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Absolut lautlos war er hinter sie getreten. Reumütig sah er sie aus hellbraunen Augen an.
»Adam!« Er war zurückgekehrt. Sie war nicht mehr alleine. Intuitiv wollte sie auf ihn zustürzen und ihn drücken und der Welt danken, dass er hier war. Doch obwohl sie ihn im ersten Augenblick anstrahlte, spürte sie, wie ihr Puls zu rasen begann und ihr Körper sich versteifte. Immer verkrampfter wurde ihr Lächeln und ihr Kopf spulte den Moment, in dem er ihren Hals mit seinen Zähnen aufgerissen hatte, wieder und wieder ab. Fast spürte sie die Luftnot und die Schmerzen erneut. Es war das erste Mal seit dem Vorfall, dass er vor ihr stand.
Adam rührte sich nicht, als würde er ahnen, dass jede Bewegung es ihr nur schwerer machte. Er sah sie ruhig an, abwartend und kein bisschen bedrohlich. Je länger sie ihn anstarrte und nach Luft rang, desto tiefer sanken seine Mundwinkel, bis er schließlich die Augen schloss und den Kopf sinken ließ.
»Tara hatte recht. Du wirst dich in meiner Nähe nicht mehr sicher fühlen können.« Die Traurigkeit in seiner Stimme erzeugte einen harten Knoten in ihrem Bauch. Sie verschlang beide Hände ineinander und hielt sie vor ihrer Brust.
»Nein, nein, so ist es nicht. Du hast mich nur erschreckt. Gib mir einen Moment.« Sie musste sich konzentrieren. Einatmen, ausatmen, so schwierig war das nicht. Das war nur Adam, der sie hilflos ansah. Ihr Freund, kein Monster. Mit aller Macht zwang sie sich, tief und ruhig Luft zu holen. Nur Adam. Sie konzentrierte sich auf sein Gesicht, das so fein geschnitten und makellos war und ... verdammt, waren das Tränen, die unter seinen geschlossenen Lidern schimmerten? Ein Tropfen rann über die Wange des Vampirs. Es zerriss Melissa schier das Herz. Er litt mindestens so sehr unter dem grässlichen Angriff, wie sie selbst. Noch immer mit wild galoppierendem Herzschlag, jedoch nicht mehr komplett bewegungsunfähig, überbrückte sie die wenigen Meter zwischen ihnen und legte ihre Arme um Adam. Er ließ es reglos geschehen, als wäre sie ein Reh, das man nicht verschrecken durfte. Fest drückte sie den Vampir. Er hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Monster, das sie angegriffen hatte und seine Nähe und Wärme wirkten sofort tröstlich. Melissas Körper begann sich zu entspannen. Schließlich ließ sie ihren Kopf gegen seine Schulter sinken. Erst als ihr Herzschlag sich vollständig beruhigt hatte, wagte es Adam, die Umarmung zu erwidern.
»Es tut mir leid, ich hätte diese Sachen nie zu dir sagen dürfen. Ich hätte sehen müssen, wie es dir ging. Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie du dich ohne Nicolas' Hilfe ernähren kannst. Ich war wirklich egoistisch.«
»Nein, hör auf. Wir wussten beide nicht mehr, wo uns der Kopf stand. Jetzt sind wir schlauer und so etwas wird uns nie wieder passieren. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen.«
»Hab' ich längst. Ich weiß, dass du mir nichts antun willst. Das war nur ein dummer Unfall.«
»Danke«, murmelte er in ihr Haar. »Dafür, dass du mir vergibst und besonders dafür, dass du nicht schreiend weggelaufen bist. Und glaub mir, ich konnte hören, wie schwer es dir gefallen ist.« Schnell wischte er sich über die feuchte Wange. Melissa hob den Kopf und lächelte. Und jetzt blieb ihr Körper entspannt. Noch einen Moment verweilte sie in der beruhigenden Umarmung, bevor sie sich von ihm löste.
»Weiß Tara, dass du hier bist?«, wollte sie wissen.
