Kapitel 60

Weiße Bilderrahmen, auf weißen Wänden, neben weißen Türen.

Selbst wenn ich nicht gewusst hätte, wo wir hier waren, wäre es für mich nicht schwer gewesen den Ort als eine Klinik zu identifizieren. Und doch musste ich zugeben, dass das Gebäude, trotz seiner schlichten Farbwahl, etwas schönes, modernes an sich hatte. Ja, es war immer noch eine Klinik und das war auch gut zu sehen, aber wenn man schon in eine musste, dann gehörte diese definitiv zu einer, in der man sich einigermaßen Wohl fühlen konnte.

Dennoch war es nicht leicht gewesen, durch die gläserne Schiebetür zu treten. Noch schwerer, die langen Gänge entlangzulaufen. Und jetzt, wo ich vor der entsprechenden Tür stand, war der Drang, einfach umzudrehen und wegzulaufen, so groß, wie noch nie.

Lange hatte ich diesen Moment hinausgezögert. 5 Tage. Die gesamte Schulwoche. Bis heute. Bis Freitag. Erstmal hatte ich meinen Fokus drauf gelegt, einen anständigen Tagesrhythmus zu finden. Dazu hatte auch gehört, meinen Freunden von dem Tod meiner Mutter zu erzählen. Und auch wenn die beiden mein Geheimnis gut aufgenommen hatten - sogar Jungkook hatte mich, entgegen meiner Vorstellungen, in den Arm genommen - war mir auch die Stummheit und der Todesblick des Jüngsten an Jimin, der glücklicherweise dabei gewesen war, nicht entgangen. Was war nur los mit ihm...?

"Alles okay?" Eine Stimme neben mir riss mich aus meinen Gedanken und richtete meine Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt. Über Jungkook würde ich mir ein anderes Mal noch Gedanken machen müssen. "Ich... ich hab angst", gab ich stotternd zu, was meinen Gegenüber nur veranlasste, um mich in eine Umarmung zu ziehen. "Du schaffst das."

Noch einmal seufzte ich tief, versuchte meinen Kopf von allen unnötigen Gedanken zu befreien und konzentrierte mich auf das bevorstehende. Vorsichtig machte ich die letzten Schritte auf das wie Holz zu. Dort drehte ich mich noch einmal um und musste zu meiner Überraschung feststellen, dass mir meine Begleitung nicht gefolgt war. "Ich warte hier auf dich." Der Silberhaarige lächelte mir aufmuntern zu. Und auch wenn es meiner Angst vermutlich lieber gewesen wäre, wenn Jimin mitgekommen wäre, wusste ich, dass es richtig war, dass ich diesen Schritt alleine ging.

Mit einem letzten Nicken legte ich meine Hand auf die kühle Klinke und öffnete die Tür.

Im Zimmer war es kalt. Viel kälter als auf dem Gang. Als ich meinen Blick durch den Raum schweifen lies, erkannte ich auch, woran das lag: Das Fenster war sperrangelweit geöffnet und die kühle Herbstluft zog durch dieses hindurch.

Ich drehte meinen Kopf ein Stückchen nach rechts. Holte den eigentlichen Mittelpunkt dieses Treffens in mein Blickfeld.

Er hatte mich noch nicht bemerkt. Jedenfalls schien es so. Und seiner liegenden Position zu urteilen, konnte er mich durch seine Perspektive auch gar nicht sehen.

"Hallo."

Meine Stimme war leise, vorsichtig. Doch in dem leeren Raum war es, als hallte sie undurchdringlich durch meine Gehörgänge.

Bewegung kam in die Person vor mir. Langsam, ganz langsam setzte er sich auf. So, dass er mich sehen konnte. Ein Lächeln zierte sein Gesicht. Nur ein ganz ganz kleines. Aber es war da.

Ich wusste nicht, wieso. Mein Körper reagierte einfach von alleine. Langsam machte ich einen vorsichtigen Schritt nach hinten. Die Angst hatte mich gepackt.

