Achtundzwanzig
Skyler flennte.
Lea heulte.
Dads Augen waren gerötet.
Und Mom...Mom weinte auch.
Dabei weinte sie nur, wenn Dinge aussichtslos waren. Wenn irgendwas wirklich Schlimmes sie aus der Bahn warf.
Es stimmte was nicht.
Mein Herzschlag setzte einen Takt lang aus, als Mom mich ansah.
Ich fühlte mich taub, während es sich so anfühlte, als stünde ich plötzlich in einem dunklen Tunnel und alles was ich sehen konnte, war meine Mutter. Der Rest verblasste einfach.
Da war nur noch sie. Ihre dunklen Augen, die mich fixierten, ihre Lippen, die bebten, als hätte sie schreckliche Angst, die falschen Worte zu sagen.
»Mom...was ist hier los?«
Das war nicht meine Stimme.
Ich war mir sicher, dass mein Mund verschlossen blieb, doch als die Verzweiflung in ihrem Gesichtsausdruck stärker wusste, da registrierte irgendein noch funktionierender Teil meines Gehirnes, dass ich die Frage doch ausgesprochen hatte.
»Ich werde die Chemotherapie abbrechen, Schatz...Ich will die restliche Zeit, die mir bleibt, ich selbst sein... Ohne mit Medikamenten vollgepumpt zu sein oder sämtliche Schläuche in mir stecken zu haben«, sagte sie in langsamen, sehr schwachem Tempo.
Ich verstand, was sie sagte. Verstand den Sinn.
Aber ich wollte es nicht verstehen.
Es sollte keinen Sinn ergeben.
Ich blinzelte, weil meine Augen brannten, als hätte man mir Chlorwasser hineingespritzt.
Ich atmete, aber meine Lungen füllten sich nicht mit Luft, sondern mit stechenden Flammen.
Und mein Herz?
Scheiße, da war nichts.
Nur diese lähmende Taubheit.
Ich will die restliche Zeit, die mir bleibt, ich selbst sein.
Das bedeutete, dass ich versagt hatte.
Ich konnte unser altes Leben nicht retten.
Das bedeutete es doch, oder?
Ich war am Verlieren und ich verlor alles.
Das konnte und wollte ich nicht akzeptieren.
Nicht schweigend annehmen.
Sie musste es einfach noch ein bisschen länger probieren mit der Chemo. Länger durchhalten.
Damals, als der Krebs das erste Mal ausgebrochen war, da hatte es auch funktioniert.
Es war nicht so hart und heftig gewesen, aber es hatte funktioniert.
Es musste nochmal funktionieren.
»Brich die Therapie nicht ab, Mom, du-«, setzte ich an, während ich wie eine Statue im Türrahmen verweilte und einen Krieg führte, den ich nicht gewinnen konnte, aber auch nicht aufgeben wollte. Es stand zu viel auf dem Spiel.
Mom presste die Lippen aufeinander. Noch mehr Tränen flossen und ich wollte auf sie zugehen, doch der Tunnel, in dem wir uns befanden wurde immer länger und mit jeder beschissenen Sekunde entfernte sich Mom immer weiter von mir.
Sie entglitt mir.
Ich wusste, dass sie sich entschieden hatte und ich keine Chance hatte, sie umzustimmen.
Das sagte mir die Art und Weise, wie Mom trotz ihrer körperlichen Schmerzen, den Kopf versuchte zu schüttelten, um ihrer Entscheidung mehr Ausdruck zu verleihen.
Nur minimal, aber stark genug, um mir wehzutun.
Ich verliere sie.
»Nein, Kane«, flüsterte sie und tat mir noch mehr weh.
So leise...
Es war so leise.
Alle waren so leise.
So verdammt leise.
Warum verstand denn keiner, der in diesem verfluchten Raum stand, was hier passierte?
Warum hielt sie keiner auf?
Die Taubheit in meinem Herzen wurde zu purer Verzweiflung.
Ich zitterte.
Sie hatte sich entschieden.
Sie würde gehen.
Mom gab auf.
Und dann bebte ich, als die Verzweiflung sich in brennende Wut verwandelte.
Der Tunnel in dem Mom und ich standen, verblasste.
