Kapitel 58
Tief atmete ich ein. Dann aus. Einmal. Zwei Mal. Und noch ein abschließendes drittes Mal.
Noch nie war ich so nervös gewesen, als ich diesen Raum betreten hatte. Selbst, als ich das erste Mal in meinem Leben vor ihm stand, dass war kurz nachdem ich bei der Tanzschule angenommen wurde - also mit 5 Jahren - war alles, was ich gespürt hatte, pure Freude gewesen. Und jetzt... 12, beinahe 13 Jahre später traute ich mich nicht, die Tür zu denen mir mittlerweile so bekannten vier Wänden zu öffnen.
Vorsichtig hob ich meine Hand, lies sie dann allerdings in der Luft schweben. Sollte ich anklopfen? Oder einfach eintreten?
Verunsichert führte ich meine flache Handfläche nach vorne, bis diese das hellbraune Holz der dicken Tür berührte. Ein paar Sekunden, die sich anfühlten, wie Minuten, lies ich sie einfach dort liegen, bevor ich sie herunter zu dem silbrigen Türgriff gleiten lies. Ob man das Wischen auf der anderen Seite hören würde, war mir gleich.
Dann drückte ich den Hebel herunter, machte meiner bevorstehenden Herausforderung den Weg frei. Schnell huschte ich durch den entstandenen Spalt und schloss diesen hinter mir wieder.
Mit einem schnellen Blick stellte ich sicher, dass auch der Protagonist meines Überwindungsproblems anwesend war. Und noch nie hatte ich diesen besagten Protagonisten so wütend gesehen, als er mich erblickte.
"Was willst du hier?" Seine Stimme war messerscharf. Es war keine besorgte Frage, es hörte sich nicht interessiert an... Es war deutlich zu erkennen... er wollte mich nicht hier haben.
"Keine Sorge, ich bin nicht zum Tanzen hier." Die Miene des Amerikaners entspannte sich. Ein überraschte und zugleich etwas besorgter Blick machte sich auf seinem Gesicht breit. "Was ist los?" Tony wirkte nicht mehr sauer, seine Stimme hatte den ruhigen, rauen Ton angenommen, den ich vom Älteren gewohnt war.
"Wir müssen reden", brachte ich die Sache direkt auf den Punkt, "Es geht um die Academy in New York." Mit einem schnellen Blick auf seine Uhr vergewisserte sich mein Tanzlehrer, dass er genug Zeit hatte, bis seine Pause zu Ende war und der nächste Schwarm motivierter Tanzschüler in den Raum strömen würde, bevor er mir mit einem Nicken zu verstehen gab, dass ich näher kommen sollte.
Gemeinsam setzten wir uns auf den kühlen Boden des Tanzsaales. Ich war froh, dass ich mit dem Rücken zum Spiegel saß. Mich bei dem Gespräch anschauen wollte ich nun wirklich nicht. Den Job musste Wohl oder Übel mein Tanzlehrer übernehmen.
"Schieß los, was haben deine Eltern gesagt?" Man konnte Tonys Stimme anhören, dass er mit guten Neuigkeiten rechnete und es tat mir Leid, diese zu zerstören. "Es... es ist kompliziert", fing ich vorsichtig an, was dem Braunhaarigen allerdings schon zu reichen schien, um zu verstehen, in welche Richtung dieses Gespräch gehen würde. Trotzdem blieb mein Gegenüber stumm und deutete mir lediglich mit einem ernsten Nicken, fortzufahren.
Ich seufzte noch einmal tief, bevor ich began, zu erzählen. "Es... es ist momentan nicht ganz einfach bei mir zuhause. Meine... meine Mutter...", noch einmal versuchte ich mich mit einem tiefen Atemzug zu beruhigen, "sie ist vor kurzem gestorben." Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, brauchte ich auch schon wieder eine kurze Gesprächspause, was auch Tony zu gute kommen schien, welcher die neue Information erst einmal auf sich wirken lassen musste.
Sobald er diesen Punkt auf seiner to do Liste abhaken konnte, beugte er sich nach vorne, um mich in seine Arme zu schließen. "Das tut mir Leid." Ich blieb still. Ich wollte nicht weinen. Nicht schon wieder. Doch ich wusste, dass wenn ich jetzt etwas sagen würde, ich dies nicht mehr aufhalten könnte.
Die Umarmung, egal, wie kurz sie war, tat gut. Nicht einmal, weil ich sie gebraucht hatte, sondern vor allem, da sie mir Zeit gab, um mich erneut zu sortieren.
"Naja, jedenfalls... also... angesichts dessen... ich habe es noch nicht geschafft, meinen Vater zu fragen. Ich... ich wollte ihm einfach nicht sagen müssen, dass ich auch noch aus seinem Leben gehen... wenn auch nicht für immer..." Zum Ende hin wurde ich immer leise, dennoch für meinen Tanzlehrer gut hörbar.
Eine Hand legte sich auf die in meinem Schoß. "Das ist okay, Yuna. Ich kann das verstehen. Und ich kann jetzt auch verstehen, weshalb du so oft im Training warst." Ich musste mir ein ironisches Auflachen verkneifen. Wenn der wüsste...
