Achtunddreißig

Kane ging seit zwei Wochen zu Mrs. Tyrell, der Psychologin, die ich im Internet gefunden hatte, nachdem Dad mir einen Flyer für eine Selbsthilfegruppe gegeben hatte, die er ebenfalls im Netz gefunden hatte.

Was genau Kane dieser Frau anvertraute, sagte er mir nicht. Zumindest noch nicht.

»Irgendwann, Heaven. Wenn ich die Scheiße, die mir passiert ist, annähernd verarbeitet habe.«

Das waren seine Worte.
Er wollte sich außerdem erstmal mit den Abläufen der Sitzungen vertraut machen, die zweimal die Woche stattfanden für jeweils eineinhalb Stunden - immer Montag und Freitag.

Ich war stolz auf ihn - so verflucht stolz.

Und seit drei Tagen ließ Kane sich sogar von seinem Vater dorthin bringen und wieder abholen. Es schien mir fast so, als ob das Verhältnis zwischen den beiden langsam besser wurde.

Aber ganz so sicher war ich mir nicht, denn wir sprachen hier noch immer von Kane Sinclair.
Er war noch immer in einer heftigen Trauerphase und ab und an spürte das jeder Anwesende ganz deutlich.

Manchmal war Kane eine geladene Bombe und manchmal...da explodierte er.

Ich erinnerte mich nur zu gut daran, als er mich letzte Woche angeschrien hatte, nur weil ich ihn fragte, wie seine Sitzung war.
Er war emotional so aufgewühlt gewesen, dass er sich nicht regulieren konnte und...ausbrach.
Einfach ausbrach und all seinen Frust gegen mich richtete.

»Und, wie war die Sitzung?«, fragte ich und sah mich in Kanes alten Kinderzimmer um, obwohl ich ohnehin bereits jeden Zentimeter dieses Raumes kannte.

»Warum?«, knurrte er hinter mir und ich wurde sofort hellhörig, drehte mich Kane zu und beobachtete ihn aufmerksam.

Sein Blick war misstrauisch auf mich gerichtet. Seine Muskulatur ziemlich angespannt. Er war kurz davor auszuticken und ich wusste, egal was ich sagte...er würde platzen. Also entschied ich mich für: »Weil ich dich liebe, Kane«

Und dann... hatte er losgelegt.
Nannte mir an die fünfzig Gründe, warum ich damit aufhören sollte.
Dass ich lieber einen Kerl aus meiner beschissenen Highschool daten sollte, dessen größtes Problem war, sich zu outen.
Gott, er hatte so viele Dinge gesagt und trotzdem stand ich da und verliebte mich immer weiter in ihn.
Zum Teufel mit Typen meines Alters.

Dieser 22-Jährige, der mich anschrie und irgendwelches wirres Zeug von sich gab, war alles, was ich wollte.

»Sky!«

Das... klang nicht nach Kane.

»SKY!«

Ich runzelte die Stirn und befand mich nicht mehr in Kanes Zimmer, sondern lag mit dem Bauch auf meinem grünen Surfbrett, welches sich schaukelnd im Meer bewegte.

»Sky. Hast du den Wetterbericht für heute eigentlich gesehen? Ich glaube, wir sollten zurück«, unterbrach mich Noah, der eine relativ flache Welle links von mir ritt.

Ich war tatsächlich gedankenverloren neben ihm im lauwarmen Wasser getrieben und blinzelte angestrengt weiter das Bild von Kanes wutverzerrtem Gesicht fort.
Stattdessen sah ich in den Himmel, der sich immer weiter verdunkelte. Vor ein paar Minuten noch waren die Wolken weiß. Mittlerweile erinnerten sie mich aber an Kanes Augenfarbe. Das war nicht gut.

»Wurde Regen angesagt?«, fragte ich verwirrt, weil ich mich die letzten Tage auf den Unterrichtskram, Kane und die Bar konzentriert hatte.
Dass Lea, Noah und mir im Luna half, war ein großer Vorteil. Sie war ein wahres Naturtalent und übernahm mit meiner Mom häufig die Abendschichten.

Die Menschen liebten diese Bar.
Wir hatten mittlerweile sogar Stammkunden.
Ich wünschte, der Besitzer würde sich genauso darüber freuen, wie der Rest seiner Angestellten.
Aber Kane...war noch nicht bereit.
Er bestellte stattdessen neue Ware, holte diese ab, erklärte mir neue Cocktails, machte die Buchhaltung...aber er bediente nicht.
Er kümmerte sich um alles Drumherum, aber der leidenschaftliche Barkeeper in ihm ging in den letzten Monaten irgendwo verloren.