Wir waren wieder in diesem Zimmer, das nach Verlust roch und sich nach Aufgeben anfühlte.
»Du willst sterben«, entgegnete ich so scharf, wie die Klinge eines Skalpells.
Du willst mich im Stich lassen.
Du willst einfach aufgeben.
Mom hustete.
So stark, dass irgendwer näher an sie herantrat.
Skyler. Er hielt ihre Hand.
Aber er half ihr nicht. Er sah sie nur an.
Sah ihr beim aufgeben zu.
Ich verliere uns.
»Ich will ich selbst sein, wenn ich gehe, Schatz. Das ist mein Wunsch«, flüsterte sie schwach.
Wie konnte sie mich dabei ansehen, während sie mir das sagte?
Wie konnte sie so gefasst sprechen?
Wo war meine Kämpferin?
Wo war die Frau, die nie aufgab?
Ich verliere mich.
»Dr. McKinlay, sämtliche Ärzte in Texas und auch die in unserer Umgebung sehen keine Heilungschancen mehr. Nicht einmal 0,1 %, Kane. Es sind zu viele Metastasen in den lebenswichtigen Organen deiner Mutter. Selbst wenn sie die Therapie fortführt...Es ändert sich nichts daran, dass deiner Mutter nicht mehr viel Zeit bleibt«
Mein Vater, der Wichser, der meine Mutter im Stich ließ und sich nun als großen Helden feierte, weil er der Meinung war, die Sinclairs vereint zu haben. Dabei hatte er nur eine zweite Familie gegründet und Mom und mich mehr oder weniger in seinem neuen Leben akzeptiert.
Ich dachte man konnte ihm vertrauen.
Ich lag falsch.
Denn genau dieses Arschloch wollte mir jetzt unter die Nase reiben, dass die einzige Person in meinem Leben, die immer für mich da war...gehen wollte? Gehen musste.
Es ändert sich nichts daran, dass deiner Mutter nicht mehr viel Zeit bleibt.
»Du wusstest davon?«, zischte ich und sah Simon hasserfüllt an.
Er wich meinem Blick nicht aus und ich wünschte, ich hätte gerade die Kontrolle über meinen Körper, um ihn schlagen zu können.
Er hätte es mir sagen können.
»Ja«, murmelte mein toller Vater, der die Entscheidung seiner angeblichen ersten großen Liebe scheinbar schon verarbeitet hatte.
Mein Blick wanderte zu Lea, die viel zu nah bei meiner Mutter stand. Sie sah mich mit ihren blauen Augen traurig an, als hätte sie die leiseste Vorstellung davon, was in mir vorging.
»Und du wusstest es auch?«, knurrte ich bedrohlich.
»Ja«, wisperte Lea.
Auch sie hätte es mir sagen können.
Ich sah in Skyler Kings Augen, die von meiner Mom, zu mir wanderten.
Er sah mich schuldbewusst an und da machte es Klick.
»Und du hast es auch gewusst«, mutmaßte ich eisig. Das könnte sein Verhalten erklären.
Skyler sagte nichts. Er nickte nur.
Heuchler.
Sie waren allesamt widerwärtige Heuchler, die hier standen und traurig dreinschauten, dabei kannte keiner Mom so richtig.
Keiner war für sie da.
Jetzt.
Jetzt - als es dem Ende zu ging waren sie alle da.
Aber wo waren sie davor?
Mom und ich gegen den Rest der Welt und nun...was nun?
»Kane, Schatz. Bitte komm zu mir«, sagte Mom, als ich mit verklärter Sicht wieder in ihr mageres Gesicht sah.
Ich stand auf einem Felsvorsprung, unter mir tobte ein tödlicher Sturm aus Dunkelheit, Angst und noch mehr Finsternis.
Das würde mein Leben ohne Mom sein und alles, was ich tun konnte, war zu springen.
Umdrehen war nicht mehr möglich.
Das war die Hoffnung gewesen, aber die platzte gerade eben.
Also musste ich springen.
Und ich sprang von der Klippe.
Da war er nun: der große Fall.
Ich verliere alles.