Aber es war egal. Hauptsache, Tony hatte für sich eine Begründung gefunden. Es war nicht fair, es war nicht die Wahrheit, das war mir bewusst. Und doch konnte ich nicht anders, als nur diesen Teil der Geschichte zu erzählen. Lange hatte ich mit Jimin am gestrigen Abend noch darüber diskutiert und die Tatsache, dass er gemeint hatte, es wäre in Ordnung, dass ich nicht alles erzählen würde, machte die Sache ein wenig einfacher.
Der Braunhaarige schien einen Moment in seinen Gedanken, bevor er schließlich wieder zum Reden ansetzte. "Yuna, hör zu. Ich verstehe dich, voll und ganz. Und ich werde dich mit deiner Entscheidung definitiv nicht unter Druck setzten. Aber die DAN wartet auf eine Antwort von dir." Ich nickte. Das hatte ich mir schon gedacht.
Doch anscheinend war mein amerikanischer Freund noch nicht fertig. "Allerdings bin ich mir sicher, dass sie deine momentane Lage verstehen würden. Wenn du mir dein "go" gibst, dann kann ich versuchen, durch den ein oder anderen Kontakt dir etwas mehr Zeit zu verschaffen und die eventuell einen Platz zu reservieren, der dann nurnoch bestätigt werden müsste."
Ich brauchte einen Moment, um das Angebot zu realisieren. Tony würde den Leuten von meiner Mutter erzählen müssen... allerdings würde mir somit alles ein wenig erleichtert werden... Und außerdem... meine Mutter war tot. Für immer. Irgendwann würde ich mich sowieso damit abfinden müssen, würde es schaffen müssen, diese Tatsache auszusprechen, ohne Angst haben zu müssen, in Tränen abzubrechen und würde offen damit umgehen müssen. Also warum nicht jetzt damit anfangen...? War es nicht vielleicht sogar besser, wenn jemand anderes es den Leuten vor Ort erzählen würde...? Würde es alles nicht vielleicht sogar einfacher machen...?
"Okay." Ich nickte. Erst ganz langsam, dann etwas heftiger.
"Aber nur unter einer Bedinung." Interessiert sah ich meinen Gegenüber an. Was würde er für eine Bedingung stellen...? Würde ich sie annehmen können oder-
Meine Gedanken wurden unterbrochen. Tony lies mir keine Zeit am Zweifeln. "Kein Extratraining mehr. Du fährst deinen Körper wieder herunter, gönnst ihm einfach einmal eine Pause." Ich musste sogar etwas schmunzeln, als ich das hörte. Das würde sich ohne Einschränkungen einrichten lassen. Schließlich war mein Tanzlehrer ja nicht der erste, dem ich dieses Versprechen hatte geben müssen. Auch Jimin hatte auf eine solche Bedingung bestanden. Ich hatte also sowieso keine Wahl.
"In Ordnung."
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, umarmte ich den Braunhaarigen ein weiteres Mal, sobald wir beide uns aufgerichtet hatten. "Dann seh ich dich das nächste Mal mit den Mädels?", vergewisserte sich Tony noch einmal zum Abschluss, woraufhin ich meinen Daumen zur Bestätigung in die Luft streckte.
Bevor ich dann allerdings aus der Tür veschwand, drehte ich mich noch einmal zum Amerikaner um. "Ach Tony?", der Angesprochene sah mich fragend an, "kannst du... also... die anderen müssen es ja noch nicht wissen, okay?!" Dieses Mal war es der Junge vor mir, der zur Bestätigung seinen Daumen in die Höhe direkte. "Keine Sorge, von mir erfährt niemand etwas." Noch einmal zwinkerte er mir zu, sodass ich mich mit einem guten Gewissen umdrehen konnte und die schwere Holztür, die für mich soeben noch ein Hindernis dargestellt hatte, mit einer Erleichterung im Herzen aufdrücken konnte.
Und genauso erleichtert trat ich auch drei Etagen weiter unten aus dem großen Gebäude und sog förmlich die frische Luft in mich hinein. Sie war schon lange nicht mehr so warm, wie vor ein paar Wochen. Daran änderte auch die hell scheinende Sonne nichts mehr. Man spürte es, deutlich. Der Winter rückte näher. Langsam, aber sicher.
Das Klingen meines Handys holte mich aus meinen Gedanken. Als ich den Kontakt auf dem leuchtenden Bildschirm entdeckte, schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ich hatte Jimin noch garnicht umgespeichert, was bedeutete, dass ich nun den Anruf der sogenannten "Geistigen Null" annahm.
"Hey, was gibts?" Während ich anfing zu reden, setzten sich auch meine Beine in Bewegung. Ich hasste es beim telefonieren still zu stehen. Woran das lag, wusste ich auch nicht. "Eigentlich wollte ich ja fragen, wie euer Gespräch gelaufen ist, aber deiner Stimme nach zu urteilen, ist alles bestens", schlussfolgerte Jimin, was ich mit einem leichten Lachen kommentierte. "Jap, er hat es verstanden." "Bedeutet?", hakte mein Freund nach, was mich ein weiteres Mal kurz auflachen lies, bevor ich anfing das Geschehen zu rekonstruieren.
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