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Mit einem Satz sprang der Vampir vom Stuhl und dann einige Schritte zurück. Er riss die Hände hoch, um Melissa zu signalisieren, dass er keine Bedrohung für sie darstellte. »Entschuldige. Oh, es tut mir so leid. Ich ... ich wollte dir keine Angst einjagen.« Jetzt war er es, der stammelte.

»Warum hast du mich so angestarrt?« Noch immer klopfte Melissas Herz wild. »Du hast meinen Hals fixiert, als wolltest du ...«

»Nein. Oh Gott, nein. Das wird nie wieder passieren. Es ist nur ... seit wann hast du diesen roten Striemen am Hals?«

»Bitte?« Durcheinander fuhr Melissa mit dem Zeigefinger über die genannte Stelle. Die Haut fühlte sich empfindlich an, aber ansonsten konnte sie nichts ertasten.

»Komm mit!« Mit einer bewusst langsamen Bewegung griff Adam nach ihrer Hand und zog sie vom Stuhl, raus aus dem Raum und direkt hinein ins nächste Schlafzimmer, wo ein Spiegel an der Wand hing. Zunächst fiel ihr vor allem die hoffnungslos verlaufene Wimperntusche auf, welches sie tatsächlich zum Fürchten aussehen ließ. Doch dann erkannte Melissa, was den jungen Vampir in Wahrheit entsetzt hatte. Eine eisige Kälte kroch in ihre Glieder und bis in ihr tiefstes Innere, als sie mit dem Finger langsam den dünnen roten Striemen nachfuhr, der schräg über ihre linke Halsseite verlief. Eine merkwürdige Schwäche erfasste ihre Beine und sie merkte, wie Adam sie an den Oberarmen ergriff und stützte. Behutsam führte er sie zur Bettkante und half ihr, sich zu setzen. Sie zitterte am ganzen Körper.

Wenn auf ihrem Hals eine solche Linie zu erkennen war, in welchem Zustand befand sich dann Nicolas?

Lia. Sie mussten das so harmlos wirkende, blonde Mädchen auffinden. Nicht eine Sekunde länger glaubte Melissa, dass Nicolas aus freien Stücken verschwunden war. Und Lia spielte zweifellos eine entscheidende Rolle dabei, es war ihr nur noch nicht klar, welche.

Sie hatte ein schneidendes Brennen an ihrem Hals verspürt, als sie, von Tara und Adam verlassen, auf das blonde Mädchen gewartet hatte. Doch schnell war der pulsierende Schmerz verflogen und sie hatte es als Folge von Adams Biss gewertet.

Lia musste den verbliebenen Striemen bei ihrer Ankunft sofort gesehen haben. Hätte Melissa doch selbst einen Blick in den Spiegel gewagt, sie hätte unmittelbar gewusst, was Sache war. Stattdessen hatte sie zugelassen, dass Lia sie mit einem Schal ausgestattet hatte, der jeden Hinweis verdeckte. Lia hatte über alles Bescheid gewusst. Über ihre Gefühle zu dem großen Vampir und seine für sie. Über den Zauber, der es ihnen nicht erlaubte, sich zu weit voneinander zu entfernen – und über die Verbindung zwischen ihnen, die eine Verletzung des einen auf der Haut des anderen nachzeichnete. Dieses Biest hatte alle Informationen genutzt und gegen Nicolas verwendet.

Wo auch immer Nicolas gerade steckte, er brauchte dringend Hilfe.

Melissa schwindelte bei dem Gedanken, dass sie darüber nachgedacht hatte, den Bernstein zu zerstören und den Zauber zu lösen. Sie hätte nie erfahren, in welcher Lage Nicolas sich befand.

Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Sie musste sich konzentrieren. Was konnte sie tun?

Sie musste das blonde Mädchen noch einmal ins Gästehaus locken. Sie würde Lia erzählen, dass ihr Streit ein Missverständnis war, dass sie über das Gespräch nachgedacht hatte und nun ihre Meinung teilte und dringend ihre Hilfe benötigte, um Nicolas schneller zu vergessen. Dass sie in der Nacht noch zu aufgewühlt gewesen war, um zu erkennen, wie recht ihre Freundin hatte. Lia würde es verstehen. Sobald Lia bei ihnen war, würden sie einen Weg finden, diese dazu zu bringen, alles preiszugeben, was sie wusste.