Doch statt der grauenvollen Wahrheit ins Gesicht zu sehen, drehte ich Mom, Skyler, Lea und meinem Vater den Rücken zu und dann rannte ich.
Ich schluckte. Zumindest versuchte ich es, aber mein Mund war staubtrocken. Es dauerte ein paar Sekunden, dann schaffte ich es, meine Hand von Lunas zu nehmen und mir damit meine Wangen zu trocknen.
»Ich will nicht, dass er jetzt allein da draußen ist«, murmelte Kanes Mom voller Angst.
Simon seufzte schwer und Lea verließ das Zimmer, ohne etwas zu sagen.
Aber ich hörte ein ersticktes Schluchzen, dass sie wahrscheinlich zu verstecken versuchte, bevor ihre Schritte immer leiser wurden.
»Ich würde ihm nach, aber er wird mich fortschicken. Unsere Beziehung ist nicht so stark, wie ich dachte«, sagte Simon und sah seine Ex-Frau entschuldigend an.
Luna, die ihren Sohn besser als einer von uns kannte, drehte ihren Kopf langsam und sah zu mir auf.
Mein Herz, dass in Scherben lag, setzte sich Stück für Stück zusammen, um ängstlich zu klopfen.
»Würdest du bitte nach ihm schauen?«, bat sie mich mit dieser Stimme, die so gar nicht mehr nach Luna klang. Der Beatmungsschlauch schnitt sich wie heißer Draht in ihre verletzliche Haut und hinterließ darauf tiefe, rote Einkerbungen.
»Ich will gerne bei ihm sein, aber ich glaube, er hasst mich«, flüsterte ich.
Ich hatte es an seinem Blick gesehen. Da war so viel Enttäuschung. So viel Wut. Es war nicht meine Schuld, dass Kane nichts von der Entscheidung seiner Mutter wusste, das war mir klar.
Aber es war meine Schuld, dass er es so erfahren musste.
So plötzlich und vor den Augen aller Anwesenden. Also wenn er mich nun hasste, verstand ich ihn. Auch wenn mein Herz allein bei diesem Gedanken wieder in tausend Teile zerbrach.
»Kane hasst dich nicht«
Es war Simon, der das sagte und mich damit überraschte.
Er sagte es so selbstsicher und überzeugt, dass ein kleiner Funken der Hoffnung in mir erleuchtete und meinen Herzschlag vorantrieb, wie ein Rennpferd dem Ziel entgegen preschte.
Luna hustete wieder, aber diesmal war es heftiger. Sie hustete, hustete und verschluckte sich und hustete noch mehr, weswegen ich mit Gänsehaut wieder nach ihrer Hand griff, bis dieser schreckliche Anfall abebbte und sie schwer Luft holte. Ihr lilafarbenes Tuch war noch weiter nach hinten gerutscht und immer mehr ihres kahlen Kopfes kam zum Vorschein.
Ihre Brust hob sich nur ein winziges Stück an und mir war auch klar, dass viel zu wenig Luft ihre kaputte Lunge durchflutete, weil der Krebs sich darin immer breiter machte, um Luna immer weiter in die Knie zu zwingen.
»Er...er ist verrückt nach dir, Skyler. Kane vertraut dir bedingungslos, ansonsten wüsstest du nicht von seinen Ängsten, oder gar von mir...In den 21 Jahren, seit ich meinen Sohn kenne, habe ich noch nie gesehen, wie Kane ein Fremder wie du es Mal für ihn warst, so wichtig für meinen Jungen wurde...Er hasst dich nicht - er verehrt dich« Luna wurde zum Ende leiser. Schwächer, doch ihre Augen blieben wachsam auf mir ruhen.
Ich verstehe, warum Kane seine Mutter so sehr beschützt.
Sie ist wundervoll.
Luna ist großartig und ich fühle mich elend, wenn ich sehe und verstehe, dass sie nicht mehr lange bei uns sein wird.
Ich nickte, weil ich keine Worte fand, dann drehte ich mich um und war schon fast zur Tür hinaus, da hörte ich Luna wispern: »Er wird am Leuchtturm sein, Skyler. Bitte pass auf meinen Jungen auf«
Meine Beine hielten zeitgleich mit dem Muskel in meiner Brust inne, als ich mich zu Luna drehte und mit Verzweiflung im Blut und einem Knoten der Angst im Bauch leicht lächelte.
