Nutze die Chance

Joshs Sicht:

Zwischen mir und Selina entwickelte sich nichts, bis zu diesem einem Tag im Winter. Es war kurz vor Weihnachten und die ganze Klassenstufe hatte sich für eine Winterparty versammelt. Im Hintergrund liefen typische Weihnachtslieder wie ,,Last Christmas'' oder ,,Merry Christmas everyone''. Im ganzen Raum duftete es nach frischen Kerzen und dem Wachs der angezündeten Kerzen. Alles war weihnachtlich grün, weiß und rot geschmückt und es sah wirklich toll aus.

Wenn ich daran dachte, wurde mir schwer ums Herz. Es war das erste Weihnachten, das ich ohne Ellie verbringen würde. Ich hoffe, dass sie mir nicht allzu böse war und dennoch schöne Stunden mit meiner Tante und meiner Oma haben würde.

Meine Mom und mein Dad hätten vermutlich wie jedes Jahr keine Zeit, um das Fest der Liebe mit ihren Kindern zu feiern. Die Beiden konnte man nach der Scheidung sowieso nicht allein in einem Raum lassen, ohne dass sie sich zankten.

Ich hatte ein mehr als schlechtes Gewissen, dass ich Ellie in dieser Situation allein gelassen hatte. Aber es ging leider nicht anders. Ich hatte eine Veränderung gebraucht und hatte mich deshalb für das Austauschjahr in Kalifornien entschied.

Hätte ich gewusst, dass meine Austauschpartnerin Selina Lauren Maynard sein würde, hätte ich es mir vermutlich anders überlegt. Sie hatte alles auf den Kopf gestellt und mich irgendwie auch zu einem anderen Menschen gemacht. Ich hatte kein Interesse mehr, so viele Mädchen wie nur möglich zu klären, mit ihnen auf Dates zu gehen oder ins Bett zu steigen.

Seit ihr funktionierte nichts mehr, wenn es nicht mit Gefühlen verbunden war. Das war mit einer der Gründe, wieso ich begriffen hatte, dass das zwischen mir und Bianca nicht mehr weitergehen konnte. Klar, ich hatte mich unglaublich schlecht gefühlt, als ich mich von ihr getrennt hatte. Doch ich hatte ebenso viel Erleichterung verspürt, weil ich nun wieder tun und lassen konnte, was ich wollte.

Auch wenn Bianca wütend war, es hatte so sein müssen. Sie hatte ja genauso zugegeben, dass es sich für sie nicht richtig anfühlen würde. Das war für mich eine Lektion gewesen. Man konnte nicht mit jedem Menschen glücklich werden, vor allem nicht, wenn man eigentlich jemand anderes im Blickfeld hatte.

Und weil ich nicht anders konnte, suchte ich in der Menge nach Selina. Sie stand zusammen mit Ashley und schien sich angeregt mit ihr zu unterhalten. Sie sah niedlich aus mit ihrem roten Schal und dem dazu passenden grau roten Pulli. Ihre Haare waren offen und fielen ihr über die Schulter.

Mir entgingen nicht die ganzen Leute, die um uns herumstanden und sich mehr oder weniger profihaft zur Musik bewegten. Ich fragte mich, wie es wäre, mit Selina zu tanzen. Wie es wäre, ihre Hände auf meinem Nacken zu spüren und mich mit ihr im Takt des Liedes zu verlieren.

,,Sag mal, seit wann bist du denn so schüchtern?'', gab Ally von sich, während sie mich eindringlich ansah. ,,Geh doch zu ihr hin und frag sie, ob sie mit dir tanzen möchte.''

,,Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist'', bezweifelte ich.

,,Willst du, dass ich hingehe und sie frage?'', drohte meine beste Freundin mir.

,,Nein, schon gut''

Auf keinen Fall soll sie das machen!

