Kapitel 56
Yunas Sicht:
Stille herrschte zwischen uns, als wir durch die bereits verlassenen Straßen Seouls strichen. Es war keinesfalls eine unangenehme Stille. Jedenfalls für mich nicht. Wobei ich sowieso mit den Gedanken ganz bei mir selbst war.
An diesem Wochenende war zu viel passiert, als das ich es bislang geschafft hatte, einmal so richtig in meinen Gedanken aufzuräumen. Und das war angesichts der momentanen Situation dringendst nötig.
Ich wusste nicht so ganz, was ich von der ganzen Situation halten sollte. Ja, Jimins Idee war allemal besser als die Variante, zur Polizei zu gehen, aber was, wenn etwas schief gehen würde...? Und wie sollten wir meinen Vater überhaupt in diese anonyme Klinik bekommen...? Was, wenn er sich strikt weigern würde...? Wenn er sich gar nicht helfen lassen wollen würde...? Wenn er nie wieder er selbst werden würde...?
Jimin hatte gemeint, ich solle mir darüber keine Gedanken machen. Er kenne schon die richtigen Leute, die so etwas regeln würden. Aber was, wenn er nicht recht behalten würde...? Ich meine, wir sprachen hier immer noch von JIMIN!
Dem Jimin, vor dem ich bis vor ein paar Tagen noch Angst hatte, der mich vergewaltigt hatte, den ich abgrundtief gehasst hatte und...
welcher mir geholfen hatte...
Ich konnte diesen Jungen einfach nirgendwo mehr einordnen. Ich wusste nicht, was ich von ihm hielt, was ich ihm gegenüber fühlte. Denn egal, was er in der Vergangenheit getan hatte, ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich OHNE ihn in den letzten Tagen gemacht hätte. Vielleicht war er ja gar nicht so ein Arschloch, wie ich immer gedacht hatte... aber war ich bereit dazu, ihm so manches zu verzeihen...
...und WOLLTE ich das überhaupt...? WOLLTE ich diese gut errichtetet Mauer um mit herum kaputt machen...? WOLLTE ich ihn an mich heran lassen...? WOLLTE ich Jimin mögen...?
Oder tat ich das bereits...?
Es war so kompliziert! So verdammt kompliziert! Und ich wusste nicht, wie ich einen Weg aus diesem Gedankenchaos finden sollte. Da war niemand, der mir sagte, wo ich lang zu gehen hatte. Kein Google maps, welches einem mit wenigen klicken den richtigen Weg zeigte. Keine Freundin, die ich in meiner verlaufen Panik anklingeln könnte.
Nein. Das war eine Entscheidung - oder ein Berg von Entscheidungen - die ich alleine treffen musste. Und ob es die richtige seien würde, würde ich auch erst am Ende meines Weges herausfinden.
Heute war Sonntag. Das bedeutete, dass es auch für mich morgen wider in die Schule gehen würde. Ich würde einen NORMALEN Schultag durchleben müssen. Ich würde so tun müssen, als sei alles ganz NORMAL... obwohl es das nicht war...
Wobei... was bedeutete NORMAL für mich in den nächsten Tagen überhaupt...?
Ich würde bei Jimin wohnen - ein weiterer Punkt, bei dem ich nicht wusste, was ich von ihm halten sollte. Ich würde in die Schule gehen. Ich würde ins Tanzen gehen. Ich würde meinen Vater in der Klinik besuchen. Ich würde über mein Leben nachdenken.
Und alleine mit dem letzten Punkt würde ich wohl mehr als genug zu tun haben...
"Worüber denkst du nach?" Ich wollte schon zu einer Antwort ansetzten, doch kaum hatte ich den Mund geöffnet, stockte ich. Da war etwas. Naja... wohl eher NICHT. Ich war schon so gewöhnt an Jimins dämliche Spitznamen, dass es irgendwie merkwürdig klang, wenn er sie nicht hintendran hängte. So, als fehlte etwas.
Schnell schüttelte ich den Gedanken wieder ab. Sollte ich mich nicht eigentlich darüber freuen, dass er es lies...? Aber warum tat ich das dann nicht. "Über alles", brachte ich schließlich meine Antwort heraus. "Mach dir nicht zu viele Gedanken. Wr kriegen das schon hin."
Wir...
immer sagte er, WIR würden das hinbekommen... Er war überzeugt davon, mir zu helfen. Aber warum tat er das...? Man konnte ja nicht gerade sagen, dass wir etwas, wie eine glückliche Beziehung geführt hätten. Und doch war er für mich da... Wieso?!
Und wieso machte mich das irgendwie glücklich...?!
