Tag 2, Sonntag

Mein Bruder weckt mich mitten in der Nacht. Okay nicht mitten in der Nacht, eher am frühen Morgen. Aber während der Ferien darf ich 6:30 wohl als mitten in der Nacht bezeichnen. "Lukas sei leise oder geh zu Mama und Papa." Ich vergrabe mich wieder in meinem Kissen, dabei hatte ich gerade etwas Schönes geträumt, glaube ich jedenfalls. Ich habe von dem Möwenmädchen geträumt. Wir waren allein auf einem riesigen Schiff und haben Möwen gefüttert, während sie mir die Namen von allen Möwen genannt hat. Als ich auf eine Möwe mit einem schwarzen Fleck auf der Brust gezeigt habe und gesagt habe, dass sei Peggy, hat sie mich ganz lange angeguckt. Sie stand ganz ruhig da, sogar ihr Kleid, das gestern die ganze Zeit im Wind geflattert hat, hat sich nicht mehr bewegt. "Woher weißt du das?" Hat sie mich gefragt. Ich hatte das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen, doch als ich auf sie zugegangen bin, hat sie sich in eine Möwe verwandelt und ist mit den anderen Möwen weg geflogen. Okay, vielleicht war das doch kein so schöner Traum. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf. 

Als ich das nächste Mal aufwache ist es halb zehn und es riecht nach Kaffee. Das ist ein gutes Zeichen. Ich springe kurz unter die Dusche und als ich mir meine Klamotten raussuche, kann ich mich nicht davon abhalten, mich zu fragen, was sie wohl heute anzieht. Verdammt noch mal Simon! Schlag sie dir aus dem Kopf, du wirst sie sowieso nie wieder sehen. Ich wünsche mir trotzdem, dass sie wieder das blaue Kleid anzieht. Als ich in die Küche trete, sitzt meine ganze Familie  am Küchentisch. Mein Bruder hat schon seine neue Badehose mit den supercoolen Haifischen an. Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen und schnappe mir ein Croissant. Ich schließe die Augen, als der buttrige Blätterteig in meinem Mund zerkrümelt. Das müsste man jeden Morgen haben. "Siehst du Simon, wir haben schon den ersten Pluspunkt an Frankreich entdeckt: Die Croissants sind unschlagbar, findest du nicht?" Ich nicke mit vollem Mund und greife nach der Erdbeermarmelade. "Was haltet ihr davon, wenn wir gleich alle zusammen an den Strand gehen?" Schlägt meine Mutter mit einem Tick zu viel guter Laune in der Stimme vor. Simon nickt begeistert und auch mein Vater scheint vor Enthusiasmus fast zu platzen. Da ich mir vorgenommen habe, nicht auf meinem Zimmer hängen zu bleiben und den ganzen Tag nur an das Mädchen zu denken, gebe auch ich ein zustimmendes Gegrummel von mir. "Die Frau an der Rezeption hat mir auch schon ein Restaurant empfohlen, wo wir heute Mittag essen könnten, dann könnten wir uns auch direkt das Dorf erkunden." So ist das immer bei meinen Eltern, am ersten Urlaubstag wollen sie am liebsten schon den ganzen Urlaub planen. Wobei Strand und Restaurant klingt besser, als Kraftraum, Yoga und Sauna. 

Nach dem Frühstück cremen wir uns alle ganz brav mit sonnencreme ein bis wir ganz klebrig sind. Nach einem Heulkrampf von Lukas, weil er Sonnencreme ins Auge bekommen hat, geht es los. Vollgepackt mit Sonnenschirm, Strandmatten, Sandspielzeug und Sonnenhüten schleppen wir uns in Richtung Strand. Als wir ankommen, sind alle Plätze in erster Reihe schon belegt. Nachdem meine Eltern sich fast in die Haare bekommen hätten, wo wir denn jetzt unser Lager einrichten sollen, haben wir endlich einen Platz gefunden und ich beneide Lukas, der direkt ins Meer rennt. Unauffällig schaue ich mich um, aber hier gibt es keine Umkleidekabinen. Also ziehe ich mich unter einem Handtuch um, was dafür sorgt, dass ich jetzt ganz viel Sand in der Badehose und auf dem Handtuch habe. Mein Vater und mein Bruder toben schon in den Wellen und meine Mutter brutzelt im knappen Bikini in der Sonne und liest. Ich hab ja eigentlich nichts gegen knappe Bikinis, außer wenn meine Mutter sowas trägt. Dann wird es nämlich doch irgendwie peinlich. Ich meine, sie ist über 40 und da muss man doch wirklich nicht...Naja egal. 