Melissa griff nach ihrem Handy und versuchte Lias Nummer zu wählen, doch das Gerät rutschte ihr aus ihren bebenden Fingern. Sie fluchte gepresst.

»Warte ein paar Minuten, wenn du so mit ihr redest, weiß sie sofort, was los ist.« Es verlangte Melissa einiges ab, um die nötige Geduld aufzubringen, doch sie wusste, dass Adam recht hatte.

»Was glaubst du, warum Lia einen solchen Hass auf alle Vampire hat?«

Adam seufzte. »Ich habe ehrlich keine Ahnung.«

»Hat Marlon dir nie etwas gesagt?«

»Nein, nicht über Lia. Nur das Josi nicht so gut auf Vampire zu sprechen ist. Scheint so ein Hexending zu sein. Die Abneigung unserer Art gegenüber wird quasi von Generation zu Generation weitervererbt. Zum Glück ließ Marlon sich davon nicht überzeugen. Aber was Lia betrifft ... selbst er hatte keine Ahnung, was Lia dachte.« Adam zuckte mit den Schultern. Dann griff er nach einem Wasserglas, das auf einem Regalbrett stand, füllte es an dem kleinen Waschbecken in der Zimmerecke auf und reichte es Melissa, als sie wieder ein wenig Kontrolle über ihre Hände hatte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seit dem Vorabend nicht einen Schluck getrunken hatte. Hastig kippte sie die Flüssigkeit hinunter.

»Ich denke, im Moment ist es wichtiger, Nicolas ausfindig zu machen, als über Lias Motive nachzugrübeln«, sagte Adam, als er das Glas abermals für sie füllte.

Melissa wählte, doch sofort erklang das Besetztzeichen in ihrem Handy. Telefonierte Lia im Augenblick? Nervös lief sie einige Schritte auf und ab und versuchte es noch einmal. Gleiches Ergebnis. Wieder wartete sie. Um nicht völlig tatenlos rumzustehen und dabei durchzudrehen, nutzte sie die Zeit, um sich notdürftig das Make-up vom Vorabend aus dem Gesicht zu waschen. Erneut wählte sie die Nummer – wieder besetzt. Noch zweimal wiederholte sie den Vorgang.

Entweder Lia telefonierte ziemlich lange – oder sie hatte Melissa blockiert.

Das gleiche Ergebnis erzielten sie mit Adams Handy.

»Wie sollen wir sie denn nun finden? Sie könnte überall sein«, fragte Melissa fast schon panisch.

»Überhaupt nicht. Wir sollten uns nicht länger mit Lia abgeben, sondern uns auf Nicolas konzentrieren. Um das kleine Miststück können wir uns auch später noch kümmern.«

Die Gedanken flogen nur so durch ihren Kopf. Sie mussten Nicolas finden, so schnell wie möglich. Ohne sich von der Bettkante zu erheben, griff Melissa nach ihrem Handy.

»Was hast du vor?«

»Marlon anrufen. Er hat Nicolas bereits zweimal auffinden können. Er schafft es auch ein drittes Mal.« Triumphierend sah sie Adam an, doch dieser starrte nur düster zurück und schüttelte kaum merklich mit dem Kopf. Irritiert kniff sie die Augen zusammen, bewegte aber dennoch den Finger Richtung Marlons Nummer.

»Warte!«

Fragend hob Melissa die Augenbrauen.

»Erzähl es ihm nicht. Sag nichts von Lia, es geht ihm ohnehin nicht gut. Das würde ihm den Rest geben.« Melissa nickte und daraufhin setzte Adam sich neben ebenfalls auf die Bettkante und ließ sie gewähren. Diesmal erklang sofort das Freizeichen.

»Wag es nie wieder, diese Nummer zu wählen«, schoss Josis Stimme giftig aus dem Handy.

Shit. Melissa hatte überhaupt nicht mehr an die alte Frau gedacht, die Marlon mit aller Macht von den Vampiren abzuschirmen versuchte. Doch sie war einmal an seinem Wachhund vorbeigekommen. Sie würde es wieder schaffen.

