Zwölftes Kapitel...

...in dem Russell abrechnet und unhöflich unterbrochen wird

{Soundtrack: Abney Park - Mister Overkill und

https://youtu.be/8lg19qdOxDc

Hans Zimmer - Marital Sabotage aus dem Sherlock Holmes OST}

~

DieGrazia war das großartigste Schiff, das ich je geflogen war, selbst wenn es eine leichte Schlagseite hatte. Ich brauchte ein paar Minuten, um das komplexe Zusammenspiel von Hitze, Gas und Druck, das Verhältnis der unzähligen Hebel, die Grimault mir immer und immer wieder erklärte, und die Empfindlichkeit des Steuerrads verstand, doch nachdem ich es begriffen hatte, schien es mir, als wäre das Schiff seit jeher in meinem Besitz gewesen. Ich konnte das breite Grinsen auf meinem Gesicht nicht unterdrücken, während wir durch den verrauchten Himmel von Ashenfall flogen. Die brennende Fabrik sank unter uns davon, die Stadt verschwamm zu einem buckligen Gebilde aus Stein und Qualm, aus der die Schlote wie Nadeln hervorstanden.

Ich konnte vier von Durenskys Schiffen sehen, Fregatten und Korvetten, die sich aus Ashenfall erhoben, die Triebwerke rot glühend. In der Ferne hing die Odybreva in der Luft und preschte mit beeindruckender Geschwindigkeit auf die Stadt zu, die weißen Segel blähten sich zitternd im Sturm. Blitze ließen sie gleißend hell gegen die Schwärze des Himmels leuchten.

Grimault blickte mit zusammengekniffenen Augen durch den peitschenden Regen, der die Fenster der Brücke verklebte. „Herrera", sagte er misstrauisch. „Da ist etwas."

Ich drückte einen Hebel weiter nach unten, und das Brüllen und Stampfen der Maschinen wurde lauter. „Was denn?", wollte ich wissen und folgte seinem Blick in die verschwommene, undurchdringliche Schwärze.

„Schiffe. Fünf. Segel und Masten." Ein Blitz flammte auf und erhellte die finsteren Wolken, und auch ich erkannte die Umrisse. Sie waren weit weg, doch kamen erschreckend schnell näher.

„Sind sie aus Vigilante?", wollte ich wissen.

Wortlos zog Grimault sein Fernrohr aus dem Gürtel und trat auf die Tür zu. Der heulende Wind peitschte schwarzen Regen zu uns hinein, als er sie aufriss und hinaus in den Sturm trat. Die Böen wurden immer stärker, das spürte ich, und auch die Grazia erzitterte, als die Windstöße sie beutelten. Ich taumelte, doch fing mich sogleich wieder. Valentina warf mir einen ängstlichen Blick zu und umklammerte die Stange, die an den Steuerpulten befestigt war. Draußen stand Grimault auf dem rutschigen Stahldeck, als wäre er dort festgewachsen, die Böen ließen seinen Mantel flattern. Konzentriert starrte er auf den Flecken wogender Wolken, in dem wir die Schiffe gesehen hatten. Ein Blitz erhellte die Umrisse der Schiffe und zeichnete den Steinbock als geisterhaften Schatten vor der erschreckend dünnen Reling ab. Ich schauderte, ob vor Aufregung oder vor Angst, konnte ich nicht sagen.

Drei, vier Blitze wartete er ab, dann setzte er das Fernrohr ab und stürzte zu uns hinein. „Cloudfall", keuchte er, Wasser rann über das Leder seiner Kleidung. „Sie sind aus Cloudfall."

Ich schluckte. „Bei allen Unheiligen", wisperte ich. „Russell hat mich doch noch gefunden."

„Sie wissen, dass dieses Schiff nicht unter Durenskys Flagge fliegt. Zum Ersten haben wir die Farben nicht gehisst, und zum Zweiten sind wir viel zu wenige. Selbst bei diesem Wetter wären seine Soldaten an Deck." Grimault wischte sich den Regen aus dem Gesicht. „Sie halten direkt auf uns zu."

Wir hatten keine Chance gegen sie. Die Hälfte unserer Geschütze war nicht funktionsfähig oder lag ausgemustert in der Werft in Vangrir I. „Kann dein Captain uns helfen?", fragte ich.