Ich begebe mich in Richtung Wasser und bekomme einen Kälteschock, bei dem versuch mich direkt in die Wellen zu stürzen. Stattdessen stehe ich jetzt hier, bis zu den Knien im Wasser und klappere mit den Zähnen. Lukas kommt angerannt und spritzt mich nass. Scheiße, es ist so kalt! Ich halte die Luft an, kneife die Augen zu und renne los. Die erste Welle, die mir gegen den Bauch klatscht bringt mich zum taumeln, doch dann bin ich ganz im Wasser und schwimme mit kräftigen Zügen ein Stück raus. Mein Bruder steht schmollend am Strand und ich winke ihm zu. Er streckt mir die Zunge raus. Wie harmonisch unsere Beziehung doch ist. Besonders lange bleibe ich dann aber nicht im Wasser, da ziemlich kalt ist.

Als ich zurück zu unserem Lager komme, treffe ich nur meinen Vater, der seine blassen Kalkstelzen in die Sonne streckt und Zeitung liest. "Mama und Lukas sind ein Eis kaufen gegangen, du warst ja nicht da, sonst hätten sie dich bestimmt mitgenommen." Bitte was? Das ist ja total unfair, man hätte mir ja wenigstens Bescheid sagen können! "In welche Richtung sind sie denn gegangen?" "Na Richtung Land." Ich glaub ich fand die Witze von meinem Vater noch nie lustig. Ich schnappe mir meine Schuhe und mache mich auf den Weg in Richtung Strandpromenade. Komisch, dass meine Eltern eingewilligt haben, Lukas vor dem Mittagessen ein Eis zu kaufen. Vielleicht tut ihnen dieser Urlaub ja ganz gut. 

Ich brauche nicht lange, um sie zu finden. Sie stehen in der Meterlangen Schlange vor einem kleinen Eissalon. Meiner Mutter ist anzusehen, dass sie sich das so nicht vorgestellt hat. Dementsprechend erleichtert wirkt sie, als sie mich entdeckt. "Ach Simon, wie schön, dass du zu uns stößt! Papa und ich haben uns überlegt, dass wir ein paar Sachen besorgen und am Strand picknicken. Lukas war ganz begeistert." Das hört sich wirklich nicht schlecht an, wenn wir nämlich im Dorf essen würden, würde Mama uns hinterher in viel zu viele Geschäfte schleppen. "Halt du doch kurz mit Lukas hier die Stellung, dann gehe ich kurz Obst und Baguette besorgen. Wir sind ja schließlich in Frankreich. " Sie zwinkert mir zu, drückt mir fünf Euro in die Hand und weg ist sie. Nach zwei Minuten in der Warteschlange verstehe ich, warum sie so begeistert war, mit mir den Platz zu tauschen. Wir stehen in der prallen Sonne und hinter uns steht ein Vater der mit seinen drei drängelnden Jungs total überfordert ist. Als wir nach gefühlten zwanzig Minuten endlich an der Theke ankommen, wird es aber erst richtig knifflig. Lukas bittet mich, ihm alle Eissorten zu übersetzen. Mit "Vanille" und "Chocolat" fängt es noch einfach an, aber als wir bei Namen wie "Framboise" und "Pomme-Poire-Limette" ankommen fange ich an, mir Namen auszudenken. Mein Bruder entscheidet sich dann letztendlich für Schokolade und Erdbeere. Ich würde mir ja auch gerne ein Eis kaufen, aber von den fünf Euro ist nichts mehr üblich. Ist das Eis hier überall so teuer? Vielleicht sollte ich einen Taschengeldzuschuss beantragen.