Ein Druck an meiner Hand holte mich abermals aus meinen Gednaken, die vemutlich gerade einem zusammengebrochenem Haus glichen. Es war nichts ungewöhnliches, dass der Silberhaarige nach meiner Hand griff, weshalb ich dem Körperkontakt kaum Beachtung schenkte und einfach weiterlief. Oder laufen wollte...
Ehe ich auch noch ein Schritt in die meiner Meinung nach richtige Richtung setzten konnte, ging ein Ruck durch meinen linken Arm, der mich näher zu dem auf dieser Seite laufenden Koreaner verfrachtete, wodurch dieser nun seinen Am um meine Hüfte schlang und mich somit mit sich um die Ecke zog.
Verwirrt sah ich zum Größeren hinauf, doch bevor ich meine Frage aussprechen konnte, beantwortete dieser sie von ganz alleine. "Ich möchte mit dir noch wo hin." Mit einem abgehackten Nicken wandte ich mich wieder ab und lenkte meinen Blick nach vorne.
Erst, als wir ein paar weitere Meter hinter uns gelegt hatten, viel mir auf, dass ich seine Aussage einfach so hatte stehen lassen. "Wohin?", rutschte es mir direkt heraus und erst jetzt stellte ich fest, was für ein Wunder es gewesen war, dass ich unser Ziel nicht direkt hinterfragt hatte, sondern es einfach akzeptiert. Nicht nur das. Ich hatte einfach darauf vertraut, dass es schon nichts Schlimmes seien würde.
Wann hatte ich angefangen, Jimin langsam aber sicher zu vertrauen...? Ich hatte es gar nicht mitbekommen, aber wenn ich jetzt zurückblickend auf die letzten Tage sah, viel mir auf, wie oft ich dem Silberhaarigen in dieser zeit einfach vertraut hatte... Und hatte ich es je bereut...?
Jimins helles Lachen gab mir den Tritt zurück in die Realität. Mein fragender Blick reichte wieder, um dem Älteren die Antwort auf meine unausgesprochene Frage zu entlocken. "Du bist echt süß. Frägst etwas und hörst dann nicht bei der Antwort zu." Welche Frage noch gleich...? In Gedanken ging ich unserer bisherigen Wortechseln noch einmal durch, bis ich an der entsprechenden Stelle angekommen war.
Stimmt... ich hatte ja wissen wollen, wohin es ging... Komisch, dass mein Gehirn diese Frage gleich ein zweites Mal als unwichtig abgestempelt hatte. Naja, wenn es mir gerade eben egal gewesen war, dann musste ich es jetzt auch nicht mehr wissen. Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. Ich würde schon sehen, wo wir hinliefen, wenn wir da waren.
Dieser Gedanke bestätigte sich, als ich wenig später den Han River erkannte und bemerkte, wie Jimin zielstrebig auf diesen zulief. Und genau, wie ich es erwartet hatte, lies sich der Silberhaarige am Ufer auf einer der Steinbänke nieder und zog mich zu sich herunter, weshalb auch ich mich im Schneidersitz neben ihn fallen lies.
Der Tag neigte sich langsam dem Ende. Die Sonne war noch nicht Untergegangen, aber ihr momentaner Stand zeigte, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie die Stadt in ein angenehem orangenes Licht tauchen würde. Und je tiefer der leuchtende Ball sank, je näher kam mir der nächster Tag.
"Es tut mir Leid."
Etwas erschrocken sah ich zur Seite. Nicht, weil Jimin etwas gesagt hatte, sondern eher verwundert über das, WAS es gesagt hatte.
Ich bekam keine Zeit, um nachzufragen, worauf der Silberhaarige genau hinauswollte, da dieser von ganz alleine weiterredete. "Alles, was ich getan habe. Ich...", er seufzte, "ich hätte das nicht tun dürfen. Ich hätte dich zu all dem nicht zwingen dürfen. Dazu hatte ich nie das Recht."
Noch immer waren meine weit aufgerissenen Augen auf den Jungen neben mir gerichtet. Ich hatte ja mit vielem gerechnet... aber damit...? Niemals.
Und wiedereinmal hatte ich Jimin völlig falsch eingeschätzt.
Wieso??? Wiso konnte er nicht einfach weiterhin dieses Arschloch sein??? Wieso konnte er nicht genaus so sein, wie ich immer gedacht hatte??? Wieso musste er auf einmal so nett sein??? Wieso konnte er mir nicht einfach einen Grund geben, ihn zu hassen??? Und wieso...
...freute ich mich ein wenig, dass er mir diesen nicht gab...???
