Kapitel 10
"Wo warst du schon wieder, huh?" Mein Versuch, sich unbemerkt an der Küche vorbeizuschleichen, war natürlich gescheitert. Mit gemischten Gfühlen betrat ich den angrenzenden Raum. "In der Schule, wo sonst." "Hm", erst brummte er nur vor sich hin, dann schüttelte er auf einmal den Kopf und wurde wieder lauter „Wirst du hier jetzt frech oder was?" Nicht verstehend, was so wirklich los war, machte ich reflexartig einen Schritt nach hinten. "Und jetzt auch noch verschwinden? Nenene, du ungezogene Göre bleibst schön hier." Geschockt starrte ich einfach nach vorne. Mein Gehirn wusste gar nicht, wo es anfangen sollte, die Informationen einzuordnen.
Mein Blick gilt hinüber zum Tisch. Da stand sie. Sie war leer. Hatte er sie alleine getrunken? Wieder? Wie gestern? Und den Tag davor? Würde er das jetzt öfters tun? Nahm es ihn so sehr mit? War das sein Weg mit der Situation umzugehen?
„Du gehst nicht auch noch", murmelte mein Vater vor sich hin, „Nicht du auch noch." „Dad?", versuchte ich vorsichtig den Mann vor mir anzusprechen. Langsam, ganz langsam kam mein Vater auf mich zu, bis er schließich vor mir stehen blieb. Den Alkohol hatte ich schon auf die Entfernung riechen können, aber jetzt war der Gestank wirklich unerträglich. "Wo bist du denn immer den ganzen Tag, huh?" "Trainieren", flüsterte ich mehr, als das ich wirklich sprach, doch er schien es trotzdem gehört zu haben. „Lüg mich nicht an." Ich schreckte bei der Lautstärke seiner Stimme zusammen. "Als ob du beinahe täglich drei bis vier Stunden trainierst. Verarschen kann ich mich selber." "Es ist die Wahrheit."
Ein hallendes Klatschen war zu hören. Geschockt hielt ich mir meine Wange. Nichts. Nichts an mir, nichts in mir konnte realisieren, was soeben passiert war. Nicht einen Muskel bewegte ich. Mein Augen waren nur auf ihn gerichtet. Kein Geräusch war zu hören.
Ich war nicht die einzige, die erst jetzt aufzuwachen schien. Als könnte er sie durch seine Blicke vom restlichen Köper abtrennen, starrte er auf seine Hand. Dann zu mir. Eine Träne lief seine Wange hinunter. Es schien, als sei er durch den Schock wieder zu sich gekommen, als hätte sich der Alkohol in seinem Blut aufgelößt, als wäre der Schleier, der sein Gehirn benebelt hatte, verschwunden. "Yuna, es..." Er machte einen Schritt auf mich zu, streckte seine Hand nach mir aus.
Mein Körper reagierte schneller, als mein Verstand. Ich wusste, er hatte das nicht gewollt, war nicht er selbst gewesen und es tat ihm Leid. All das konnte ich in seinem Blick sehen. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass er es getan hatte. Kaum hatte ich einen Schritt nach hinten gemacht, stoppte auch mein Vater in seiner Bewegung. Schockiert sah er mich an. Er schien zu realisieren, was er getan hatte. Traurigkeit, Enttäuschung und Selbsthass spiegelten sich in seinem Gesicht wieder, als er die Hand langsam sinken lies.
Ohne auch nur ein Wort zu sagen, drehte ich mich um, rannte in mein Zimmer, verschloss die Tür. Meine Hand hatte sich nicht von ihrere Stelle an meiner Wange hinfort bewegt. Erst jetzt nahm ich sie langsam runter. Mit ihr verschwand auch der Halt, welcher meine Tränen zurückghalten hatte, aus meinen Augen zu laufen. Ich weinte. Stumm. Meine Beine spürte ich nicht mehr. Langsam knickten sie ein. Ich glaube, ich rutschte an miner Tür herunter. Sicher war ich mir erst, als ich mich am Boden befand. Ich schloss meine Augen, hoffte, dadurch alles auszublenden, mich vor der Realität zu verstecken, abzutauchen in eine heile Welt. Aber sie sollte nicht kommen. Alles was mich hinter der schwarzen Fassade des Nichts erwartete, waren weitrere Schmerzen.
Flashback
Das Klingeln meines Handys lenkte meine Aufmerksamkeit auf dieses. Schnell entschuldigte ich mich bei meinen Freunden und nahm den Anruf ab. Es passierte selten, dass mich mein Vater anrief. Umso beunruhigter nahm drückte ich auf den grünen Hörer und hielt mir das Handy ans Ohr.