Wieder riss Noah mich aus meinen Gedanken, als er ein paar Meter weiter über das Rauschen hinweg rief: »Mehr als das, Sky. Es soll richtig übel werden. Windwarnung, Platzregen, das volle Programm. Sogar Kane schläft heute Nacht sicherheitshalber bei uns. Lass uns zurück«

Ich erklärte Noah nicht, dass Kane seit einer Woche jede Nacht bei mir verbrachte und meine Eltern davon wussten.
Wenn Kane sich bereit fühlte, würde er es seinem Bruder sicherlich selbst erzählen.
Aber irgendwie sagte mir mein Bauchgefühl, dass Noah das bereits wusste...oder zumindest ahnte.

Noah strauchelte plötzlich und landete im Wasser, kletterte wieder auf das Brett und bewegte sich damit letztendlich Richtung Strand.

Ich dachte darüber nach, zu bleiben und paddelte keine Sekunde danach zügig meinem besten Freund hinterher.
Was für ein irrationaler Gedanke.
Stürme in South Carolina konnten übel enden und wenn der Wetterbericht sagte, es könnte übel werden...

»Wir hätten viel früher aufbrechen sollen«, stöhnte ich und holte Noah ein, bis wir nebeneinander auf unseren Brettern lagen und der Sand uns immer näherkam.

So ein Freitagnachmittag mit meinem besten Freund war zu einer solchen Seltenheit geworden, dass scheinbar nicht nur ich die Zeit vergessen hatte. Auch Noah seufzte missmutig und warf mir einen knappen Seitenblick zu.

Grinsend beschleunigte ich mein Tempo und wollte Noah abhängen, der sofort registrierte, was ich da vorhatte und nachzog.
Natürlich endete es in einem unfairen Wettkampf und irgendwann zerrte jeder von uns am Brett des anderen, um sich einen kleinen Vorsprung zu verschaffen.

Lachend watete ich zwei Minuten später durch das seichte Wasser und hörte es über meinem Kopf laut knallen, was mich nicht bremsen ließ.
Bei unseren Klamotten angekommen, griff ich nach den Handtüchern und warf Noah seines zu, das er geschickt auffing.

»Du kannst auch nicht fair bleiben, du Arsch«, lachte er locker und machte die Andeutung, mich mit seinem gelben Surfbrett zu verkloppen.

Ich feixte breit und trocknete mich weiter ab, Noah folgte meinem Beispiel, bis uns das Klingeln von seinem Handy unterbrach.

Noah ließ sein Brett in den Sand fallen, warf sich das Handtuch geschmeidig über die trainierten Schultern und griff nach seinem Smartphone.

Glücklicherweise stellte er es auf Lautsprecher, stillte damit meine Neugierde und ich trat näher zu ihm.

»Dad? Was gibt's?«, wollte er wissen und sah mich dabei forschend an. Meine Stirn legte sich in Falten, als ich sah, wie spät es war. Eigentlich müsste Simon gerade seinen ältesten Sohn von seiner vierten Therapiesitzung abholen.

»Ist Kane bei Skyler und dir? Ich fahre gerade durch die Gegend und suche ihn. Er war heute scheinbar nicht bei Mrs. Tyrell und Zuhause bei Lea ist er auch nicht. Meine Nachrichten kommen bei ihm nicht an, wahrscheinlich hat er sein Handy ausgeschalten«, drang Simons besorgte Stimme durch die Lautsprecher von Noahs iPhone.

Der Blondschopf und ich starrten einander an, mein Herz setzte einen Schlag lang aus und mein Hals war mit einem Mal ganz trocken.

Fuck.
Kane, wo bist du?

»Sky und ich sind noch am Strand, Dad. Aber Kane ist nicht hier«, berichtete Noah und sein Blick fiel auf etwas hinter mir.
Ich wusste, woran er dachte und ich nickte, bevor ich nach meinem eigenen Handy und dem Ladenschlüssel griff und dann zum Luna joggte.
Wir hatten nach unserer Schicht gleich hier gesurft und jetzt war ich verflucht dankbar dafür.

Während ich mit nassen Badeshorts dem Luna immer näherkam, rieb das Salz an meinen Oberschenkeln und fing fürchterlich an zu brennen.

Aber...es war egal, wenn ich mich wund lief. Ich wollte Kane finden.

Wie auf Knopfdruck dröhnte ein weiterer Donner laut über mir und der Stein in meiner Magengrube wurde immer schwerer.

Verdammt, Kane. Wo steckst du?