„Nein. Iskjandrova ist Durenskys Schiffen in den Rücken gefallen und ist nun in Gefechte mit ihnen verwickelt. Sie will uns die Flucht ermöglichen, weil die Soldaten Ashenfalls wissen, dass wir die Grazia gestohlen haben."

„Wir könnten ihnen davonfliegen", schlug Valentina vor.

„Bei dieser Übermacht ist es unmöglich. Man kann von Russell halten, was man will, doch seine Schiffe sind schnell und uns überlegen. Durenskys Schiffe haben mehr Kampfkraft, die Segler sind schneller." Grimault umklammerte den Griff seines Schwerts und blickte erneut in die Dunkelheit. Eine Explosion flammte auf, und ein Geschoss verfehlte die Grazia um Haaresbreite.

„Dann müssen wir kämpfen", murmelte ich schicksalsergeben. Oder zumindest unsere Leben so teuer wie nur möglich verkaufen. Innerlich hatte ich ebenfalls gehofft, einfach fliehen zu können. „Welche Kanonen funktionieren?"

„Steuerbords sind alle funktionsfähig, es sind bereits die Aufgerüsteten. Die Backbordkanonen sind nur noch teilweise vorhanden, viele fehlen. Die Mörser sind bereit." Grimault lächelte freudlos. „Wir laden alle verfügbaren Kanonen und geben ihnen eine Breitseite."

„Und danach?", fragte ich.

Er warf mir einen ausdruckslosen Blick zu. „Danach beten wir zu den Göttern unserer Wahl und flehen sie um unser Leben an."

„Wir könnten springen", überlegte ich und schielte zu Valentina. Die Banshee blickte wie gebannt hinaus in die Blitze und das Feuer, als könnte sie es kaum erwarten, sich in einen Kampf zu stürzen.

Valentina erriet meinen Plan. „Wir müssen wahrhaftig verzweifelt sein, wenn die Banshee unsere letzte Hoffnung ist."

Ein Geschoss traf die Grazia, und das Schiff erbebte. „Wir sind verdammt verzweifelt", bestätigte ich und versuchte, mein tosendes Herz zu beruhigen.

Grimault zögerte nicht. „Miss Alderberry, halten sie das Steuerrad. Genau so. Weichen Sie Feuer nicht aus, Sie sind nicht wendig genug", wies er sie an, und sie trat unbehaglich neben ihn. Zaghaft umschloss sie die Speichen mit ihren weißen Fingern. „Lassen Sie es unter keinen Umständen los. Herrera, du kommst mit mir."

Ich nickte, und gemeinsam traten wir in den Sturm hinaus. Der Regen schoss mir ins Gesicht wie tausend Messerstiche, schwarz und klebrig ließ er meine Sicht verschwimmen. Schnell war ich nass bis auf die Knochen, die Tropfen ließen das Hex zischen. Durch meine Brille konnte ich grob die Umrisse der feindlichen Schiffe erkennen, sie waren so nahe, dass ich glaubte, sie aus dem Himmel greifen zu können. Immer wieder flammten ihre Kanonen auf, doch sie kämpften ebenso mit dem Wind wie wir. Die meisten Geschosse verfehlten uns, doch jeder der wenigen Einschläge ließ den Rumpf der Grazia erzittern. Ich schauderte, diesmal aus reiner Angst.

„Herrera, runter zu Blacat und Warren. Ich bereite die Mörser vor", wies Grimault mich an.

So schnell ich konnte, stolperte ich die engen, steilen Treppen hinab, dorthin, wo die Maschinen waren. Das Donnern der Triebwerke, das Zischen des Dampfs und die Fauchen des Gases war ohrenbetäubend laut.

Sim und Warren überwachten die Maschinen, regulierten die Zufuhr von Gas, Luft und Wasser und schaufelten Kohle. Das Pumpen der Kolben klang wie der Herzschlag eines gigantischen, hungrigen Wesen aus glühendem Stahl. Es war so heiß, dass das Wasser auf meinem Fell trocknete und eine gräuliche, stinkende Schmiere zurückließ. Dampfschwaden stiegen aus den Maschinen auf.