»Tara? Nein, glaubst du, sie hätte mich gehen lassen?«
Melissa grinste. Eher hätte die Vampirin ihn an einen Stuhl gefesselt. »Warum bist du zurückgekommen?«
»Um mich bei dir zu entschuldigen. Es tut mir unendlich leid, was ich dir angetan habe.«
Abwehrend hob Melissa die Hände und wollte schon Widerspruch einlegen und dass es nichts gab, was ihm leidtun musste, doch Adam ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen.
»Und um dich etwas zu fragen.« Er rieb sich nachdenklich mit dem Handrücken über die Stirn. »Kannst du dir ernsthaft vorstellen, Nicolas hat uns nur den Rücken gekehrt, um uns zu schützen?«
Einige Sekunden betrachtete Melissa ihn forschend. Adam war also am gleichen Punkt angelangt, wie sie selbst. »Nein. Kann ich nicht. Irgendetwas stimmt nicht an der Sache«, antwortete sie.
»Warum denkst du das?«
Melissa seufzte, dann setzte sie sich. Adam tat es ihr gleich. »Hast du das gesamte Telefonat mitgehört?« Er nickte entschuldigend. Es wunderte Melissa nicht. Mit seinen Vampirohren dürfte es ihm ein Leichtes gewesen sein, die Person am anderen Ende der Leitung zu verstehen. »Dann erspare ich mir jetzt alle Einzelheiten zu Lia.« Kurz schloss Melissa die Augen und schluckte den beißenden Zorn hinunter, der sie bei dem Gedanken an das blonde Mädchen überfiel. »Das Telefonat war nicht mein einziges Gespräch mit Kari gewesen.«
Adams Augen weiteten sich. Fragend sah er sie an.
»Ich habe sie bereits gestern Abend in der Stadt getroffen, als ...« Melissa zögerte kurz, bevor sie beschloss, dass Adam nichts von der Szene mit Alexander zu wissen brauchte. »Nun, wir haben geredet und irgendwie hat Kari es fertig gebracht, mich dazu zu bringen, ihr zu sagen, dass Nicolas fortgegangen ist. Zunächst hat sie mich verspottet, wie es nicht anders zu erwarten war. Doch dann ...« Melissa versuchte ihre Gedanken zu sortieren, um erklären zu können, was ihr derart merkwürdig vorgekommen war, ohne dass sie es in der Situation direkt einordnen konnte. Adam wartete geduldig.
»Dann muss Kari klar geworden sein, dass Nicolas nicht nur mich, sondern euch ebenfalls zurückgelassen hat. Sie wirkte ehrlich erstaunt und hat sogar noch extra nachgefragt.« Melissa knetete gedankenversunken ihre Finger. »Als ich Nicolas' Nachricht mit seinen Beweggründen das erste Mal gelesen habe, da konnte ich nicht glauben, dass er seine Worte ernst meinte. Ich wollte es nicht glauben. Es schien keinen Sinn zu ergeben. Aber schließlich gestand ich mir ein, dass seine Begründung durchaus schlüssig klang. Du hattest anfangs die gleichen Zweifel wie ich. Doch auch diese erklärte ich mir damit, dass du Nicolas' Entscheidung nicht akzeptieren konntest.« Melissa warf Adam einen prüfenden Blick zu. Dieser nickte zustimmend. »Aber als sich sogar Kari überrascht über Nicolas' Fortgang zeigte - und das, obwohl es sicherlich ganz in ihrem Interesse ist - hat mich das extrem irritiert. Jedoch erst als ich die Ruhe fand, alles von vorne bis hinten zu durchdenken, wurde mir klar, dass dieses Verhalten absolut nicht zu ihm passt, egal wie logisch alles klingt.« Gespannt sah Melissa Adam an.
