreinander.
Es gab da keine Geheimnisse zwischen ihm und mir.

Noah wusste auch, dass ich schwul war.
Das war bis vor einer Weile noch mein größtes Geheimnis und er kannte es zuerst.

Und ich wusste, dass mein bester Freund auf Mary Brooks stand.
Das war sein größtes Geheimnis. Niemand sonst wusste davon.

Was also hatte sich verändert, dass Noah Sinclair anfing, mir die wirklich wichtigen Dinge zu verschweigen?
Er wusste, ich konnte schweigen wie ein Grab.

»Ist er ein heimlicher Drogendealer? Hat er Probleme mit seiner Mutter? Ist er arm und kann sich keine eigene Wohnung leisten? Ist er von einem College geflogen, weil er was mit seiner Professorin hatte? Hat er was verbockt und taucht jetzt bei euch unter? Oder-«, setzte ich an, aber Noah unterbrach mich seufzend.

»Herrgott, Sky. Frag ihn selbst. Was bist du denn so neugierig und zerbrichst dir darüber den Kopf? Das machst du doch sonst nur, wenn-«
Noah unterbrach sich selbst, sein Blick schoss zur Decke und dann zu mir zurück. Mit einem Mal saß er gerade auf meinem Bett und stützte sich mit den Händen an der Matratze ab.

»Gefällt er dir etwa?«, fragte er mich und seine blauen Augen weiteten sich geschockt. Ein paar seiner blonden Strähnen hingen ihm wirr im Gesicht, was ihn nicht zu stören schien.

Mein Magen verkrampfte sich augenblicklich.

»Der Arsch?!«, stieß ich aus und schüttelte schnell den Kopf.

Kanes dunkelbraune, fast schwarz aussehende Augen, die mich an Obsidian erinnerten, waren absolut unscheinbar.
Sein Körper, den er leider unter zu großen Shirts versteckte? Sicherlich absolut langweilig.
Dessen markantes Gesicht, mit den unwahrscheinlich langen Wimpern? Definitiv unspektakulär.
Kane Sinclair war nicht mein Typ. Ganz und gar nicht.

Noah betrachtete mich eine ganze Weile, bis er wieder mit den Schultern zuckte.

»Du bist schwul, Sky. Langsam sollten wir darüber reden, wer oder was dein Typ ist. Gefalle ich dir denn besser?«

Ich wusste ja, dass das wahrscheinlich für ihn eine normale Frage darstellte.
Aber ich wurde dennoch rot.
Er war mein bester Freund.
Mein nicht biologischer Bruder.
Die Vorstellung, ich könnte Gefühle für Noah haben, schrecke mich auf.
Ekelte mich irgendwie an.

»Noah, sei einfach still. Das nervt mich jetzt aber echt«, stöhnte ich also befangen auf.

»Jetzt sag schon. Gefalle ich dir besser?«
Er ließ nicht locker. Auf seinen Lippen lag ein spitzbübisches Grinsen.
Noah wollte mich ganz klar provozieren.

»Okay, also dann...Du bist nicht mein Typ. Bist du nicht. Du bist mein bester Freund«, sagte ich ehrlich und Noah hielt den Blickkontakt geduldig aufrecht. Nach ungefähr einer Minute, als es wirklich unangenehm wurde, knurrte ich leise.

Er wollte es wirklich wissen? Sollte er.

»Scheiße, Noah. Dein Bruder ist nicht hässlich. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er ein Idiot ist. Und Idioten habe ich nach Gavin endgültig abgeschworen«, zischte ich schließlich energisch und fuhr mir mit ausgestreckten Fingern durch mein weiches Haar.

Ein aggressiver Atemzug meinerseits, ein entspanntes Ausatmen seinerseits.

»Und das macht dich fertig«

Noah legte den Kopf leicht schräg und brachte mich echt auf die Palme. Mein Fuß tippte in einem mir fremden Rhythmus stetig auf den Parkettboden.

»Nein, tut es nicht. Warum sollte es?«

Noahs blaue Augen sprangen unruhig zwischen meiner Gestalt und dem Fenster hin und her.

»Du bist derjenige, der sich verziehen wollte und geschlagene 10 Minuten am Fenster stand, um Kanes Zimmer zu stalken. Das tust du womöglich schon die letzten drei Wochen, wenn ich mal nicht bei dir bin. Was nebenbei gesagt echt seltsam ist, Sky. Selbst für dich«

Ich setzte mich zu Noahs Füßen auf die weiche Matratze. Wartete eine ganze Weile und kratzte mich an der erhitzten Haut in meinem Nacken.
Verzweifelt suchte ich nach einer lächerlichen Ausrede, bis mir tatsächlich eine einfiel. Wobei es nicht einmal eine war.