Sim wandte sich als erster um. Sein Mantel hing an einem Haken an der Wand, er trug nur sein Hemd, auf dem sich feuchte, dunkle Flecken zeigten, seine Hosen waren übersät mit Brandflecken. Als er seine Schutzbrille absetzte, zeichnete sich ein schwarzer Rußrand gegen das Weiße seiner Haut ab. „Herrera", begrüßte er mich.

Ich verlor keine Zeit mit Höflichkeiten. „Wir müssen dieSteuerbord kanonen laden. Cloudfall hat uns gefunden, und wir müssen Russells Schiffe vom Himmel schießen, bevor sie es bei uns tun."

Warren blickte ein letztes Mal in das Glühen der brennenden Kohlen, dann schloss er die Luke und legte die Schaufel weg. „Dann voran", knurrte er und wischte sich einen Funken aus dem Fell. Er stank nach Schweiß und brennenden Haaren.

Wir hetzten von einer Kanone zur nächsten, legten schwere Projektile und Ladungen in die Kammern und jagten den Druck so hoch, dass ich fürchtete, sie würden explodieren, während wir neben ihnen standen. Die Grazia hatte zwei Kanonendecks, und nachdem wir alle Kanonen ausgerüstet hatten, fürchtete ich den kommenden Kampf mehr als je zuvor. Ich konnte mir denken, dass Russell niemals mit schwachen Schiffen in Durenskys Reich aufgebrochen wäre, und die wenigen Kanonen der Grazia, zusammen mit meiner eigenen und Sims Verletzungen, bereiteten mir einiges Unbehagen.

Erschöpft schleppten wir uns von der letzten Kanone über das schlingernde Schiff zurück zur Brücke. Der Wind ließ unsere Kleidung und unsere Haare flattern, die Energie der Blitze ließ meine Haut kribbeln. Sim verzog voller Schmerz das Gesicht, bei jedem Schritt, den er tat, Warren schien müde, doch wesentlich wacher als der schwarzgekleidete Killer.

Als ich die Tür hinter uns schloss und der Wind versiegte, fühlte ich mich, als wäre ich von Neuem vom Fuße der Ketten hinauf nach Oscravelle geklettert. Schnaufend atmete ich durch, während Sim sich zu einem Stuhl schleppte, eine Phiole aus seiner Hemdtasche zog und sie in einem Zug leerte. Die rötlichen Flecken auf seinem Hemd waren größer geworden. Valentina stand nervös neben den Hebeln und umklammerte erneut die Haltestange, der Rauch ihrer Zigaretten ringelte sich um sie. Ich konnte ihre Angst und ihre verzweifelte Machtlosigkeit durch den Raum hindurch riechen. Warren schlurfte zu ihr und rollte sich ebenfalls eine Zigarette, müde blies er den bläulichen Qualm in die feuchte Luft der Brücke.

Grimault stand mit geradem Rücken am Steuerrad und lenkte die Grazia mit eisiger Verachtung auf Russells Schiffe zu. „Kanonen bereit?", wollte er wissen.

„Aye." Ich nickte schwach.

„Gut." Er zog sein Fernrohr aus dem Gürtel und reichte es Warren. „Wenn Russells Schiffe möglichst nahe aneinander sind, gibst du mir ein Zeichen. Herrera, auf mein Wort wirst du feuern."

Mit zitternden Fingern griff ich nach den Hebeln. Nun schien das Metall eisig kalt und geradezu abschreckend. Mit einem Mal vertraute ich dem Schiff nicht mehr, und ich versuchte, den Gedanken, wir könnten alle sterben, aus meinem Hirn zu verbannen.

Warren nahm seinem Ersten Offizier das Fernglas aus der Hand, schlug sich mit einem Knurren erneut in den Regen und blickte hindurch, mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. Regen umwehte ihn und riss ihm die Zigarette von den Lippen. Die Grazia erbebte unter dem Beschuss, sie stöhnte und wand sich wie ein Mann unter Gewehrkugeln, Metall kreischte hoch, und auf dem Pult begann, eine Lampe rot zu blinken.

Ich versuchte, nicht dorthin zu sehen, und starrte auf die Spitze von Valentinas Zigarette. Orangefarben glühte die Spitze auf, zweimal, dreimal, viermal, doch der Kojote schwieg.