»Josi, wie schön deine Stimme zu hören«, sagte sie übertrieben freundlich. »Ich will auch gar nicht lange stören, nur mal kurz mit Marlon reden. Ich habe ihn viel zu lange nicht mehr gehört. Und da war heute diese lustige Sache und ich dachte, er könnte sicher ein wenig Aufheiterung gebrauchen und ich erzähle ihm einfach davon und ...«

»Sei still!« Schroff unterbrach Josephina Melissas vollkommen überdrehten Singsang. »Als du das letzte Mal nur kurz mit Marlon reden wolltest, hast du ihm einen Zauber abverlangt, gegen mein ausdrückliches Verbot und obwohl dir bewusst war, dass er nicht in der Verfassung für solche Tätigkeiten war.« Hass sprach aus Josephinas Worten. »Ich hoffe, dir ist klar, dass er seitdem nicht mehr aufgestanden ist, beinahe den ganzen Tag schläft und kaum noch isst. Es hat ihm sein letztes bisschen Kraft gekostet. Und ich kann wirklich nicht sagen, wie lange er diesen Zustand noch durchhält. Nichts, was ich versuche, hilft ihm.« Die Stimme der Hexe brach und verriet größte Sorge. Melissa erstarrte und presste die Zähne zusammen. Lia hatte ihr beteuert, dass Marlon auf dem Weg der Besserung war. Sie musste in Betracht ziehen, dass kein Wort aus dem Mund ihrer ehemaligen Freundin jemals ehrlich gewesen war. Marlons Zustand verschlechterte sich weiterhin, und Melissa trug eine Mitschuld daran. Sie hatte unterschätzt, wie sehr die Ausführung von Magie den jungen Zauberer zusätzlich schwächen würde. Betroffen schwieg sie.

»Ruf hier nie wieder an. Ich möchte dich nicht mehr sehen oder hören, ja nicht mal an dich denken. Du hast deine Entscheidung getroffen, als du dich für diese Kreaturen entschieden hast. Du bist kein Stück besser als diese Blutsauger. Du denkst nur an dich, nicht an andere. Ich wollte dir helfen, von diesem Pack wegzukommen, aber stattdessen hast du es vorgezogen, genau wie sie zu werden, einzig auf deinen eigenen Vorteil bedacht und ohne Rücksicht auf Verluste.« Josephina sprach leise, doch ihre Stimme triefte vor Abscheu. »Kein Vampir wird jemals wieder seinen Fuß in dieses Haus setzen. Und auch keiner ihrer Freunde. Und wenn ich es dafür niederbrennen müsste. Seitdem mein Enkel die Vampire kennt, befindet er sich in einer stetigen Abwärtsspirale. Ich hätte das alles viel eher unterbinden müssen. Ich hatte gewusst, dass diese Monster nichts Gutes bringen, jede Hexe weiß das. Doch Marlon hatte etwas anderes als dreckige Blutsauger in eurer kleinen Gruppe gesehen. Und sieh', was es ihm gebracht hat. Egal, wie harmlos und liebenswürdig sie sich geben – und dieser Adam war verflixt gut darin – Vampire sind und bleiben Abschaum. Und wenn du dich freiwillig von ihnen zum Futtertier machen lässt, nur um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, dann hoffe ich, dass du daran verreckst.« Den letzten Satz spie die alte Hexe geradezu aus. Dann brach das Gespräch ab. Josephina hatte es beendet.

Mit offenem Mund starrte sie Adam an, der die Augen geschlossen hielt und sich Stirn und Nasenrücken rieb. Der junge Vampir hatte jedes Wort verstanden. »Hast du gewusst, wie miserabel es Marlon geht?«

Adam holte tief Luft. »Nicht gewusst, aber ... geahnt. Nach der Entführung hat er sich noch einige Male bei mir gemeldet. Immer nur per Textnachricht, immer kurz. Und seit Nicolas verschwunden ist, kam nichts mehr.«

Am liebsten hätte Melissa sich wieder in Embryonalstellung zusammengerollt. Aber genau dieses Verhalten hatte ihr so viele zusätzliche Schwierigkeiten beschert.

Verzweifelt suchte sie nach etwas, das ihr Halt gab, und lehnte sich schließlich gegen Adam, der neben ihr saß. Der Körperkontakt dämpfte ihre Panik ein wenig und dem Vampir schien es ähnlich zu ergehen. Sie presste sich eine Faust gegen die Stirn und schloss die Augen. Was hatte sie noch alles nicht mitbekommen, weil sie sich nur in ihrem Selbstmitleid gesuhlt hatte?

Und wie sollten sie jetzt Nicolas finden?


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