»Das Gästezimmer war 18 Jahre lang leer gestanden, Noah. Seit drei Wochen wohnt er nun bei euch und seit drei Wochen vermeidest du es, dass ich euer Haus betrete. Tut mir leid, wenn ich neugierig werde«

Im Gästezimmer der Sinclairs ging das Licht an und ich erstarrte. Noah sprach weiter und bemerkte nichts von der Veränderung.

»Es ist Zuhause momentan eine komische Stimmung und ich wollte nicht, dass du...naja, du weißt schon. Ich wollte, dass wenigstens zwischen uns beiden alles okay und normal ist«, erzählte er mir und ich schluckte, zwang mich den Blick vom Fenster abzuwenden und in Noahs klare, blaue Augen zu sehen.

»Das verstehe ich nicht so ganz«, gestand ich.

Noah zog das graue Kissen zu sich und legte den Kopf darauf, er sah mich nachdenklich an und lächelte dann wachsam.

»Ich wollte nicht, dass Kane dich mit seiner derzeitigen Art, die er an den Tag legt, vergrault. Was er heute trotzdem - nach nur einer Stunde - geschafft hat«

Im Augenwinkel tauchte ein Schatten vorm Fenster ein Haus weiter, auf. Ich drehte das Gesicht dorthin und sah, wie Kane Sinclair mit dem Rücken zu mir, nach dem Saum seines Shirts griff.

Er zog es sich über den Körper. Zum Vorschein kam ein hübscher Rücken und helle Haut. Obwohl wir Hochsommer hatten, war er so hell.
Wenn er kaum das Haus verließ, wunderte mich das nicht. Seine Rückenmuskulatur stellte ein faszinierendes Schauspiel dar und meine Wangen wurden ganz warm.

»Du kennst mich, Noah. So schnell vergrault mich niemand. Ich bin ehrgeizig, wenn ich mir etwas in den Kopf setze. Kane ist zwar ein Arsch, aber ich werde nett sein. Versprochen...«

Das Shirt warf er auf sein Bett und ich spürte, wie mein Herzschlag ausgesetzt hatte, denn... er drehte sich in seinem Zimmer um, als hätte er meinen Blick bemerkt.

Und dann erstarrte Kane Sinclair, während ich in seine dunklen Augen schaute.

»Aber ich glaube, ich habe ihn vergrault«, flüsterte ich gefesselt.

Unsere Blicke trafen sich noch immer und in weniger als einer Sekunde, hob sich seine Hand.
Als ob er winken würde. Mein Atem setzte aus, meine Finger zuckten.

Er drehte mir seinen erhobenen Handrücken zu und zeigte mit seinen längsten Finger.

Bitte...was?

Ich schluckte, starrte zu seinem ausdruckslosen Gesichtsausdruck und zurück zu Kane Sinclairs Mittelfinger, der auf mich gerichtet war.

Ich presste die Lippen aufeinander.

»Er ist ein Arschloch«, stieß ich gepresst hervor.

Noah setzte sich alarmiert auf und krabbelte prompt zu mir, folgte meinen Blick, während er sich mit den Händen haltsuchend auf meinen Schultern abstützte. Ich sackte ein winziges Stück in mir zusammen, weil die Situation mich so überforderte und der Großteil von Noahs Gewicht auf meinen Schultern ruhte.

»Oh«, hörte ich ihn wispern.

Kanes Augen wanderten zu Noah, seine beleidigende Handbewegung verschwand und ein verwirrter Ausdruck machte sich in Kanes beschissen schönem Gesicht breit.

Dann trat er näher an sein Fenster, öffnete es und gab uns zu verstehen, dasselbe zu tun.

Ich zögerte, Noah hingegen sprang an mir vorbei und tat es.
Ich drückte die Lippen aufeinander, als die stickige Luft von draußen herein strömte und ich seine Stimme vernahm.

»Hört auf damit. Alle. Beide«, kam es knurrend von Kane.

Es war, als hätte mein Kopf abgeschaltet.
Also erhob ich mich schwungvoll, schob Noah beiseite, trat an mein Fenster heran und sah erneut in Kanes dunkle Augen, die mich drohend beobachteten. Der konnte mich mal.

»Was, wenn nicht?«, rief ich ihm mutig entgegen und hörte, wie Noah zischend nach Luft schnappte, mich am Arm packte und vom Fenster zerren wollte.

Ich stemmte mich dagegen und ignorierte meinen besten Freund, starrte stattdessen seinen Halbbruder herausfordernd an, der 18 Jahre lang ein riesiges Geheimnis war.

Kanes Augen verengten sich und es schien so, als würde er sich aufrichten, um größer zu wirken. Lächerlich.

»Leg' dich nicht mit mir an, Skyler. Du wirst es bereuen«, sagte er und spuckte mir meinen richtigen Namen höhnisch entgegen.

