Kapitel 76
Viel zu laut hörte man das Scharben, als ich den Bleistift über das Kästchen meiner Liste zog und in dieses ein Häkchen malte. Dann betrachtete ich zufrieden meine Packliste, die ich nun schon fast komplett abgearbeitet hatte. Nur noch die Zeile mit Schreibzeug besaß noch keinen Haken am Ende, weshalb sich mein Blick automatisch in Richtung des wie immer viel zu chaotischen Schreibtisches richtete. Zwischen meinem Biologie- und Mathebuch konnte ich irgendwie meinen Collegeblock ausmachen, weshalb ich mich von meinem Bett und somit auch dem offenen Koffer entfernte und in Richtung Schatz wanderte.
Nur noch zwei Tage und ich würde im Flieger sitzen, um einmal die halbe Welt zu überqueren. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich im letzten Jahr genau so vor meinem Koffer gesessen hatte um die Stunden bis zum Start zu zählen. Damals war ich deutlich aufgeregter gewesen. Mein erster Flug und dann bis hinüber in die USA? Es war ein Abenteuer gewesen, auf welches ich mich durch und durch gefreut hatte.
Auch dieses Mal trug ich ein Lächeln bei dem Gedanken an meine kommende Reise auf den Lippen. Gleichzeitig aber zog auch das Heimatsgefühl an mir. Und das definitiv stärker, als beim letzten Mal.
Schnell schüttele ich einmal kurz den Kopf, um diesem zu ermöglichen, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Alles, was ich wollte, war eben diese Packerei zu Ende zu bringen und nicht wieder in Gedanken abzudriften.
Schnell fegte ich mein Chaos beiseite, um an das entsprechende Papier zu gelangen, stopfte noch ein paar Stifte in ein Mäppchen und schnappte mir beides, um es zusammen in Richtung Koffer zu tragen. Das ich den Collegeblock dabei hätte etwas fester halten sollen, bemerkte ich jedoch erst, als mir die ganzen losen Blätter bereits auf den Boden gesegelt waren.
Ein Schnauben klang durch den leeren Raum, während ich mich auf meinen Teppich kniete, um die Aufschriebe wieder einzusammeln. Zunächst hatte ich dabei lediglich versucht, die Blätter einigermaßen gerade und knickfrei aufeinander zu stapeln, als meine Finger jedoch auf einmal etwas viel kleines und glänzenderes in der Hand hielten, stockte ich.
Mein Blick fiel auf das Bild, welches sich nun in meiner Hand befand. Ich erinnerte mich noch gut an den Moment, in welchem es geschossen wurde. Es war einer der Abende gewesen, in welchen ich meine Gedanken einfach nicht hatte abschalten können. Und obwohl ich Jimin immer wieder versichert hatte, dass alles in Ordnung sei, stand dieser auf einmal mit meiner Jacke in der Hand vor mir und meinte, ich solle jetzt mitkommen. Zu Beginn hatte er mich noch eher missmutig mit sich mitziehen müssen. Je näher wir jedoch der Steinecke im Park gekommen waren, je einfacher hatte ich es meinem Exfreund gemacht.
Es war ein schöner Abend gewesen. Nur Jimin und ich, wie wir uns den Sonnenuntergang angeschaut hatten und gleichzeitig übers Leben philosophierten. Am Ende hatte mich der Silberhaarige wieder durch die Straßen ziehen müssen. Dieses Mal allerdings, da ich nicht wollte, das dieser Moment schon vorbei seien sollte.
Meine Hand holte beinahe von alleine aus, als ich mir sachte gegen den Kopf schlagen wollte, um diese dämlichen Gedanken aus meinen Gehirn zu vertreiben. Bevor sie diesen Plan jedoch durchführen konnte, stockte ich abermals.
Wieso konnte dieser Junge nicht einfach aus meinen Gedanken verschwinden. Wieso mussten er, Kookie und Tae immer wieder in meinem Kopf herumspuken? Konnte ich nicht einfach mal einen Knopf drücken und der ganze Mist würde in eine Schublade irgendwo in einer Ecke verschlossen werden, bis ich die Nerven hatte, mich damit zu beschäftigen?
Wie es aussah, würde mir letzterer Wunsch wohl nicht erfüllt werden.