Yuna?" Ich konnte seine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung hören. Aber etwas war anders. Sie war nicht so stark wie sonst. Sie war ruhig, brechend und die Trauer war ebenfalls nicht zu überhören. "Ja", fragte ich vorsichtig. Ich wollte es nicht wissen. Alles in mir schrie, einfach wieder aufzulegen, alles dafür zu tun, dass ich nicht hörte, was ich schon längst vermutete.
„Du musst nach Hause kommen. Jetzt." "Was ist passiert?" Ich sprach sie aus. Die Frage, vor welcher ich soviel Angst hatte, aber die mich trotzdem so brennend interessierte, dass ich mich überwand und sie stellte. "Deine Mutter, sie..." Er brach ab. Ich hörte sein Schluchzen. Eigentlich wusste ich jetzt schon, was passirt war, aber ich wollte es nicht wahr haben. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. "Ist sie...?" Auch ich traute mich nicht es auszsprechen.
„Bitte komm einfach so schnell wie möglich nach Hause, ja?" Stumm nickte ich. Das er das nicht sehen konnte, vergaß ich. Stören schien es ihn jedoch auch nicht. Jedenfalls sagte er nichts. Vermutlich war er ähnlich in Gedanken versunken, wie ich."Ich bin gleich da", verabschiedete ich mich, mit gebrochener Stimme. Auf eine Antwort wartete ich gar nicht mehr. Ich war mir auch nicht sicher, ob sie überhaupt kommen würde. Ich würde es nie erfahren. Ich hatte schon längst aufgelegt. Langsam lies ich das Handy sinken. Eine Träne rollte meine Wange hinunter. Warum? Warum sie?
Vorsichtig drehte ich mich zu den Jungs zurück. Es kam nicht selten vor, dass wir gleichaltrigen von der Tanzschule nach dem Training gerne noch draußen zusammenstanden Und da ich heute das einzige Mädchen gewesen war, hatte ich mich ihrem Vorhaben, zum Skeaterpark zu gehen, fügen müssen. Jetzt bereute ich die Entscheidung. Wäre ich nicht einfach auch gegangen.
„Ich... ich mus los." "Yuna, was ist passiert?" Jae machte sich nur Sorgen um mich, dass war mir klar, aber ich konnte ihm gerade nicht antworten. Mit einem kurzen Handzeichen verabschiedete ich mich von den Jungs. Ich wusste, dass würde ihnen nur noch mehr Sorge bereiten, doch drauf konnte ich gerade nicht achten.
Ich konnte auf nichts mehr achten. Mein Kopf war leer. Alles, was um mich herum war blendetet ich aus. Ich hatte nur einen Gedanken, ich musst nach Hause, zu meinem Vater, zu meiner Mutter. Und so rannte ich. So schnell es ging.
Flaschback Ende
Das war der Tag gewesen, an dem ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Wie sie da lag, auf der Trage des Krankenwagens, die ganzen Rettungssanitäter um sie herum. Irgendwann kam eine Frau zu mir, die auf mich einredete, aber schon wenige Sekunden, nachdem sie einen Satz gesagt hatte, hatte ich schon wieder vergessen, worum es gegangen war. Ich konnte es einfach nicht glauben. Sie war tot. Meine Mutter war tot. Und auch ein paar Tage später knabberte das Ereignis noch viel stärker an mir, als es vermutlich sollte. Sie war ja nicht erst seit gestern krank gewesen. Es war ja absehbar gewesen. Und trotzdem tat es so weh, so unglaublich weh. Jetzt hatte ich niemanden mehr. Meine Mutter war tot, mein Vater wie es aussah psychisch ebenfalls.
Er hatte sich verändert. Schon seit der Diagnose meiner Mutter. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es schlimmer werden würde. Ich hatte nicht glauben wollen, dass es an ihrem Todestag nichts einmaliges gewesen war.
Er war ein guter Vater. Eigentlich. Aber er konnte den Schmerz nicht kontrollieren, konnte sich selbst nicht kontrollieren.
Ich wollte ihn nicht hassen. Schließlich wusste ich, dass er mich lieb hatte. Auch wenn er es momentan nicht zeigte. Das gerade eben, dass war nicht er gewesen...
Jedenfalls versuchte ich mir das einzureden.
Ich hatte es niemandem erzählt. Ich hatte es nicht geschafft. Und ich wollte doch auch bei meinem Vater bleiben. Ich konnte nicht riskieren, dass mir auch noch das letzte weggenommen wurde. Er war immer noch mein Vater. Und tief im innern war er ein guter Mensch, da war ich mir sicher.
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