Stille breitete sich aus, eine Stille, in der mein Herz ebenso schnell pochte wie die Maschinen. Mein Atem verschmolz mit dem Heulen des Windes und dem Zischen des Dampfes. Das Beben in meinen Fingern nahm zu, und beinahe hätte ich die Hebel umgelegt, ohne, dass Grimault mir das Zeichen dazu gegeben hätte.

Plötzlich wirbelte Warren herum und schlug die Hand abwärts.

Grimault packte die untersten Speichen des Rads und versetzte sie mit einer schnellen Bewegung in Schwung. Die Grazia wandte sich mit einem protestierenden Knirschen gegen den Sturm, schneller, als ich es ihr zugetraut hatte, drehte sie sich in den Böen, bis ihr Ballon aus unserem Blickfeld wich. Die Schiffe Cloudfalls tauchten aus den Regenschwaden und den wallenden Wolken auf wie hungrige Ungeheuer, zu uns getrieben durch den Sturm. Ein Blitz erhellte sie, die drei Krähen flatterten auf den sich im Wind sträubenden Flaggen, als wollen sie davonfliegen. Die Bugkanonen, die auf uns wiesen wie gierige Mäuler, flammten auf.

„Feuer", befahl Grimault, ruhig und berechnend. Er sprach leiser, als ich zuvor in meiner Verwegenheit gerufen hatte, und in der Stille war seine Stimme schneidend wie ein Messer.

Ich gehorchte ihm aufs Wort. Mit einem Ruck legte ich den Hebel um.

Das Brüllen der Kanonen vermischte sich mit dem Donner, der auf den Blitz folgte. Heulend durchschnitten die Geschosse von Durenskys Kanonen den Regen und den Sturm und trafen ihre Ziele.

Ich hatte nie gewusst, welche Kraft die Waffen des Vampirfürsten hatten, doch nun sah ich es. Jedes der Projektile schnitt durch die Schiffe, als wären sie aus nichts weiterem gebaut als aus Staub und Schatten. Ihre Umrisse erbebten, Feuer stob aus den Planken und wirbelten Holz, Stahl und Leichen auf. Zwei sanken als brennende Schiffskadaver der Stadt entgegen, die anderen drei hatten Schlagseite bekommen. Flammen schlugen in den schwarzen Himmel.

Im gleichen Moment schlugen ihre Geschosse in den Stahl der Grazia ein. Metall schrammte kreischend gegen Metall, etwas grollte im Schiffsbauch. Ein Donnern ließ das Schiff erbeben und warf Stahlteile und Splitter in den Sturm, und die Grazia sackte seitlich ab.

Grimault legte Hebel und Schalter um, so schnell und mit einer Genauigkeit, die mir mehr Übelkeit bereitete als unser taumelndes Schiff. Die Grazia sank ruckartig dem Boden entgegen und nahm an Fahrt auf, nach Norden. Erneut brüllten Kanonen, doch keine neuen Einschläge verletzten unser Schiff. Die verstummenden Kanonen machten mich nervös.

Valentina entdeckte es als erstes. Ihr ersticktes Fluchen ließ Grimault herumwirbeln, und bevor er etwas tun konnte, rammte das gewaltige Segelschiff uns und schlitzte das Deck mit seinem gewaltigen Rammsporn von einer Seite bis zu anderen auf.

Metall schrie, als fühlte es, wie der Stahl seine kalte Haut durchschnitt, das Pfeifen des Gases, das aus dem gerissenen Ballon entwich, war selbst in der Brücke zu hören. Brüllend geriet es in Flammen, orangefarbenes Feuer schlug in den Himmel. Klirrend breiteten sich Sprünge auf den dicken Scheiben des Raumes aus. Männer in den Farben Cloudfalls, die Musketen im Anschlag, schwangen sich an Seilen auf unser Schiff hinab, dumpf kamen ihre Stiefel auf dem Deck auf. Die Maschinen klagten unter unseren Füßen. Einer von ihnen brüllte Befehle, und sie legten auf die Brücke an.

Ich blickte hilfesuchend zu Grimault. Die ineinander verkeilten Schiffe sackten ab, Meter für Meter, ein Gefühl, das meinen Magen tanzen ließ. „Ergeben wir uns oder kämpfen wir?"