Gerade als ich laut protestieren wollte, mischte sich Noah ein: »Kane, beruhig dich. Wir haben gequatscht und Sky saß einfach nur da. Das war nicht absichtlich«
Er wollte die Situation auflockern, vergebens.

Kane sah mich weiterhin wütend an und ich erwiderte seinen Blick still. Meine Brust hob sich hektisch und unkontrolliert.
Ich wagte es nicht einmal zu blinzeln. Jede Zelle meines Körpers war auf diesen Kerl fixiert.

Wie konnte man nur so fies sein?
Was stimmte mit ihm nicht, dass er so einen Hass auf...gefühlt alles hatte, das ihm über den Weg lief?

»Hör. Auf. Damit

Seine Worte richteten sich an mich und wirklich nur an mich. Seine Stimme war tief und er meinte es ernst. Verdammt ernst.

Noah sah mich an. Kane sah mich an.

Ich reckte trotzig das Kinn und dann...dann lächelte ich, als hätte er etwas nettes gesagt, trat vom Fenster weg und schloss es.

Noah schüttelte fassungslos den Kopf, als ich seinen Blick auffing.

»Noah. Der Typ ist ein Arsch. Ein verdammter Arsch«, kam es über meine Lippen, wobei ich darauf achtete, dass Kane jedes einzelne Wort, das ich sagte, sehen konnte, denn er stand noch immer dort und sah mich an.
Vielleicht verstand er ja, was ich über ihn dachte.

Ich wagte einen kurzen Blick zum Haus des Sinclairs.
Er schaute mich an, als würde er mir den Kopf abreißen wollen.
Als würde er so eine Wut in sich tragen, dass er nicht wusste, wohin damit.
Und ich hatte mich ihm vielleicht indirekt als Zielscheibe angeboten.

»Warum ist er so? Wie kann man nur so...«, mir fehlten die Worte, als ich Noah ansah, den die Farbe aus dem Gesicht gewichen war.

»Noah?«

Meine Hand griff instinktiv nach meinem besten Freund. Meine Finger gruben sich in seine Schulter.

»Er ist nicht immer so. Und ich wünschte, ich könnte dir alles erklären. Den Kane, den ich kenne...den ich kannte, der war...«, flüsterte Noah mit so unsagbar viel Schmerz in der Stimme, dass mich ein Schauder der Angst überrollte. Er beendete seinen Satz nicht.

Es brach eine Stille über uns herein.
Eine Stille, die mich in den Wahnsinn trieb.
Eine Stille, die den Takt meines Herzschlages beeinflusste.
Und dieselbe Stille, die mich zum Nachdenken anregte.

Meine Hand rutschte von seiner Schulter, als er nichts sagte.

Bei Kane war irgendwas passiert. Irgendwas, das sein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hatte. Das sein Verhalten scheinbar ins Negative veränderte.

Ich öffnete das Fenster.
Holte tief Luft, wendete meinen Blick von Noah ab und sah ihn wieder an.
Sah Kane Sinclair an, der eine Augenbraue hinaufzog und darauf wartete, dass ich einfach das aussprach, was ich ohnehin sagen würde.

»Tut mir leid.«

Kane blinzelte.
Er runzelte die Stirn und dann fiel sein wütender Blick auf seinen Bruder, der hinter mir stand.

Doch selbst dieser Anblick schien Kane egal zu sein. Er trat zurück, schloss sein Fenster und dann zog er die schwarzen Vorhänge davor und zurück blieb nur Chaos.

Ein Wirbel aus Verwirrung, Wut und Neugierde.

»Harte Nuss«, war alles, was ich von mir gab, bevor ich nach dem Handtuch am Henkel meiner Schranktür griff und vor der geschlossenen Zimmertür stehen blieb, um innezuhalten.

»Lass uns eine Runde surfen, Noah.«

Es kam keine Zustimmung, aber auch keine Widerrede. Er tauchte irgendwann hinter mir auf und sah mich an.

»Verstehst du, warum ich noch nicht bereit war, dich ihm offiziell vorzustellen und lieber bei dir war, statt dich in die Höhle des Löwen zu locken?«

Ich lächelte und drückte die Türklinke runter.

Kane Sinclair hatte vielleicht beschlossen, mich von der ersten Sekunde an zu hassen.
Ich hingegen beschloss in genau diesem Moment, trotzdem nett zu ihm zu sein. Zumindest würde ich es versuchen. Denn ein verwirrtes Monster, war ein weniger aggressives Monster. Falls das Sinn ergab.

Da lag was hinter hohen Mauern verborgen bei diesem Familienmitglied der Sinclairs und ich wollte wissen, was es war.
Und wenn Kane Sinclair der einzige Weg zur Wahrheit war, dann würde ich wohl diesen Weg einschlagen.

»Ich verstehe dich, aber ich denke, das wird schon werden. Er kann mich nicht sein Leben lang hassen.«

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