»Immer.«
Und dann folgte ich Kane in die Fluten, ohne zu wissen, ob es nicht schon zu spät für seine Rettung war.
• • •
Er war tatsächlich am Leuchtturm. Luna kannte ihn. Sie kannte ihn so gut.
Ich schwitzte von Kopf bis Fuß und ich war körperlich am Ende, denn ich war so dumm gewesen und rannte den weiten Weg bis hierher, während Kane mit dem Auto hergekommen war. Hoffentlich war nichts passiert.
Doch als ich Kanes gekrümmte Gestalt am Ende des Stegs wahrnahm, entspannte ich mich ein bisschen und der Sprint hier her war es das wert gewesen.
Mit stolperndem Herzen und genauso stolpernden Schritten ging ich zu ihm und ließ mich neben Kane nieder, ohne ihn anzusehen. Ich war nicht bereit die Wut in seinen Augen erneut zu sehen.
Stattdessen blickte ich auf das dunkle Meer, während mein rasselnder Atem mit jeder Minute die wir uns anschwiegen, ruhiger und gleichmäßiger wurde.
Alle 20 Sekunden erhellte der Lichtpegel des Leuchtturmes das Wasser, nur um es wenig später wieder ins schwache Licht des Mondes zu tauchen.
Der warme Wind fuhr durch mein Haar und die Schweißschicht auf meiner Haut wurde immer weniger.
Irgendwann erkannte ich im Augenwinkel, wie seine Hand sich auf seinem Oberschenkel verkrampfte.
»Ich ertrinke und da ist niemand, der mich retten kann«, flüsterte er in die eiskalte Stille hinein.
Seine Stimme war erfüllt von Schmerz und all den Strapazen der letzten Monate.
Ich musste irgendwas sagen.
Irgendwas, das ihm Hoffnung schenkte.
Auch wenn es sich vielleicht um eine Lüge handelte.
»Ich bin da. Lass mich deine Rettungsleine sein«, sagte ich und sah Kane Sinclair ehrlich an.
Kane allein entschied, ob mein Versprechen zur Lüge wurde.
Doch statt darauf zu reagieren, starrte er weiter in die Ferne.
Ich presste meine Lippen aufeinander und wendete den Blick erst ab, als der Lichtpegel viermal das Meer berührte, viermal wieder verschwand und ich mir sicher war, dass Kane nichts auf meine Worte erwidern würde.
Ich fühlte mich verloren ohne seine spottenden Worte. Ich fühlte mich einsam ohne seine Reaktionen auf meine Blicke.
Aber ich würde ihn nicht gehen lassen.
Wenn er ertrank, dann mit mir.
Also griff ich zögernd nach seiner geballten Faust. Legte meine warmen Finger auf seine kalte Hand.
Kane ließ meine Berührung zu.
»Warum hast du es mir nicht gesagt?«, murmelte er in das unregelmäßige Rauschen des Ozeans hinein.
Ich will dir deinen Schmerz nehmen.
Ich will dich davor beschützen, aber ich kann nicht.
Alles, was ich tun kann, ist da zu sein.
Dich nicht zu bemitleiden, aber mit dir zu leiden und mit dir zu kämpfen.
»Weil sie deine Mutter ist. Sie sollte es dir sagen, Kane«, antwortete ich und spürte, wie die Faust unter meiner Hand noch fester wurde. Ich drehte den Kopf und stellte fest, dass Kane mich ansah.
Ein Sturm tobte in diesen dunkelbraunen Augen.
Ich konnte mir das Chaos in Kane nicht gänzlich vorstellen, weil ich nicht er war, aber ich sah die Qualen, die er durchlebte.
Er zog seine Hand so abrupt von mir, dass es sich für mich so anfühlte, als hätte er sich verbrannt.
Dann zog Kane die Beine an seinen Körper und schlang seine Arme darum, während er sich wie ein kleines, verängstigtes Kind vor und zurück schaukelte.
»Ich habe mich in Träume geflüchtet. Ich habe mich von dir ablenken lassen. Ich war nicht richtig bei ihr, hab es verdrängt und jetzt kann ich nichts mehr tun«, flüsterte er vor sich hin.