Warren lachte auf, in einer Art, die in jedem Ton nach Kojote klang. „Wollen wir leben oder sterben?", knurrte er, in einem Tonfall, der klarmachte, dass es sich um eine rhetorische Frage handelte.

„Ich habe das Leben immer sehr wertgeschätzt", behauptete ich. Sim stieß ein erschöpftes Keuchen aus, Valentina starrte entsetzt auf die näher rückenden Soldaten.

Grimault schnallte seinen Waffengürtel ab. „Wir ergeben uns. Bevor wir niedergeschossen werden oder mit diesem Schiff auf den Steppen zerschellen." Energisch schritt er auf die Tür zu und riss sie auf. Regen wehte zu uns hinein.

„Wer seid ihr?", rief der Hauptmann der Soldaten.

„Grimault, Erster Offizier der Odybreva. Bei mir sind Warren, Kanonier der Odybreva, Master Simoney Blacat, Miss Valentina Alderberry und Sindrak Herrera", stellte der Animus uns vor.

„Ergebt euch, oder sterbt auf eurem sinkenden Schiff!"

„Wir ergeben uns." Grimaults Stimme verriet keine Gefühlsregung, nur seinen üblichen verhaltenen Zorn.

„Kommt heraus, einer nach dem anderen. Die Hände über dem Kopf!", befahl der Soldat uns.

Schicksalsergeben folgten wir seinen Anweisungen. Mir juckte es in den Fingern, das Hex zu aktivieren und mich durch die Männer zu schlachten, doch ich wusste, dass selbst ich bei einer solchen Übermacht das Nachsehen hatte. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass es der Banshee ähnlich erging. Wortlos fauchte sie den Soldaten ins Gesicht, sie blinzelten irritiert in die flackernden Blitze, die noch immer über den Himmel zuckten, ohne sie wahrzunehmen.

Die Soldaten entrissen uns grob unsere Waffen und stießen uns die schmale Leiter die Wand des Schiffes hinauf. Es war wesentlich größer als die Grazia, beinahe noch größer als die Odybreva, mit einem Ballon aus mitternachtsblauem Stoff und einem Rumpf aus hellem, lackiertem Holz. Schwere Kanonen ragten aus den Luken, die Besatzung war schwer bewaffnet und musterte uns mit grimmigen Blicken. Unwirsch geleiteten sie uns zur Kajüte unter den Aufbauten am Heck des Schiffes. Die letzten Bewaffneten, die uns von der Grazia gescheucht hatten, betraten das Segelschiff, ein Knirschen und Krachen durchschnitt den verregneten Sturm, und Durenskys Dampfschiff sank geschlagen dem Boden entgegen.

Lord Russell erwartete uns in seiner Kajüte, flankiert von seinen Arkanwächtern, die ich noch aus dem Salon in Cloudfall kannte. Ihre schwarzen Uniformen hoben sich dunkel von den blauen der gewöhnlichen Soldaten ab, die uns brutal auf die Knie zwangen und sich danach vor der Tür postierten. Neben ihm stand, hoch aufgerichtet und mit einem unbeteiligten Ausdruck auf dem hübschen Gesicht, Aubrey de Sarazine. Der Vogel beobachtete uns wachsam durch seine Käfigstäbe hindurch.

„Sindrak Herrera", begrüßte der Krähenlord mich schneidend. „Ist das die Frau, die die Banshee befehligt?"

Es hatte keinen Sinn, zu lügen. „Aye." Ich blickte Sarazine an. „Schöne Verbündete hast du dir ausgesucht. Gleich und gleich gesellt sich gern, hm? Geflügel hält stets zusammen." Ich grinste unverschämt. „Was hält dein teurer Einäugiger davon, dass du nun mit jemandem zusammenarbeitest, der der Banshee mehr Macht geben will?"

Aubrey de Sarazine lächelte rätselhaft. „Valentina Alderberry hat starke Verbündete. Ich hielt es nur für angemessen, mir ebensolche zu suchen."

Russell trat langsam auf uns zu. „Sie verriet mir, wo ich euch finden konnte. Den ganzen Weg von Vigilante bis nach Cloudfall hat sie euch verfolgt, und gab mir den entscheidenden Hinweis."