Bei der Bar angekommen, stellte ich fest, dass sie noch immer verschlossen war.
Dennoch sperrte ich auf, suchte nach ihm, schrie seinen Namen und rief anschließend an.
Sieben Mal wurde ich an seine dämliche Mailbox weitergeleitet. ›Hier ist Kane's Mailbox. Halt dich kurz, den Scheiß abzuhören ist nervig.‹

Ich stöhnte, legte auf, sperrte den Laden wieder ab und eilte zurück zu Noah, der unseren Kram zusammengepackt hatte und mir entgegenrief: »Dad war gerade am Leuchtturm, aber da war Kane auch nicht. Er holt uns ab...und Dad hat eine Befürchtung«

Stolpernd kam ich zwei Meter vor meinem besten Freund zum Stehen und erstarrte.

»Befürchtung?«, krächzte ich angespannt und mir schossen ganz, ganz fiese Bilder in den Sinn.
Kane würde so etwas nicht tun. Er würde nicht den Tod wählen. Das stand für ihn niemals zur Debatte.
Was also dann befürchtete Simon?

Noah schluckte und fuhr sich mit zittrigen Fingern durch sein nasses, blondes Haar. Sein Kiefer mahlte auf dieselbe Weise, wie sein Bruder es tat, wenn er voller Angst war.

»Wir haben ihren Geburtstag vergessen, Sky. Wir alle.«

Fuck.

Luna.

Ich bekam nur am Rande mit, wie Noah nach meiner Hand griff, mir zuvor mein Surfbrett in die andere Hand drückte und mich zu Simons Auto dirigierte.
Die Wolkendecke über uns brach und unsere halbnackten Körper durchnässten innerhalb weniger Wimpernschläge.

Simon begrüßte uns nicht – vollkommen untypisch – er verstaute unsere Bretter steif hinten in seinem riesigen Land Rover, wir stiegen ein und rasten anschließend Richtung...Friedhof.

Kane war bei seiner Mutter - wortwörtlich.

Mit dem Platzregen war es wirklich dunkel geworden. Man konnte die Straße nicht sehen und es herrschte im Auto absolutes Schweigen zwischen uns drei. Nur das stetige Prasseln begleitete unsere Angst um dieselbe Person.

Noah saß neben seinem Vater, ich starrte zwischen den beiden nach vorne und meine Gedanken überschlugen sich permanent.

Alles verschwamm zu einem unklaren Bild.
Einem unklaren Gedanken.

Das einzige, das nicht verschwamm, war Kanes Gesicht vor meinem geistigen Auge.

Der Motor war noch immer an und die Räder von Simons Wagen bewegten sich noch immer, als wir den Parkplatz des Friedhofes erreichten, da hatte ich mich aber schon abgeschnallt und war losgerannt.

Das Langarmshirt, welches ich mir während der Fahrt übergezogen hatte, war augenblicklich durchnässt.
Der Regen war im Vergleich zu dem noch recht lauen Wind, eiskalt.
Die Regentropfen waren wie kleine Steine.
Sobald sie auf die Haut trafen, tat es weh.

Trotzdem war mir so verflucht heiß und meine Beine trugen mich immer weiter, bis...bis ich eine einzelne, unscharfe kleine Gestalt erkannte und meine Schritte immer unsicherer und langsamer wurden.

Der Regen erschwerte mir die Sicht, weswegen ich erst erkannte, dass Kane vor der Grabstätte seiner Mutter saß, als ich hinter ihm stand.

Er bemerkte mich nicht, hörte mich wahrscheinlich auch nicht.
Er war klitschnass.
Seine braunen Locken kringelten sich wild, seine Klamotten lagen wie eine zweite Haut an seinem Körper und verschlimmerten den Anblick nur noch mehr.

In seinen Händen hielt Kane zwei überschwemmte Gläser mit jeweils einer Ananasscheibe am Rand.
Piña Coladas. Das waren sicherlich ursprünglich zwei Gläser voll mit Lunas Lieblingscocktail.

Ich schluckte und verfluchte mich dafür, dass mein Körper wie erfroren war. Ich hatte mich keinen Millimeter bewegt. Ihn nur angestarrt. Solange, bis ein großer Schirm über meinem Kopf auftauchte und ein zweiter schwarzer Schirm Kanes durchnässten Körper vor weiterem Regen schützte.

Dafür ist es ohnehin zu spät. Er zittert bereits. Wie lange er wohl schon hier sitzt? Ich habe ihn zuletzt heute Morgen gesehen, nachdem er mein Zimmer verlassen hat.
Gott, Kane.

Simon legte seine Hand auf meine Schulter, signalisierte mir, den Schirm in die Hand zu nehmen.
Ich folgte seinem stummen Befehl und sah ihm dabei zu, wie er sich mit dem zweiten Schirm zu seinem Sohn kniete.