 Mama kommt natürlich mit mehr zurück als nur Obst und Baguette. "Den süßen Sonnenhut konnte ich einfach nicht liegen lassen." Als ich mich beschwere, dass das Geld nur für Lukas gereicht hat, vertröstet sie mich nach einem bedeutungsvollen Blick auf die Schlange die Mittlerweile den ganzen Bürgersteig blockiert, auf später. Nur um kurz danach begeistert Lukas Eis zu probieren. "Mhhh...Himbeer ist meine Lieblingssorte." "Das ist Erdbeer", erwidert Lukas und verschmiert bei dem Versuch, sich den Mund abzuwischen das Schokoladeneis überall in seinem Gesicht. "Bist du sicher?" Fragt Mama und wirft mir einen schrägen Blick zu. "Simon hat das gesagt." "Warum hast du ihm denn gesagt, dass das Erdbeere ist?" "Vielleicht, weil ich im Französischunterricht bis jetzt noch keine Eissorten durchgenommen habe?!" "Aber das weiß man doch! Himbeere heißt Fromboise und Erdbeere Fraise!" "Ist doch egal, ich finde es lecker. Können wir jetzt zurück an den Strand?", mischt sich Lukas ein und rettet mich aus der Situation. 

Auf dem Rückweg halte ich genauso wie auf dem Hinweg Ausschau nach dem Möwenmächen. Ich weiß das ist bescheuert und außerdem vollkommen unwahrscheinlich, aber ich tus trotzdem. Scheiß auf die Vernunft. Das Mittagessen und der Nachmittag verlaufen dann ganz Harmonisch. Als ich mir mein versprochenes Eis besorgen will, mache ich einen kleinen Umweg über den Strand, um ein anderes Gebiet abzuchecken. Nur für den Fall, dass das Möwenmädchen da ist. Simon, Simon was ist nur mit dir los. Du verbrutzelst dir freiwillig die Fußsohlen auf dem heißen Sand, nur um nach einem Mädchen Ausschau zu halten, das mit höchster Wahrscheinlichkeit gar nicht hier ist. Abgesehen davon, dass du sie, selbst wenn sie hier wäre, gar nicht ansprechen würdest. Da wird mir klar, dass ich neue Shorts brauche. Mit meiner Badehose vom letzten Sommer, würde ich ja noch nicht einmal ein x-beliebiges Mädchen ansprechen. Ich kehre noch einmal zurück zu meinen Eltern und bitte sie, mir Geld für eine neue Badehose zu geben. "Wie kommst du denn jetzt darauf?" Will meine Mutter wissen. Ich lüge, ich hätte eine total schöne Short an der Strandpromenade gesehen. "Aber du brauchst doch gar keine neue Badehose", jetzt muss auch noch mein Vater seinen Senf dazu geben. "Meine alte Badehose ist zu klein." Noch eine Lüge. "Soso kneift's im Schritt?" Seine Witze sind echt nicht lustig. "Wie sieht die Badehose denn aus und wie viel kostet sie?" Fragt meine Mutter, während sie in ihrer Tasche nach ihrem Portemonnaie sucht. Okay, wir sind auf dem guten Weg. "Ist schwer zu beschreiben. Ich wollte nicht nach dem Preis fragen, weil ich ja sicher nicht genug Geld dabei hatte." "Gut dann gebe ich dir mal zwanzig mit. Wenn sie teurer ist, musst du es von deinem eigenen Geld bezahlen. "Danke Mama!" 

Diesmal nehme ich den schnellsten Weg zur Strandpromenade. Sie soll mich schließlich in meiner neuen Short sehen und nicht in der alten. Ich finde eine wirklich coole Badehose in einem Surfershop. Sie kostet 24,99 Euro, aber das ist es mir Wert. Dann eben kein Eis. Ich wasche meine  neuen Shorts an einer der öffentlichen Duschen aus und ziehe sie direkt an. Hier oben gibt es nämlich Umkleidekabinen. Als ich wieder auf die Strandpromenade trete, fühle ich mich gleich viel cooler. Ich inspiziere einen neuen Strandabschnitt und springe ins Wasser, bevor ich zu meiner Familie zurück gehe. Das wird meinen Eltern gefallen, dass ich sie direkt ausprobiert habe. 

Als wir am Abend in unsere Ferienwohnung zurück kommen, kann ich ein leichtes Gefühl der Enttäuschung nicht unterdrücken. Wenn ich das Möwenmädchen nicht hier am Strand finde, dann finde ich sie nirgendwo.

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