Ich verstand die Welt nicht mehr. Alles in meinem Inneren spielet verrückt. Da war nichts mehr zu irgendetwas zu gebrauchen. "Denkst du...", setzte der Silberhaarige erneut an, "denkst du, wir können es mit einem Neustart versuchen?" Ich konnte die Hoffnung in seiner Stimme hören. Er verlangte nicht, dass ich ihm verzieh. Alles, um was er bat, war eine neue Chance... eine Chance es besser zu machen. Aber war ich bereit, ihm diese zu geben...?
Vor wenigen Tagen wäre das vermutlich der Moment, indem ich einfach "Nein" gesagt hätte und dann verschwunden wäre. Aber jetzt... Mit all dem, was passiert war...?
Ich seufzte. Ob ich ihm verzeihen könnte und würde, darüber würde ich wohl noch einmal stark nachdenken müssen. Die Frage konnte ich nicht auf die Schnelle klären. Und doch wusste ich, dass ich auf Jimins schon längst eine Antwort hatte.
Ich nickte. "In Ordung." Ich sah Jimin nur von der Seite. Und doch war sein Lächeln unverkennbar. "Danke", flüsterte er mehr, als das er sprach.
Es fühlte sich komisch an... einfach merkwürdig... dass ICH Park Jimin soeben eine zweite Chance gegeben hatte... Und doch spührte ich, dass es das richtige gewesen war... jedenfalls hoffte ich das. Allerdings gab es da noch eine ganz andere Frage zu klären, die sich in den Vordergrund meines Denkens geschoben hatte...
"Und... was...was sind wir dann?" Bekannte? Freunde? Ein Paar? Wie sollte man unser Verhältnis beschreiben...?
Wieder einmal konnte ich Jimin leicht lachen hören. "Naja, ich denke meine Antwort darauf kennst du", dann wurde er ziemlich ernst, "Es liegt bei dir. Du entscheidest." Na super. Das machte jetzt wirklich gar nichts einfacher. Mein Gehirn war doch sowieso schon viel zu überfordert mit so ungefähr allem. Wie sollte ich jetzt auch noch diese Frage beantworten sollen???
Ich dachte an die letzten Tage. Wie lieb Jimin zu mir gewesen war. Wie wohl ich mich bei ihm gefühlt hatte. Und ja... ich dachte auch an die vergangene Nacht. Wie... wie gut sich alles einfach angefühlt hatte...
Und dann dachte ich an all das zuvor... Wie mich Jimin zu alldem gezwungen hatte. Wie er über mich bestimmt hatte. Und... ich dachte an die ANDEREN Nächte. Wie... wie viel Angst ich gehabt hatte...
Neuanfang hatte Jimin gesagt... dazu gehörte auch, dass ich das Vergangene hinter mir lies. Und zwar... ALLES. Sowohl das schlecht, als auch das gute. Einfach von null. Ich sollte meine Entscheidung nicht von dem abhängig machen, was passiert WAR, sondern vom hier uns jetzt.
Fühlte ich mich unwohl? Nein. Fühlte ich mich falsch? Nein. Wollte ich am liebsten weg? Nein. hatte ich ein probelm damit, hier mit Jimin zu sitzten? Nein. Hatte ich in den letzten Stunden ein problem damit gehabt, bei ihm zu sein? Nein. Fühlte ich etwas für den Silberhaarigen...?
Jain.
Das war der Punkt. Ja, ich fühlte ETWAS für ihn. Aber nein, ich wusste nicht so wirklich, WAS dieses etwas war... Und so, wie mein Gehirn gerade arbeitete, würde ich es in den nächsten Minuten auch nicht herausfinden. Ich würde Wohl oder Übel einfach aus dem Bauch entscheiden müssen. Ob ich diese Entscheidung später bereuen würde, war eine andere Frage.
Ich richtete meinen Blick auf den Silberhaarigen. Erst dadurch viel mir auf, dieser mich die ganze Zeit von der Seite aus angeschaut hatte, was bedeutet, dass ich ihm nun direkt in seine Augen schauen konnte. Sie wirkten so... so offen. Er gab mir gerade eine riesige Möglichkeit, ihn theoretisch zu verletzten. Und er wusste das. Und doch vertraute er mir, dass ich dies nicht tun würde.
Noch einmal seufzte ich leise. Ich würde im Leben noch viele Riskien eingehen. Eines mehr oder weniger machte da auch keinen Unterschied mehr. "Dann lass es uns versuchen", flüsterte ich. Und bevor Jimin darauf irgendetwas erwidern konnte, hatte ich meine Lippen auf seine gelegt.
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Heyyy ihr Lieben❤️❤️
ich bin momentan mit meiner Freundin im Urlaub und habe meinen Laptop zuhause gelassen. Also wundert euch nicht, dass das Banner fehlt - die Update Zeiten bleiben natürlich trotzdem gleich.
Euch noch einen wunderschönen Samstag!
LG von der Nordsee😘
Nelxy 💗🤗
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