„Und ich dachte, ich hätte mir das Geräusch von schlagenden Flügeln nur eingebildet." Ich seufzte dramatisch. „Doch nun, ich habe dir Valentina Alderberry gebracht. Jetzt verlange ich meine Belohnung." Die Worte schlüpften aus meinem Mund, bevor ich sie mir überlegen konnte. Der Arkane, der auf Russells Wink hin auf mich zutrat, die Faust erhoben, verriet mir, dass es eine blöde Idee gewesen war.

Sein Schlag ließ mich Schwärze sehen. Blut breitete sich im meinem Mund aus, ich schmeckte Metall und die Schmiere, die der Regen auf meinen Lippen hinterlassen hatte. Meine Zähne knirschten schmerzhaft gegeneinander. Ich keuchte auf, als ein zweiter Schlag mich in der Magengrube traf, und krümmte mich fluchend. Wütend und dennoch leicht eingeschüchtert spuckte ich Blut auf den teuren Teppich. Jemand griff in meine verklebte Mähne und riss grob meinen Kopf nach hinten. Ich knurrte, im festen Willen, mich zu wehren, doch das Messer, das der Arkane an meine Kehle setzte, veranlasste mich dazu, stillzuhalten.

Russell stakste auf mich zu und brachte seinen Schnabel dicht vor mein Gesicht. „Du hast mich verraten, für den Erstbesten, der dir über den Weg lief. Ich wusste, dass du käuflich bist, aber selbst ich habe dir ein wenig mehr Intelligenz zugetraut, um zu wissen, was dir blüht, solltest du mich enttäuschen."

Ich versuchte, angemessen eingeschüchtert zu wirken, und scheiterte. „Ich habe überschätzt, wie mächtig jene sind, die mich dir abgekauft haben. Und jetzt bin ich enttäuscht, weil sie ihren Teil der Vereinbarung nicht eingehalten haben." Der Arkane riss fester an meinen Haaren. „So wären wir beide besser dran gewesen, wenn wir beieinander gewesen wären. Witzig, nicht wahr?", stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Russell wandte sich ruckartig ab und nahm Abstand von uns. „Wer sind deine neuen Freunde, Herrera? Sprecht", forderte er sie auf.

„Mein Name ist Grimault, Erster Offizier der Odybreva unter Captain Romana Iskjandrova. Sein Name ist Warren, Kanonier der Odybreva." Grimault schien eine derartige Situation schon oft erlebt zu haben. Seine Stimme war ruhig wie eh und je.

„Simoney Blacat", stellte Sim sich vor. Seine Hand senkte sich zu seiner Wunde, und der Wächter hinter ihm trat ihm in den Rücken. Scharf zog der schwarz gekleidete Killer Luft ein.

„Er arbeitet für die Gintlemen", erklärte Aubrey de Sarazine. „Er ist ein Beschwörer, passt auf."

Zum ersten Mal, seit wir seine Kajüte betreten hatten, schien Russell verunsichert. Er bedachte Sim mit einem langen Blick aus seinen schwarzen Augen. „Meine Wächter tragen Ringe, die fremde Magie unterdrücken", versetzte er geringschätzig, doch er schien dennoch nicht gänzlich beruhigt. „Er kann niemanden beschwören." Mit einem langen Schritt blieb er vor Valentina stehen. „Und Sie sind sicherlich Miss Valentina Alderberry. Die Frau, die die Banshee beschwor. Ist das wahr?"

Sie lächelte voller Hass. „Ich kann es dir gerne beweisen." Über ihr schwebte die Banshee und zauste ihr mit den Krallen die Haare.

Russell lachte unbeeindruckt. „Nicht nötig. Ich habe genug davon, dass ich mich mit ungehorsamen Untertanen herumschlagen muss."

„Und du denkst, dein neuer Untertan ist gehorsam?", schnaubte ich.

Sarazine senkte den Käfig, durch dessen Stäbe sie den Vogel gestreichelt hatte, und blickte mich eisig an. „Wir sind Partner. Gleichauf."