Aber wieso?

Das war doch mein Vater... oder...? Er... er würde das doch nicht noch einmal machen... oder...? Sonst wäre er doch nicht in die Klinik gegangen... oder...?

"Du musst keine Angst haben." Diese war mir wohl förmlich anzusehen. Und es tat mir Leid. Ich WOLLTE nicht Angst vor meinem eigenen Vater haben und doch... konnte ich nicht leugnen, dass es genau so war. Und diese wurde zu meinem Bestürzen auch noch größer, als der Mann vor mir seine Arme hob...

...oder heben wollte.

"Siehst du", mein Vater zog kräftig an den Stoffbändern um seinen Handgelenken, die ihn am Bett hielten, "Ich habe die Pfelegerinnen gebeten, sie mir zu geben, wenn du kommst... zur Sicherheit." Das letzte fügte er ganz leise noch hinzu, doch genau wie bei meinem "Hallo", war es, als würden diese Worte am lautesten durch den Raum dröhnen.

Irgendwie schaffte ich es, mich aus meiner Starre zu lösen und ein, zwei vorsichtige Schritte auf den Mann, der mir immer so vertraut vorkam, zuzumachen. Es war komisch. Niemand sagte etwas. Ich sah zu ihm. Er zur Tür. Er traute sich nicht, mich anzusehen, dass konnte man spüren.

"Danke."

Kalt. Ich blieb einfach kalt. Nichts regte sich in meinem Gesicht. Mein Vater sprach einfach weiter. Er hatte es vermutlich nicht einmal gemerkt. "Danke, dass du es geschafft hast, mich hierherzubringen. Damit hast du etwas geschafft, was ich von allein nicht mehr konnte." Wieder beherrschte für einen Moment die Stille die Situation. Ich wusste einfach nicht, was ich darauf sagen sollte.

"Das war Jimin", sprach ich schließlich meinen einzigen Gedanken aus. Mein Vater nickte. Noch immer blickte er zur Tür. Doch jetzt hatte sich wieder dieses kleine Lächeln auf seinen Lippen gebildet. "Er ist dein Freund, nicht wahr?" Ich nickte nur, was mein Vater nicht sehen konnte. Doch er brauchte auch gar keine Antwort. "Er ist ein guter Junge."

Stille. Wieder einmal erwiderte ich nichts. Es viel mir schwer, über Jimin zu reden. Es viel mir schwer, ihn so richtig einordnen zu können. Wir waren zusammen, das war ein Fakt. Dem hatte ich zugestimmt. Aber was ich für ihn fühlte, wurde dadurch trotzdem nicht beantwortet.

Jimin wusste das. Jedenfalls glaubte ich es. Ausgesprochen hatte ich es nie. Aber ich lernte, ihn einzuschätzen. Und so, wie ich das tat, war er schlau genug, um mich zu verstehen. Bis jetzt war noch immer er der einzige, der "ich liebe dich", sagte, noch immer war er derjenige, der die meisten Küsse einleitete. Nur, dass ich diese jetzt erwiderte, ich lies mich auf sie ein, ich lies mich auf IHN ein. Was am Ende dabei rauskommen würde, stand noch in den Sternen.

"Dann wohnst du jetzt also bei ihm?", fuhr mein Vater nach der langen Schweigepause fort. "Ja, das funktioniert gut." Das tat es wirklich. "Ich bin froh, dass du ihn hast." Die ganze Zeit wirkte der Mann vor mich nicht ganz bei Sinnen. Ein bisschen verirrt, wie in seiner eigene Welt. Dennoch schien das, was er sagte, aufrichtig zu sein.

Und doch... er wirkte besser... jedenfalls besser als zuvor... Ein kleines Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht. Vielleicht würde ja doch alles gut werden.

"Wirst du wiederkommen?" Schlussendlich drehte sich der Kopf meines Vaters zu mir. Ich nickte. Das leichte Lächeln blieb. "Ja. Ja, ich komme wieder."