Keine Ahnung, ob die Worte ursprünglich nur für ihn bestimmt waren, aber ich hörte sie.
Und sie schnitten blutige Wunden in meine Seele.
»Du hast auch davor nichts tun können, Kane. Das...das ist das Leben«, brachte ich hervor.
Ein Teil in mir wollte zu ihm rutschen und ihn umarmen. Der andere, stärkere Teil, blieb ganz still neben ihm sitzen und wollte ihm nicht zu nah kommen – psychisch und physisch.
»Das ist nicht fair«
Vier einfache Worte, die es mir schwermachten, den Mund aufzumachen.
»Das ist es nie«
Kanes Körperhaltung veränderte sich erneut, sie wurde steif und ich konnte Kane dabei zu sehen, wie er in den Angriff überging.
Sein Ziel war diesmal ich.
»Was weißt du schon davon? Erspar mir deine beschissenen Predigten vom Leben und geh zurück zu deiner perfekten, kleinen Familie!«, warf er mir so kalt entgegen, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte.
Die Worte damals auf dem Dach waren ein Witz gegen die Wucht an Emotionen, die er mit dieser Aussage in mir auslöste.
Er sah mich so hasserfüllt an, dass mir eiskalt wurde. Seine Nasenflügel blähten sich aggressiv auf und sein Kiefer arbeitete mahlend.
Innerlich riss er mich mit seinen Worten und seiner Reaktion um. Er schob mich von sich.
Äußerlich saß ich da und sah ihn an, als hätte er keines dieser verletzenden Worte gegen mich gerichtet.
Stattdessen erwiderte ich so ruhig, wie ich konnte: »Tu' das nicht, Kane. Bestraf mich nicht für etwas, über das ich keine Kontrolle habe. Ich würde dir den Schmerz nehmen, wenn ich könnte«
Kane schnaubte augenblicklich. Kritisch analysierte er mit seinen Augen, die immer dunkler wurden, ob ich es ernst meinte.
Wieder bewegte er sich.
Diesmal sackten seine Schultern ab und seine Füße baumelten wieder über den Wellen, wie vorhin, als ich angekommen war.
Die Aggressivität in seinen geröteten Augen wurde weniger, verschwand aber nicht gänzlich.
Im Licht des Mondes sah ich die glänzenden Tränenspuren auf seinen Wangen.
Ich sah die Flecken, die seine Tränen auf seinem schwarzen Shirt gebildet hatten.
»Und ich würde meiner Mom den beschissenen Schmerz nehmen, wenn ich könnte. Aber was hast du gerade eben noch gesagt? Das ist das Leben«, sagte er trocken.
Ich nickte, sagte aber nichts.
Ich wollte ihn nicht noch weiter verärgern.
Ich wollte einfach nur da sein, wenn er mich brauchte.
So war es auch mit der Rettungsleine – er musste danach greifen, wenn er Hilfe brauchte. Ansonsten war er auf sich selbst gestellt.
»Was mache ich hier eigentlich? Ich sollte jetzt bei ihr sein und nicht hier mit dir.«
Kane griff nicht nach der Rettungsleine.
Er kämpfte allein damit, nicht zu ertrinken.
Ich ignorierte die Blicke der anderen, als ich zur Haustür hereinkam. Ich ignorierte auch Noah, der sich mir in den Weg stellte und sich entschuldigte.
»Es tut mir so leid«, sagte er und griff dabei nach meiner Schulter. Instinktiv schüttelte ich seine Hand ab und schob mich grob an ihm vorbei.
Keine Ahnung wofür er sich entschuldigte, aber das spielte auch keine Rolle mehr.
Nichts war von Bedeutung – nur die Zeit, die mir mit Mom blieb.
Und davon hatte ich nicht mehr viel.
Also ging ich die Treppen nicht hoch, sondern rannte sie hinauf.
Ich zögerte auch nicht, als ich Dr. McKinlay aus dem Zimmer schob und die Tür hinter mir schloss.
Hier war ich wieder und diesmal musste ich der Wahrheit ins Gesicht blicken.
Diesmal würde ich nicht weglaufen.