Ich glaubte nicht eine Sekunde, dass Russell sich über längere Zeit einen Partner suchen würde, der sich ihm nicht unterordnen wollte. Noch verband sie die Jagd auf Valentina, doch sobald sie vorbei war, würden sie sich entweder entsetzlich in die Haare kriegen, oder ihre Wege würden sich trennen. „Nicht für lange."

Sie senkte den Blick. „Mag sein."

Russell verengte ungehalten die Augen. „Sarazine, wir sprechen später. Miss Alderberry, erheben Sie sich. Die Hände so, dass ich sie sehen kann."

Valentina warf dem Mann hinter ihr einen vernichtenden Blick zu und stand auf. Trotzig reckte sie das Kinn. „Und was nun?"

„Was wissen Sie über die Banshee?", fragte Russell fasziniert.

„Dass sie eine hinterlistige, schreckliche Bestie ist, deren Grausamkeit keine Grenzen kennt."

Ich glaubte, die Banshee kichern zu hören, ein Geräusch, das mein Fell sträubte.

„Sehr dramatisch", befand Russell spöttisch. „Mir wurde gesagt, dass sie tut, was Sie verlangen."

„Oh ja. Alles, was man sich erwünscht. Aber du weißt wahrscheinlich, dass sie nichts ohne einen Preis tut."

„Der Preis ist ein Tod, nicht wahr? Es gibt genug Leben, die mir nichts bedeuten. Ein gerechter Preis für die Macht, die sie verleiht." Russell lächelte dünn. „Verraten Sie mir, wie es funktioniert, und ich lasse Sie am Leben."

Mir schien, als hätte ich eine kluge Entscheidung getroffen, als ich mich gegen Russell gewandt hatte. Wahrscheinlich hätte er die Banshee als erstes mich töten lassen.

Valentina verengte die Augen. „Nein."

„Nicht? Ich denke, Sie wissen, zu was ich imstande sein kann, wenn Sie mir nicht gehorchen", drohte Russell milde überrascht.

„Du unterschätzt sie. Sie hat an Macht gewonnen. Wenn sie sich aus ihren Fesseln befreit, können nur wenige sie wieder bannen", warnte sie. „Auch nicht ich."

Der Krähenlord gab dem Arkanen hinter ihm einen schnellen Wink. Bevor Valentina reagieren konnte, packte er ihre Handgelenke und zwang sie grob zurück auf die Knie. Ein zweiter Mann trat hinzu, die Tätowierungen auf seinem Gesicht ringelten sich wie die Mähne der Banshee, und er schlug zu. Krachend traf seine Faust Valentinas Gesicht, ihr Kopf wurde brutal zur Seite geschleudert. Sie schrie rau, doch richtete sich unbeeindruckt wieder auf. Wie auch ich zuvor spie sie Blut vor Russells Füße.

Sie neigte den Kopf, ohne den Blick von Russell zu wenden, ihre Wirbel knirschten hörbar. „Ich bin eine Canwy Roch", spuckte sie undeutlich, den Mund voller Blut. „Ein fünfjähriger Roch schlägt härter zu als deine verfluchten Hexenmänner!"

„Lasst sie in Ruhe!", zischte Sim, doch der Mann hinter ihm trat ihn grob zu Boden und setzte seinen Stiefel auf seine Wange. Sim fauchte vor Schmerz.

Erneut ließ der Arkane seine Faust auf Valentina niedersausen, und sie wand sich im Griff des anderen Mannes. Blaue Flecken und kleine Wunden blühten in ihrem Gesicht auf, doch sie gab nicht nach. Wieder und wieder schlug er zu, bis Valentina schlaff in den eisern zugreifenden Händen der Männer hing, die dunklen Haare über dem Gesicht. Blut schimmerte auf ihren Zähnen, als sich ihre aufgesprungenen Lippen zu einem finsteren Grinsen verzogen, und tropfte auf den Boden.

Der Arkane packte ihre Haare wie zuvor meine und riss ihren Kopf grob nach hinten, und Russell trat auf sie zu. „Noch habe ich mich in Höflichkeit zurückgehalten. Sprich, oder ich schneide dir und deinen erbärmlichen Mitstreitern die Kehlen durch und werfe euch auf Ashenfall hinab!" Der Arkane über Sim zog ein Messer und setzte es ihm an die Kehle.

