Bahnhof
Jin
Die Kälte war beinahe schmerzhaft. Schnaubend schlug ich meinen Mantelkragen hoch, als ich aus dem überfüllten Zug ausstieg. Mein Blick glitt über die sich bewegende Menschenmasse. Alles schien in Eile, so wie ich selbst, ob es nun darum ging, den richtigen Bahnsteig zu finden oder schnell genug in den Zug einzusteigen. Die metallenen Bänke waren leer, da jeder von einem Ort zum nächsten hetzte.
Nein, nicht ganz.
Irritiert erkannte ich einen Jungen auf einer der kalten Bänke sitzen, sein halbes Gesicht wurde von einem dunkelgrünen Schal verdeckt und er hatte die dicke Jacke eng um sich geschlungen. Es war halb neun an einem Mittwoch, musste der nicht in die Schule? Er konnte nicht älter als sechzehn Jahre alt sein, so zierlich, wie er war.
Ich hatte nicht angehalten und lief gerade an ihm vorbei, als er seinen Blick hob. Ich schaute direkt in seine Mandelaugen, doch er wandte den Blick sofort wieder ab.
Ich wurde von einem vorbei rennenden Geschäftsmann angestoßen und passte mich wieder dem Eiltempo der übrigen Menschen an. Auch ich musste zu einem anderen Bahngleis und hatte nur noch vier Minuten.
Seufzend fasste ich meine Tasche fester und legte an Geschwindigkeit zu, versuchte das Stechen der Kälte in meinem Gesicht zu ignorieren.
-
Auch das noch! Verärgert schaute ich auf die Anzeige, die mir verriet, dass mein Zug aufgrund eines technischen Fehlers ausfiel. Der Ersatzverkehr mit Bussen sei gewährleistet. Die Dunkelheit und ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass es bereits halb acht war. Bis ich zu Hause wäre, würde noch über eine halbe Stunde vergehen, mit dem Bus wahrscheinlich noch mehr.
Ich stieg die Treppen hoch und überquerte das Gleis, auf dem ich heute Morgen angekommen war. Die Lampen strahlten ein fahles Licht ab, doch es war weit und breit niemand zu sehen. Dachte ich zumindest.
Erstaunt blieb ich stehen und atmete einen Moment durch, eine weiße Wolke erschien vor meinem Gesicht und machte mir die Kälte noch deutlicher. Auf derselben Bank wie vorhin saß der Junge und starrte vor sich hin. Ich hatte ihn zuvor nicht so beachtet, doch der Schal und seine braunen Haare, die ihm in die Stirn fielen, waren mir in Erinnerung geblieben.
Langsam ging ich auf ihn zu und unsere Blicke trafen sich, als er den Kopf hob. Sein Körper bewegte sich nicht, die Schultern waren angehoben und Nase und Mund im Schal verborgen. Seine Haut war ganz blass und seine Augen gerötet. Ich spürte sofort Mitleid in mir aufsteigen und zog die Augenbrauen etwas zusammen. Er regte sich überhaupt nicht, die Hände hatte er in seine Taschen gesteckt.
Ich warf noch einen Blick auf die Uhr und setzte mich dann neben ihn. Er schaute geradeaus und schien einen Punkt in der Dunkelheit zu fixieren.
"Hey, ich bin Jin. Wie heißt du?"
Ich dachte, er würde nicht mehr antworten, als ich einige Sekunden abwartete. In Gedanken saß ich bereits auf meinem warmen Sofa mit einer heißen Tasse Tee in der Hand. Doch dann hob er langsam den Kopf an und befreite seinen Mund vom Schal. Seine Lippen waren blau und er sprach sehr kontrolliert.
"Mein Name ist Taehyung."
Ich nickte und beobachtete ihn von der Seite. "Sitzt du seit heute Morgen hier?" Er zuckte als Antwort nur langsam mit den Schultern. Er musste völlig durchgefroren sein. Ich überlegte, was ich nun mit ihm anfangen sollte. Ich konnte ihn hier nicht einfach sitzen lassen, er würde erfrieren.
"Worauf wartest du?"
Vielleicht holte ihn ja jemand ab? Oder er musste einen ganz bestimmten Zug nehmen? Oder es machte ihm Spaß, sich zu Tode zu frieren.
Er zuckte erneut mit den Schultern.
"Hast du kein Zuhause?"
Ich erwartete noch ein Schulterzucken, doch diesmal kam keine Reaktion. Ich musterte ihn noch genauer, seine Kiefer waren aufeinander gepresst. Dann drehte er den Kopf von mir weg, zu mir und wieder geradeaus. Es dauerte einen Moment, ehe ich verstand, dass das ein Kopfschütteln gewesen sein musste.