,,Weißt du Josh, sieh es doch einfach so: Man lebt nur ein Mal im Leben und ist hinterher enttäuscht, dass man die Chancen nicht genutzt hat, die direkt vor einem gelegen hatten, weil man selbst zu viel Angst hatte. Natürlich kannst du ein Nein kassieren, das einen sehr verletzen kann. Aber du kannst ebenso ein Ja bekommen und dich wie der glücklichste Mensch dieser Welt fühlen. Versuch es doch wenigstens.''

,,Na schön, ich werde es versuchen", gab ich mich schlussendlich doch geschlagen.

Ich gab mir einen Ruck und lief in die Richtung, wo ich vorhin Ashley und Selina gesehen hatte. Sie standen immer noch in der gleichen Ecke.

,,Hey Ashley, es macht dir doch nichts aus, wenn ich Selina kurz entführe oder?'' fragte ich sie, als ich mich in Hörweite von ihnen befand.

,,Wenn du sie mir heile zurückbringst ist alles bestens'', willigte Ashley ein.

Dabei warf sie mir einen strengen Blick zu, der so etwas zu sagen schien, wie ,,bring sie mir bloß heil wieder zurück!''

***                   

,,Wir gehen tanzen'', verkündete ich, als ich Selina durch die Menge zog.

Zu meiner Überraschung protestierte Selina nicht einmal. Sie ließ sogar zu, als wir zum Stehen kamen, dass ich meine Hände auf ihre Taille legen durfte. Es erinnerte mich an die Jubiläumsparty im Café, als ich als ihre Begleitung mitgekommen war und wir auch miteinander getanzt hatte.

Damals gab es jedoch eine Grenze, weil ich eben mit ihrer besten Freundin zusammen gewesen war. Diese war nun nicht mehr da. Es stand nur noch im Raum, was das genau zwischen uns war. Ob nur ich derjenige war, der mehr wollte. Ich konnte nicht sagen, was sie wollte.

Aber ich konnte ihr zeigen, was ich wollte. Weil sich jeder Abstand zwischen uns in diesem Moment zu groß anfühlte, zog ich ihren Körper etwas näher zu meinem.

Ich passte mich der Art an, wie sie sich bewegte und mied den Blick nicht, als ihre braunen Püppchenaugen auf meine trafen. Selina positionierte ihre Finger tatsächlich auf meinem Nacken und ich war kurz davor, einen Schritt weiterzugehen und jede Art von Zurückhaltung über Bord zu werden.

Dennoch tat ich es nicht, weil es nicht eilte. In dieser ganzen Menschenmenge wäre es mir sowieso etwas unpassend vorgekommen, sie zu küssen. Und ich musste vorher sowieso erst mit ihr klären, wie sie dazu stand. Dafür brauchte es den perfekten Moment.

Nach einer Weile hörten wir mit dem Tanzen auf und setzten uns kurzerhand an die Bar, wo wir uns etwas zum Trinken holten.

,,Heute nicht also auf Beutejagd?'', wurde ich von Selina gefragt und ich verstand nicht genau, wie sie das meinte.

,,Heute Abend nicht scharf darauf, irgendwelche Mädchen anzubaggern?'', verbesserte sie sich.

Dachte sie, nur weil ich Single war, dass ich erneut in das alte Muster fallen würde?

Begriff sie etwas immer noch nicht, dass ich sie wollte?

,,Ach so. Nein, ich bin nicht auf Beutejagd heute Abend'', stellte ich sofort klar.

,,Betty, Lindsley, Heather und Hannah scheinen das noch nicht mitgekriegt haben. Ist dir nicht aufgefallen, wie sie sich um dich geschart haben?'', machte Selina weiter.

Als würde mich das interessieren ...

,,Nein. Ich schätze ich war von etwas anderem abgelenkt.''

Jemand ganz Bestimmtes, der nicht einmal begriff, was sie in den letzten Monaten mit mir angestellt hatte.

,,Heather entspricht doch deinem Typ, blond und blaue Augen, dazu ein Wahnsinnskörper'', bemerkte sie.

Warum dachte sie so über sich selbst?

Warum kam sie nicht auf den Gedanken, dass ich SIE schön fand, auch wenn sie kein Schönheitmodel war, das im nächsten Katalog stehen könnte?