Irgendwo, weit über uns, polterten schnelle Schritte über Planken. Männer brüllten Befehle, und die Soldaten vor der Tür sahen sich unwohl um. Ein Blitz erhellte die Kajüte für einen Augenblick und ließ uns wieder mit dem dünnen Licht der Öllaternen zurück. Ich meinte, einen Schatten dort draußen im Regen und Sturm erkannt zu haben, und Grimaults skeptischer Blick verriet mir, dass er es ebenfalls gesehen hatte. Einen wuchtigen Umriss einer Bestie aus Stahl, Feuer und stampfenden Maschinen.

Ich nickte unmerklich zu Russell, doch Grimault schüttelte den Kopf. Still hoffte ich, er würde einen Plan haben, den ich einfach befolgen konnte. Denken im Angesicht des Todes war nicht meine Stärke.

Valentina spuckte aus, ihre verlaufene Schminke ließ ihre Augen in Schwärze schwimmen. „Du musst ein Ritual durchführen. Ein Opfer darbringen. Das Blut einer beseelten Person vergießen. Und Worte sprechen."

„Welche Worte?", schrie Russell sie an.

Mit einem Ruck löste Valentina ihr mit Regen, Dreck und Schweiß benetztes Haar aus dem Griff des Arkanen und spuckte auf ihr Amulett. Blut benetzte das Metall, und sie lächelte grimmig. Das Wort, mit dem sie die Banshee rief, klang wie ein Fluch. „Dieses", knurrte sie.

Russell riss die Augen auf, als die Drachengöttin aus den Schatten brach. Ihr Schrei ließ Lampen und Fenster zerspringen, der Sturm wehte den kalten, stinkenden Regen hinein, ihre Mähne wehte im Wind, Funken tanzten in den Böen. Mit ausgestreckten Krallen stürzte sich die Göttin auf Russell.

Ein Wirbel aus weißen Federn riss Russell zu Boden. Göttin und Harpyie prallten aufeinander, und Sarazine stieß einen hellen Schmerzensschrei aus, als die Klauen über ihren Oberkörper fuhren und rote Spuren hinterließen. Hektisch taumelte sie zurück und hielt sich schwer atmend den Körper. Blut schimmerte an ihren Fängen.

Die Banshee hielt ebenfalls inne, beinahe irritiert. Russell lag mit zerfetzter Kehle unter ihren Pranken, Blut sickerte in den Teppich. Ihre blicklosen Augen glühten wie die Laternen, als sie die Zähne fletschte.

Verwirrt blickte ich von Sarazine zur Banshee. „So viel dazu, ihr wärt gleichauf", rief ich undeutlich in den Sturm. „Hast du ihn getötet?"

Sarazine nickte, ohne den Blick von der Banshee zu wenden, die lautlos knurrend über Valentina schwebte. „Ja. Sie ist mächtig geworden. Jeder Tod, den sie verursacht, reißt an ihren Fesseln, und sie sind schwächer als je zuvor."

„Willst du Valentina nun töten?", wollte Sim wissen und erhob sich. Warren und Grimault taten es ihm gleich. Das Erscheinen der Banshee und Russells Tod hatte die Arkanen zurückweichen lassen, die Soldaten ebenfalls. „Das kann ich nicht zulassen."

Sarazine wirkte beinahe bedauernd. „Es scheint wohl so."

Valentina wischte sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht. „Nein. Ich habe Dokumente gefunden, über die Banshee. Vielleicht steht dort, wie man sie entlassen kann."

„Aber sie hat zu viel...", begann Sarazine.

„Nein. Ich werde mich nicht töten lassen, und wenn du mir zu nahe kommst, hetze ich die Banshee auf dich, Befreiung hin oder her", fauchte Valentina, Blut spritzte bei jedem ihrer Worte. „Hilf uns, von hier zu verschwinden. Wir müssen fliehen."

„Wie wollen wir das schaffen, ohne die Banshee?", fragte ich. „Dieses Schiff hat mehr als hundert Mann Besatzung. Wir..."

Ich kam nicht dazu, meinen Satz zu beenden. In der Ferne brüllten Kanonen, lauter als der Donner, und einen Herzschlag später explodierte die Welt um uns herum in einem Regen aus Holzsplittern, Feuer und Stahl.

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