Frustriert lies ich mich nach hinten auf den Rücken fallen. Das Bild schwebte noch immer über meinem Gesicht. Ein leichtes Lächeln bildete sich auf meinen Lippen, als ich uns beide betrachtete. Jimin hatte seinen rechten Arm um mich geschlungen, während er in seiner anderen Hand das Handy hielt. Im Hintergrund beschien uns die letzten Strahlen der Sonne, was die eigentlich silbernen Haare des Jungen beinahe Orange aussehen lies. Ich mochte das Foto. Als ich mit Suji in die Stadt gegangen war, um mir Bilder für mein Zimmer auszudrucken, war es das erste gewesen, welches der Automat ausgespuckt hatte. „Halleluja, ich wusste gar nicht, dass dieser Typ so unglaublich kitschig seien kann", hatte meine Freundin das Foto kommentiert, sobald sie es in den Händen gehalten hatte. Erst hatte ich nur gelacht, dann aber meinen damaligen Freund verteidigt.
Ich lies das Bild sinken. Es waren zu viele Erinnerungen, die in mir aufploppten, sobald ich es ansah. Zu viele Erinnerungen an Jimin, aber auch an Tae und Kookie. Unsere gemeinsamen Übernachtungen mit einem Filmmarathon nach dem anderen, eine halbe Überschwemmung in Taehyungs Küche, als wir Cocktails mixen wollten oder die Wasserschlacht durchs gesamte Haus, in welche wir auch Suji involviert hatten.
„Denkst du, es war die richtige Entscheidung?", kam mir abermals Sujis Worte in den Sinn. Und je mehr ich darüber nachdachte, je schwerer viel es mir, auf die Frage eine klare Antworte zu geben.
Kurz schielte ich hinüber zu meinem Nachttisch, auf welchem ordentlich in Briefumschlägen die Texte für die beiden Jungs verstaut waren. Dann richtete sich mein Blick wieder an die Decke.
War es denn die richtige Entscheidung gewesen? War das alles hier richtig? War ich bereit, Seoul, meine Freunde, das ganze hier hinter mir zu lassen? Konnte ich ohne noch groß zu zögern den Vertrag mit der DAN unterschrieben? Oder konnte ich es nicht? War das alles hier vielleicht gar nicht so richtig, wie ich es mir einreden wollte? Hing ich noch zu sehr an meinen Freunden und meiner Heimat? Wen würde ich vor was stellen? Was war mir wichtiger? Und wie weit für ich für wen oder was gehen?
Einen Moment lag ich einfach still da. Dann schmiss ich das verfluchte Bild von mir, um meine Finger dafür zu nutzen, mir grob durch die Haare zu gehen. Ein Schrei entwich meiner Kehle. Ein Schrei voll mit meinen Gedanken, Problemen und Ängsten.
Es tat gut, dieses etwas in mir einfach einmal los zu lassen. Dieser Moment, in welchem mein Schrei wieder verstummte und ich nur regungslos am Boden lag, während sich meine Brust schnell auf und ab hob, schien, wie der befreiendste seit langem.
Doch auch dieses Gefühl verschwand wieder. Und das viel zu schnell, als das es mir lieb war. Ich versuchte diese Erleichterung in mir festzuhalten, sie zu mir zu ziehen und nie wieder loszulassen, doch es war, als rutschte sie einfach zwischen meinen Fingern hindurch. Nicht lange und sie hatte mich völlig verlassen.
Zurück blieb der Berg der Unsicherheit, der sich, je länger ich hier lag, immer mehr in mir ausbreitete. Was machte ich eigentlich hier? Was war mir das wichtigste? Was wollte ich eigentlich?
Es war egal, wie angestrengt ich versuchte, über diese Fragen nachzudenken. Ich kam auf keine Antwort. Ich wusste es einfach nicht.
Eine Zeit lang starrte ich einfach die weiße Decke an. So, als könne sie mir eine Antwort auf all' meine Fragen geben. Aber das tat sie nicht - natürlich nicht. Und doch began etwas in meinem Gehirn, sich zu regen. Vielleicht wusste ich nicht, mehr, was ich eigentlich wollte, allerdings kannte ich jemanden, der mir bei solchen Fragen früher immer geholfen hatte.
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