"Willst du mit zu mir?"
Ich hasste es, wenn ich redete, ohne darüber nachzudenken. Jetzt musste er von mir denken, ich wäre irgendein Perverser, der kleine Jungs entführte.
Diesmal schaute er mich direkt an, als wolle er mein Angebot prüfen. Seine Augen wirkten hoffnungsvoll, obwohl seine Augenbrauen misstrauisch zusammengezogen waren. Ruckartig bewegte er seinen Kopf nach unten, ohne den Blick von mir zu nehmen.
Regungslos schaute ich ihn an. Sollte das ein Nicken gewesen sein?
"Ich muss irgendwo unterkommen", murmelte er konzentriert, seine Stimme klang trotz des leichten Zitterns sanft. Einen Moment starrte ich ihn noch an, bevor ich nickte und aufstand.
Abwartend beobachtete ich ihn, doch er bewegte sich nur sehr langsam, als er seine Hände aus den Jackentaschen nahm, um sich abzustützen. Ich reichte ihm eine Hand und musste ein überraschtes Zischen unterdrücken, er war so kalt. Sofort hielt ich ihm noch die zweite Hand hin, sein ganzer Körper war steif von der Kälte und seine Beine hielten ihn kaum. Wann er wohl zuletzt etwas gegessen hatte?
Ich wagte nicht, mich in ihn hineinzuversetzen. Ich konnte kaum die fünf Stunden zwischen Frühstück und Mittagspause ohne Essen aushalten. Ich nahm meine Tasche auf die andere Seite und ging dicht neben ihm, falls seine Beine doch nachgeben sollten. Er war etwas kleiner als ich, was durch die hochgezogenen Schultern noch stärker auffiel.
Seine Kiefer waren noch immer angespannt. Ich vermutete inzwischen, dass er zwanghaft ein Zähneklappern unterdrücken wollte. Nun bemerkte ich auch sein Zittern. Durch die Bewegung gelang es ihm nicht mehr, genügend Körperspannung aufzubringen, um dem entgegenzuwirken.
Wir redeten nicht viel, aber nach etwa einhundert Metern hatte ich meinen Arm um seinen unteren Rücken gelegt, um ihm etwas mehr Halt zu geben. Nun konnte ich das Zittern direkt spüren, seine Muskeln schienen nicht einen Moment still zu halten. Den Schal hatte er sich wieder über seinen Mund gezogen, während vor meinem Gesicht neue kleine Wölkchen entstanden. Bald standen wir an der Bushaltestelle und mussten zum Glück nicht lang warten.
Um uns herum standen viele Menschen, die ebenfalls einsteigen wollten, doch ich ließ nicht zu, dass wir zurückgedrängt wurden. Ich schob Taehyung auf die sich öffnende Tür zu und bezahlte für uns beide das Ticket.
Wir bekamen sogar noch Plätze nebeneinander, seufzend ließ ich mich auf meinen Sitz fallen. Die angenehme Wärme kam mir gerade recht und ich öffnete meinen Mantel ein wenig. Der Junge neben mir machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Ich beobachtete ihn und stellte erschrocken fest, dass sich Tränen in seinem Augenwinkel bildeten.
"Stimmt etwas nicht?", fragte ich leise.
Er schüttelte langsam mit dem Kopf und hielt die Augen geschlossen. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie eine Träne sich langsam ihren Weg über seine bleiche Haut bahnte und in seinem Schal endete. Ich wollte seine Hand greifen, zuckte aber sofort zurück, als er leise aufwimmerte.
"Taehyung", murmelte ich besorgt und verstand nicht, was vor sich ging.
"Tut weh", brachte er zwischen zusammengebissen Zähnen heraus und kniff weiter die Augen zu. Nun konnte ich folgen. Nachdem er so lang draußen in der Kälte gesessen hatte, war sein Körper mit der plötzlichen Wärme überfordert. Ihm musste jeder Zentimeter seiner Haut schmerzen.
-
Etwa zwei Stunden später saßen wir in der kleinen Küche meiner Wohnung und aßen Nudelbrühe. Taehyung hatte sich endlich etwas aufgewärmt, eine warme Dusche und die Wolldecke um seine Schultern hatten dabei geholfen.
Es brannte mir auf der Zunge, ihn mit Fragen zu überhäufen, doch ich musste mich zurück halten. Er hatte mir noch nichts weiter erzählt, doch ich war froh, ihn mit mir genommen zu haben. Allein das Lächeln, das er mir geschenkt hatte, als er mich am Herd stehen gesehen hatte. Solch ein Lächeln hatte ich noch nie vorher gesehen, es war einfach nur wundervoll. Und so herzlich.