Wieso begriff sie nicht, dass es mir egal, wie hübsch andere aussahen, wenn ich dafür sie haben konnte?

Du musst es ihr sagen. Ansonsten wird sie immer denken, dass du an all den anderen Mädchen interessiert bist, nur nicht an ihr.

,,Kann sein. Wusstest du eigentlich, dass ich auf den Kosenamen Püppchen bei dir gekommen bin, weil deine ganze unerfahrene Art und dein Gesicht etwas fast schon unschuldiges püppchenhaftes an sich hat?'', erzählte ich ihr.

,,Nein das wusste ich nicht.''

,,Besonders deine großen Rehaugen lassen dich so harmlos aussehen'', fügte ich dazu. Unsere Augen verfingen sich erneut ineinander und mich durchlief diese Gänsehaut, die ich ziemlich oft in ihrer Nähe hatte. Augen logen nicht. Sie verrieten die Wahrheit, die man inständig zu verstecken versuchte. Doch dieses Mal war es in Ordnung für mich, dass sie die Wahrheit sehen würde. Ich wollte nicht mehr verstecken, dass ich mehr als nur freundschaftliche Gefühle für sie hatte. Schluss damit! ,,Lass uns nach draußen gehen, ich brauche etwas frische Luft'', schlug ich vor.

***                   

Das Erste, was ich bemerkte, als wir draußen standen, war, dass es schneite. Alles sah märchenhaft aus und ich hätte mich an diesem Anblick gar nicht satt sehen können.

Alle Häuser und der Weg waren weiß eingekleidet und auch wir wurden Teil des Kunstwerks, als der Schnee sachte auf uns hinabrieselte.

,,Es schneit!'', rief Selina entzückt aus und drehte sich einmal im Kreis.

Sie streckte sogar extra die Zunge raus, um eine Schneeflocke fangen zu können.

,,Und wie schmeckt der Schnee?'', fragte ich sie belustig.

,,Leider nach Wasser.''

,,Deine Wangen sind von der Kälte ganz rot geworden'', bemerkte ich und fuhr sanft die Konturen ihrer Wangenknochen nach. Ich rechnete damit, dass sie zusammenzucken würde, doch sie tat es nicht. Selina sah mich fast schon verzweifelt an, als wäre diese Berührung nicht genug. Als wollte sie so viel mehr. Als würden ihr so viele Worte auf der Zunge liegen, die sie nicht ausprach. ,,Es gibt da etwas, was ich viel zu lange aufgeschoben habe'', brach ich die Stille zwischen uns. Versprich mir, dass du es niemanden verrätst.''

,,Ich werde schweigen wie ein Grab.''

Als Vertrauensbeweis hob sie ihre rechte Hand hoch.

,,Weißt du: Es gibt da ein gewisses Mädchen, welches mir einfach nicht aus dem Kopf gehen mag. Es mag falsch und egoistisch sein, aber ich hadere des Öfteren mit dem Gedanken, sie erneut zu küssen. Ich weiß nicht einmal, wie sie darüber denken würde, wenn ich sie jetzt küssen würde. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum ich es tun möchte, aber ich kann nicht anders. Ich habe ihr gegenüber behauptet, dass der Kuss mir nichts bedeutet hat, aber das hat nicht so ganz gestimmt.'' Es fühlte sich an, wie eine E-Mail an jemanden, die man am liebsten nicht abschicken wollte. Dennoch sprach ich es aus, weil ich noch Allys Worte sehr gut im Kopf hatte und diese mir verdammt viel Mut gegeben hatten. Man lebt nur ein Mal im Leben und ist hinterher enttäuscht, dass man die Chancen nicht genutzt hat, die direkt vor einem gelegen hatten, weil man selbst zu viel Angst hatte. Natürlich kannst du ein Nein kassieren, das einen sehr verletzen kann. Aber du kannst ebenso ein Ja bekommen und dich wie der glücklichste Mensch dieser Welt fühlen. Versuch es doch wenigstens. ,,Und dieses gewisse Mädchen bist du. Wenn du nein sagen solltest, werden wir nie wieder darüber reden und die ganze Sache vergessen. Doch wenn deine Antwort ein Ja sein sollte, würde ich dich verdammt gerne jetzt küssen.'' Ich legte alle Karten auf den Tisch und zog sie näher an mich heran, sodass kaum ein Blatt zwischen uns passte. ,,Darf ich es Selina? Willst du das auch?''