»Es tut mir so leid, dass ich es dir nicht früher gesagt habe«, hörte ich Mom reuevoll hinter mir murmeln.
Ich biss die Zähne zusammen und sah sie an.
Ich sah Mom genau an und ein Teil meines Herzens erfror bei ihrem Anblick.
Trotzdem nickte ich, ging zu dem Bett, auf dem eigentlich nur eine Person Platz hatte, zog meine Schuhe aus und legte mich neben sie.
So dicht, dass meine Nasenspitze ihre eiskalte Wange berührte.
»Bleib bei mir. Solange du kannst. Versprich mir das, Mom«
Mom drehte ihr Gesicht mir zu und streckte sich.
Es tat ihr weh, das zu tun, aber sie tat es dennoch.
Ihre blauangelaufenen Lippen legten sich auf meine Stirn und dort murmelte sie schweratmend: »Versprochen.«
Der große Fall war vorbei.
Alles hatte ein Ende.
Ich fiel in die Fluten.
Und ich tauchte nicht mehr auf.
Stattdessen krümmte ich mich, schlang meinen Arm um meinen sicheren Hafen und zerbrach.
Ich weinte, das hörte ich.
Ich schluchzte so laut, das Moms Lippen sich immer wieder und wieder auf meine Stirn pressten.
Sie flüsterte, dass ich mich beruhigen musste, aber ich konnte nicht.
Keiner hatte mir gesagt, dass es so schwer sein würde.
Niemand hatte mir gesagt, dass das Wissen dass sie bald starb sich so anfühlte, als würde auch ich sterben müssen.
»Du musst mir auch was versprechen«, hauchte Mom und ich kniff die Augen noch fester zu, als ohnehin schon.
Meine Finger gruben sich in den Stoff ihres Shirts. Ich wollte sie nicht verletzen, aber ich brauchte ihre Nähe.
Denn dieser Herzschlag unter meinem Arm und ihr leiser Atem gaben ein verräterisches Bild in meinen Gedanken. Das Bild, dass alles okay war. Dass ihr Herz kräftig schlug, statt schwach und viel zu leise. Dass ihr Atem tief und voll war, statt viel zu leicht und voller Schmerzen.
Ich wusste, was ich ihr versprechen musste.
Ich konnte es nicht.
Ich konnte nicht.
Meine Kehle brannte aufgrund der verzweifelten Laute, die aus mir kamen.
»Kane«, flüsterte sie meinen Namen so voller Liebe und Bewunderung, dass ich mich zwang die Augen zu öffnen.
Ich sah Mom verschwommen, aber ich sah meinen Schmerz in ihrem.
Wir litten beide.
Und obwohl sie litt, hatte sie mir ein Versprechen gegeben.
Also war es nur fair, ihr jetzt auch eines zu geben. Egal was es war.
Also nickte ich, blinzelte und nahm alle Kraft zusammen, nicht nochmal zu schluchzen.
Moms Augen wanderten über mein Gesicht.
Voller Ehrfurcht legte sie ihre Hand auf meine glühende Wange und strich mit dem knochigen, viel zu kalten Finger über meine Haut.
Ihre Lippen bebten wieder.
»Lass mich los, wenn es soweit ist«
Ich wimmerte wie der verängstigte kleine Junge, der ich wurde, während ich sie näher an mich zog.
Ihr Griff wurde stärker – ein bisschen zumindest.
»Kämpf weiter. Hör niemals damit auf«, flüsterte Mom.
Ich blinzelte und blinzelte, bis ich sie richtig sah. Nicht verschwommen oder unscharf.
Sie brach mir das Herz, indem sie darauf wartete, dass ich ihr das versprach.
Aber es war okay.
Es war okay, auch wenn es mir nicht gut damit ging.
»Versprochen.«
Mom schluchzte erleichtert auf und dann weinten wir gemeinsam.
Wir litten gemeinsam.
Wir hielten einander fest.
Wir kämpften ein letztes Mal gemeinsam gegen den Rest der Welt.
• • •
Ich glaube, ich wollte noch
nie einen meiner Charaktere
so sehr in den Arm nehmen,
wie Kane in diesem Kapitel.
💔
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top