Kane reagierte nicht.
Starrte das Bild von Luna am Grabstein an, als wäre er in einer anderen Sphäre.
Es verging eine Weile, bis Simon über den Lärm des Gewitters hinweg sagte: »Kane, du musst aufstehen. So holst du dir eine Lungenentzündung«

Kane sah bei den Worten seines Vaters auf, eines der Cocktailgläser fiel zeitgleich auf den Boden.
Es glich einem Wunder, dass dieses unbeschadet blieb.

Noah verweilte neben mir unter dem Schutz des Schirmes und fixierte seinen Bruder genauso ratlos an, wie ich.

»Sie wäre heute 49 geworden, Dad«, schoss es aggressiv von Kane zurück.

»Ihr habt sie alle vergessen. Was, wenn mir das auch passiert?«, fügte er hinzu. Seine Stimme klang dabei nicht mehr aggressiv. Sie hörte sich rau und traurig an.

Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper.

Noah und ich warfen uns einen Blick voller Überforderung zu, denn...er hatte recht.
Ich hatte keinen blassen Schimmer, dass heute Luna Millers Geburtstag war.
Sie wäre 49 geworden.
Und keiner - außer ihrem Sohn - hatte daran gedacht.

Beschämt verschränkte ich die Arme vor der Brust, der Schirm wackelte kurz und ein lautes Grollen erschütterte ganz Georgetown.

Simon legte den Arm um die Schultern seines Sohnes und zog ihn zu sich.

Ich blinzelte, beobachtete die beiden aufmerksam und wartete darauf, dass Kane ihn von sich schob.
Es passierte etwas völlig anderes.

»Ich werde Luna niemals vergessen, Kane. Sie war meine erste Liebe. Und du bist ihr Sohn. Du wirst sie nicht vergessen. Das verspreche ich dir«, hörte ich Simon Sinclair sagen, auch wenn ich es nur schwer verstand.

In dem Moment, als Kane die Arme um seinen Vater schlang...da war alles ganz friedlich.
Simon zog Kane noch dichter an sich und Kane gab keinen Mucks von sich.

Das zweite Glas ging zu Boden.
Ich hielt Noah den Schirm hin, er nahm diesen mit fragendem Ausdruck im Gesicht entgegen, woraufhin ich die Gläser aufhob, als eine Hand meinen rechten Unterarm umgriff und mich unterbrach.

»Skyler«, hörte ich meinen Namen aus seinem Mund und hielt im vollen Platzregen für Kane inne.

Wasser lief mir über das Gesicht, sorgte dafür, dass ich stark blinzeln musste und trotzdem bewegte ich mich kein Stück, auch wenn es wehtat.
Starrte stattdessen in seine dunklen Augen, lächelte kurz und wendete mich dann Lunas Ruhestätte zu.

Ich betrachtete die gepflanzten rosafarbenen Blumen, betrachtete den golden gravierten Grabstein mit ihrem Namen und ihren Daten.
Betrachtete das Zitat...
›Nur wer vergessen wird, ist tot. Du wirst leben.‹

Kurz zögerte ich, doch dann kamen die Worte klar und deutlich über meine Lippen.

»Happy Birthday, Luna«
Tut mir leid, dass ich in all dem Alltagsstress deinen Geburtstag vergessen habe.

Noah neben mir keuchte, aber Kanes Griff an mir wurde kurzzeitig stärker, dann ließ er mich wieder los.
»Danke«

Ich nickte Kane sanft zu und trat zurück zu Noah unter den Schirm.

»Alles Gute zum Geburtstag, Poppy«
Überrascht sah ich zu Simon, dessen Blick auch auf Lunas Grab gerichtet war.
Kane sah ihn genauso überrascht an, wie wir alle.

Poppy...so wie in ›Mohn‹?
Lunas Lieblingsblumen?

Kane schien genau zu wissen, warum Simon seine Ex-Frau so nannte, denn er lächelte dankbar und ließ sich von seinem Vater ein weiteres Mal umarmen.

»Lasst uns Nachhause fahren, Jungs. Luna würde nicht wollen, dass wir ihretwegen hier im Regen sitzen. Lasst uns stattdessen Zuhause auf sie anstoßen und ich erzähle euch eine Geschichte über diese tolle Frau«, meinte Simon an Kanes Schulter.

Lunas einziger Sohn zögerte.
Sah zu Lunas Grab und atmete mehrere Male tief ein.

Aber nach ein paar langen Minuten nickte er und mein Herz wurde schwer.
Kane Sinclair war eindeutig der Sohn dieser wunderbaren Frau.

• • •

Das ist mittlerweile Tradition
in meinen Werken,
wenn wir dem Ende entgegensteuern,
also...
starten wir den Countdown.

10

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top