Auch er lächelte. Wenn auch ein bisschen neben der Spur. Es war ein schöner Moment. So ruhig und doch sagte er so viel aus.

"Es tut mir Leid."

Es war schön das zu hören. Es machte vieles zwar nicht rückgängig, aber es half. Es half mir psychisch. Wieder nickte ich. Mehr wollte ich dazu nicht sagen.

"Vielleicht... vielleicht können wir das nächste mal etwas mehr reden, wenn... wenn ich etwas wacher bin." Er hatte recht. Mein Vater wirkte nicht, als hätte er genug Aufnahmekapazität, um sich viel anzuhören. "Ist gut."

Noch einmal winkte ich. Es war ein stummer Abschied. Doch irgendwie passte er zur Situation. Auch mein Vater hob die Hand - so weit er eben konnte.

Es war beinah noch merkwürdiger als vorher, als ich wieder auf dem weißen Gang stand. "Und?" Das Silber seiner Haare glänzte förmlich zwischen dem ganzen weiß, als Jimin auf mich zu schlenderte. "War gut... etwas merkwürdig... aber gut." Ich zwang mich zu einem kleinen Lächeln. Nicht, um etwas zu überspielen, es fühlte sich einfach richtig an.

Auch Jimin lächelte, zog mich in einen kurzen Kuss und lief danach mit mir zurück durch den endlos wirkenden Gang. Erst, als wir das von außen so unscheinbar wirkende Gebäude verlassen hatten, blieben wir wieder stehen.

"Sehen wir uns dann heute Abend?" Lächelnd sah ich Jimin an. Einen Moment überlegte ich, bevor ich einfach meinen Gedanken aussprach. "Du kannst auch mitkommen." Meinem Freund entwich ein kurzes Lachen. "Tut mir Leid, Kleines, aber das lassen wir mal lieber." "Okay." Ich versuchte so zu klingen, als würde, es mir nichts ausmachen, doch innerlich hatte ich auf eine andere Antwort gehofft.

Das schien auch mein Gegenüber gemerkt zu haben. "Du weißt doch, dass ich mit Suji nicht so gut klarkomme." Ich nickte. Das war mir durchaus bewusst. "Wer weiß, vielleicht werdet ihr noch richtig gute Freunde." Wieder leicht lachend gab mir der Silberhaarige einen kleinen Schubser, während er den Kopf schüttelte.

„Ich hab dir auch eine Chance gegeben", versuchte ich weiter, meinen Freund zu überzeugen, während ich mich an seiner Hüfte an ihn heranzog, sodass uns nornoch wenige Zentimeter trennten.

"Das hat aber viel Überzeugungskraft gebraucht, wenn ich mich recht erinnere." Nun schlich sich auf mein Gesicht ein Grinsen. "Dann wäre es doch gelacht, wenn ich das mit den richtigen Mitteln nicht auch bei dir schaffe." Mir war bewusst, in welche Richtung ich dieses Gespräch provozierte und ich musste zugeben, es machte Spaß, den Älteren auf diese Weise zu ärgern. Und nicht gerade zu meiner Überraschung ging mein Ärger-Opfer auch komplett auf die Anspielung ein. "Na da bin ich ja mal gespannt", raunte er an meinem Ohr, woraufhin ich mich ebenfalls zu seinem herüberlehnte. "Kannst du ruhig sein." Und um meine Aussage zu unterstreichen, hauchte ich meinem Freund auch noch einen Kuss an die Stelle, an der ich mich gerade befand, bevor ich mich leicht lachend von ihm löste.

Als sei nichts gewesen, machte ich ein paar Schritte vom Silberhaarigen weg. Doch bevor ich mich komplett zum gehen wendete, winkte ich meinem Freund noch einmal zu. "Na dann, bis später." Lachend drehte ich mit um.

Mein Ziel?

Waffelessen im vermutlich besten Café mit meiner nicht nur vermutlich besten Freundin.

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