"Jin."
Ich sah auf und bemerkte, dass er mich beobachtete. Ich lächelte ihn ermutigend an und wollte, dass er weiter sprach.
"Also... Danke, dass ich heute Nacht hier bleiben darf. Ich schätze, du hast eine Erklärung oder so verdient." Er geriet ins Stocken, also versicherte ich ihm, dass er mir keine Erklärung schuldig war, woraufhin er nickte. Dennoch begann er zu erzählen.
"Eigentlich war alles in Ordnung. Ich wohne bei meiner Mutter und ihrem Freund. Also habe ich, bis gestern. Heute morgen haben sie mich vor die Tür gesetzt."
Er starrte auf seine Hände, den leeren Teller hatte er etwas von sich geschoben.
"Einfach so? Ohne Grund?" Entrüstet legte ich den Löffel beiseite und konzentrierte mich vollkommen auf den verunsicherten Jungen.
"Na ja, also ich bin schwul." Seine Finger umspielten sich ruhelos und ließen seine Nervosität erkennen. Verwirrt runzelte ich meine Stirn.
"Na und?"
Langsam sah er auf und schien nach irgendetwas in meinem Gesicht zu suchen.
"Ich habe es ihnen heute beim Frühstück gesagt. Daraufhin ist meine Mutter komplett ausgeflippt. Sie hat mich angeschrien und einfach raus gezerrt. Ich sollte 'nie wiederkommen', sie wolle keine Schwuchtel als Sohn."
Es fiel ihm sichtlich schwer, ihre Worte zu wiederholen, und seine Stimme war noch leiser geworden. Inzwischen betrachtete er die Holzmaserung des Tisches.
"Ich stand dann ratlos vor der Tür, bis ihr Freund rauskam und mir zumindest die Jacke und den Schal gegeben hat. Aber ich kann seinen Blick einfach nicht vergessen."
Traurig verzog Taehyung sein Gesicht und ich hatte das dringende Bedürfnis, ihn an mich zu drücken. Stattdessen streckte ich nur den Arm aus und legte meine Hand auf seinen Unterarm. Langsam schaute er auf und seine Augen glänzten.
"Macht es dir nichts aus?"
Ich lächelte aufmunternd und schüttelte den Kopf. Diesmal wusste ich sofort, was er meinte. Ich war beeindruckt, dass er mir das alles erzählt hatte, obwohl er doch gerade erst durch seine Ehrlichkeit sein Zuhause verloren hatte.
"Du bist, wie du bist. Das kann niemand beeinflussen und das ist auch gut so. Außerdem bin ich der Letzte, der etwas dagegen sagen könnte." Ich zwinkerte ihm zu und wartete ab, ob er es verstand. Es war süß, wie seine Augen sich weiteten und seine Lippen sich leicht zu einem Lächeln verzogen.
"Du meinst, du bist auch... Also, du weißt schon?"
Ich neigte zustimmend den Kopf und lächelte etwas breiter.
-
Dieser Tag ist nun bereits einige Monate her. Tae durfte bei mir bleiben und entgegen unserer eigenen Erwartungen waren wir nun seit zwei Monaten ein Paar. Ein richtiges Paar, mit Händchen halten und Küssen und allem, was dazu gehört.
Wie sich herausstellte, war der Junge, den ich auf höchstens Sechzehn geschätzt hatte, bereits achtzehn-einhalb und somit nur knapp drei Jahre jünger als ich.
Er liebte es, zu kuscheln, und sein Lächeln und seine manchmal naive, kindliche Art brachten mich immer wieder zum Lachen. Ja, er hatte mein Herz für sich eingenommen.
Jeden Morgen, wenn ich aus der Bahn stieg, um zur Universität zu fahren, lief ich an der Metallbank vorbei und musste an meinen Tae denken. Und jeden Morgen schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen.
Ende
~ ~ ~
Hey, ihr Lieben,
ich bin mir nicht sicher, wie ich gerade (nach fast zwei Monaten) darauf gekommen bin, aber ich habe hier mal drüber geschaut und dabei festgestellt, dass ich hier überhaupt nichts dazu geschrieben hatte... Irgendwie sah das für mich kalt und abweisend aus, im Vergleich zu meinen anderen Geschichten, deshalb hab ich entschieden, hier einfach noch etwas zu schreiben.
Damit müsst ihr jetzt leben.
Also, achtet bitte auf euch und bleibt gesund!
LG SerenaTopas
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