In dieser Sekunde musste sie es nicht laut aussprechen. Ihre Augen teilten mir mit ihrem intensiven Blick mit, dass sie es wollte.

Ich sah in ihnen förmlich den Wunsch danach, dass wir von jetzt an ehrlich waren und das tun würden, was wir schon viel zu lange nicht machen durften, weil ich vergeben war.

,,Ja, ich will es'', bestätigte Selina mir und ab da gab es für mich kein Halten mehr.

Ich fühlte mich wie die glücklichste Person dieser Welt, als wir zu einem Kuss verschmolzen, während der Schnee fiel und diesen bedeutenden Moment mit uns teilte.

Dieser Kuss war sogar noch besser als unser Letzter, weil es nichts mehr gab, was ich in Erwägung ziehen musste. Es gab nur uns und diese enorme Anziehung, die stets in der Luft gelegen hatte.

,,Ich habe versucht, es zu vergessen. Aber seitdem ich weiß, wie es ist, dich zu küssen, kann ich es nicht'', beichtete ich ihr, als wir kurz voneinander abließen, um etwas Luft zu bekommen. ,,Hat dir der Kuss gerade dir etwas bedeutet?'' Weil ich unbedingt wollte, dass sie mich ansah, hob ich Selinas Kinn an. ,,Schau mich an, Selina. Hat er dir irgendetwas etwas bedeutet?'', wiederholte ich meine Frage.

,,Ich weiß nicht'', stotterte sie zitternd.

Das war nicht die Antwort, die ich hören wollte. Aber es war eindeutig besser als ein Nein.

,,Bereust du es mich geküsst zu haben?'', wurde ich von ihr gefragt.

Woher kam bitteschön diese Unsicherheit?

,,Ich habe dir gerade gesagt, dass ich seitdem ich dich in der Küche geküsst habe an nichts anderes denken kann und du fragst mich ernsthaft, ob ich es gerade bereut habe dich geküsst zu haben? Nein, verdammt das habe ich nicht. Ansonsten hätte ich es nicht erneut getan'', wies ich sie darauf hin. ,,War es für dich ein Fehler, das ich dich erneut geküsst habe?'', stellte ich ihr die Gegenfrage.

,,Nehmen wir an, dass ich zugeben würde, dass ich dich nichts dagegen hätte deine Lippen zum dritten Mal auf meinen zu spüren und ich mir nicht erklären kann warum, würde das etwas zwischen uns ändern?'', setzte Selina voraus.

Sie hatte also Angst, dass es zwischen uns etwas ändern würde.

Warum musste man Dinge überhaupt kategorisieren?

Nicht alles konnte eindeutig zugewiesen werden. Nur weil wir uns gerade geküsst hatten, hieß das nicht, dass wir direkt Freund und Freundin waren.

Eventuell mussten wir noch gar nicht definieren, was genau wir waren. Manchmal reichte es aus, wenn man etwas fühlte und dieses Gefühl nicht direkt einordnete.

,,Das hier muss nichts zwischen uns ändern. Wir können einfach weiterhin Freunde bleiben. Nehmen wir an, du würdest mich ein weiteres Mal küssen, würde ich dich ohne weiteres zurückküssen, weil ich das hier genauso gerne wiederholen würde wie du.'' Schon im nächsten Augenblick spürte ich erneut ihre Lippen auf meinen und ich war mehr als erstaunt, als ich ihre Zunge wahrnahm, die sich ihren Weg in meinen Mund bahnen wollte. Ein Laut drang aus meiner Kehle, den sie scheinbar nicht erwartet hatte. Selina ließ von mir ab und sah mich verdutzt an. ,,Du machst mich fertig'', meinte ich lächelnd.

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