»Ja, etwas daran ist gehörig faul. Nicolas konnte manchmal die Pest sein. Er kam und verschwand, wie es ihm gefiel, oft hatten wir keine Ahnung, wo er sich aufhielt, und nur selten konnte man ihn erreichen. Doch wenn es darauf ankam, war er zur Stelle. Nachdem ich zum Vampir geworden war, versprach er, dafür zu sorgen, dass ich regelmäßig trinken konnte, ohne dabei auf Menschen angewiesen zu sein. Denn das hätte jederzeit zu Unfällen führen und meine Enttarnung riskieren können. Man kann über ihn eine Menge sagen, nicht alles davon ist positiv, doch seine Versprechen hat er immer gehalten. Dafür war er mit diesen mitunter auch recht sparsam.«
Melissa erinnerte sich, wie Nicolas ihr nach ihrem holprigen Kennenlernen gesagt hatte, dass sie in seiner Nähe sicher sein würde. Und wie konsequent er dieses Versprechen umgesetzt hatte.
»Der Nicolas, den ich kenne, hätte niemals zugelassen, dass ich eine Gefahr für andere Menschen darstellen könnte«, sagte Adam. »Besonders nicht für dich oder Amia.«
Melissa nickte nachdenklich. »Er hat mir versprochen, bei mir zu bleiben, solange es ihm möglich ist.« Diesmal lag keine Bitterkeit in ihrer Stimme bei der Erinnerung an Nicolas' Worte, sondern ernsthafte Sorge.
Mit einer raschen Bewegung ergriff Adam ihre Hand und drückte diese fest. Unwillkürlich zuckte sie zusammen und der Vampir zog seine Finger erschrocken zurück. Melissa riss die Augen auf und kurz wartete sie darauf, dass sich ihr Puls beschleunigen würde - doch diese Reaktion blieb aus. Adam lächelte sie betreten an. »Dann lass uns herausfinden, was ihn wirklich daran hindert bei dir zu sein. Denn sein schwachsinniges Gefasel von 'das ist sicherer für euch', klingt zu sehr nach einem Vorwand. Es muss etwas anderes passiert sein, dass ihn zum Gehen veranlasst hat.«
Jetzt war es Melissa, die Adams Hand ergriff und drückte. »Danke.«
Adam konnte nicht verheimlichen, wie sehr es ihn erleichterte, dass Melissa nicht bei jeder schnellen Bewegung von ihm in Schockstarre verfiel. Deutlich entspannte sich auch seine Körperhaltung. Dann glitt sein Blick über das Gemälde hinter ihr, welches einmal Nicolas' Ebenbild gezeigt hatte. »Dir ging es nicht besonders gut, nachdem wir fort waren, oder?«, fragte er mitfühlend.
Augenblicklich schoss Melissa das Blut in die Wangen, ihr wurde unangenehm heiß und beißende Schuldgefühle breiteten sich in ihr aus. Wie hatte sie nur derart die Kontrolle verlieren können? Vor lauter Hitze wickelte sie sich den Schal vom Hals, den sie trug, seit Lia ihr Outfit für den gestrigen Abend zusammengestellt hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie noch immer in den Klamotten vom Vortrag herumlief, und wie ihr großzügiges Make-up mittlerweile aussah, wollte sie sich lieber gar nicht ausmalen. Sie musste aussehen, wie eine Irre. Es war ein Wunder, dass Adam nicht vor ihr fliehen wollte - doch als sie den entsetzten Ausdruck im Gesicht des Vampires erblickte, war sie sich nicht mehr so sicher, dass er es nicht gleich tun würde.
»Es tut mir so leid. Ich ... ich hätte das nicht tun dürfen. Das Bild war bestimmt wichtig für euch und ...«, haspelte sie verzweifelt, während Adams Augen an ihr klebten - nicht an dem zerstörten Gemälde.
»Ich glaube nicht, dass die Malerei gerade von großer Bedeutung ist«, stieß der Vampir plötzlich mit heiserer Stimme hervor, ihren freiliegenden Hals fixierend. Sein Blick flackerte. »Melissa ...«
Sie hielt die Luft an. Unwillkürlich presste sie sich enger an die Stuhllehne, was den Abstand zu Adam kaum vergrößerte. Seine Augen waren nicht so finster, wie kurz vor seinem Angriff, und dennoch hatten sie sich verdunkelt.
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