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Sie erhob sich und tapste mit steifen Gliedern in ihr Zimmer. Nicht in die kleine Kammer, sondern in den Raum, den sie so viele Nächte mit Nicolas geteilt hatte. Vor dem Mantel mit dem roten Drachen blieb sie stehen, vergrub ihre Hände in den weichen Stoff und zog diesen an ihr Gesicht. Tief sog sie den Geruch ein. Noch immer hing sein Duft in dem Kleidungsstück. Er hatte diesen Mantel geliebt.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, nahm sie das Teil vom Haken und streckte ihre Arme in die Ärmel, bis Gewebe und Geruch sie vollkommen umhüllten. Dann glitt sie mit den Händen in die Taschen. Seit seinem Fortgang hatte sie sich Nicolas nicht mehr so nah gefühlt. Sie spürte, wie ihr Mund sich zu einem Lächeln verzog. Alle Erinnerungen an die Zeiten mit ihm leuchteten hell in ihrem Geist. Wie er sich nachts an sie gekuschelt und tags Dutzende Male in den Arm genommen hatte. Wie sie zusammen Ausflüge unternommen hatten und das behagliche Beisammensein mit der Familie im Aufenthaltsraum. Sie erinnerte sich an Nicolas, wie er ihr bei der Schneeballschlacht beigestanden hatte und an die drei Wünsche, die er ihr heimtückisch gestohlen hatte.
Und immer wieder sein warmer Blick, verwoben mit dem ihren und seine sanften Worte, die ihr sagten, dass er sie liebte.
Er hatte hoffnungslos aufrichtig dabei gewirkt, Melissa hatte ihm jedes einzelne Wort abgekauft. Konnte das wirklich alles gelogen gewesen sein? Konnte sie sich so wenig auf ihr Gefühl verlassen und war sie derart leicht zu täuschen?
Eine einzige Nachricht hatte all ihr hart erkämpftes Vertrauen zunichtegemacht. Und Lias Worte hatten ihren Zweifel weitergenährt, bis die Wut und Enttäuschung übermächtig aus ihr herausgebrochen waren.
Melissa steckte die Hände in die Manteltaschen. In diesen befand sich normalerweise Nicolas Handy. Seit dem Angriff auf Adam trug er es stets bei sich, anstatt es im Auto zu belassen. Er hatte wert darauf gelegt, immer erreichbar zu sein. Jetzt fehlte das Gerät – natürlich. Nicolas hatte es mitgenommen, doch erreichbar war er nicht mehr. Auch die Autoschlüssel waren fort – was noch in den Taschen steckte, war sein Portemonnaie. Nachdenklich betastete sie das glatte Leder. Melissa war sich bewusst, dass ein Leben als Vampir anders funktionierte als das eines Menschen und dennoch erschien es ihr unpraktisch, ohne jedes Bargeld und ohne Kreditkarte unterzutauchen.
Als sie zum Aufenthaltsraum zurückkehrte, hatte sie einen Entschluss gefasst.
Kurz betrachtete sie die zerfetzte Leinwand, bevor sie sich, noch immer in den übergroßen Mantel gewickelt, auf einen der Stühle niederließ und nach ihrem Handy griff, das sie zuvor auf dem Tisch zurückgelassen hatte. Die Nummer, die sie brauchte, hatte sie lange abgespeichert. Sie wählte. Während sie dem Freizeichen lauschte, schweifte ihr Blick durch das Fenster über die weite Landschaft.
»Das ging schneller, als ich erwartet hatte.« Karis klare Stimme klirrte in ihren Ohren. »Möchtest du endlich Mitglied meiner erlesenen Familie werden?«
Einige Sekunden ließ Melissa die Vampirin warten, bevor sie zu einer Antwort ansetzte.
»Ich will mit Helena sprechen.«
»Hmm ... Du hast meine Frage nicht beantwortet. Aber gut, du scheinst dringlichere Begehren zu haben. Also, warum sollte ich dir diesen Wunsch erfüllen?«
»Du kannst dir deine Spielchen sparen. Du wirst mich ohnehin mit ihr reden lassen.«
Die Vampirin stieß einen verächtlichen Ton. »Was macht dich da so sicher?«
»Du bist zu gespannt darauf zu hören, was ich von Helena möchte. Du kannst dir dieses Geheimnis unmöglich entgehen lassen.«
Ein Kichern erklang am anderen Ende, fast als würde ein junges Mädchen diesen laut erzeugen. »Du hast recht. In Ordnung, lass uns das Geplänkel abkürzen und ich stelle dich zu Helena durch. Ich hoffe, es lohnt sich, und du möchtest nicht nur von ihr hören, ob sie anständig behandelt wird.«
Helenas Ergehen war das Letzte, um das Melissa sich scherte. Kurz erschrak sie aufgrund dieser Erkenntnis. Doch es wollte sie einfach nicht interessieren, ob Helena in ihrem neuen Leben zurechtkam, zu tief waren die Wunden, die ihre ehemalige Chefin ihr zusammen mit den anderen Entführern geschlagen hatte.
»Wir werden sehen«, murmelte Melissa, mehr zu sich selbst als zu Kari.
Es klickte in der Leitung, dann erklang eine seichte Melodie, wie in der Warteschleife beim Zahnarzt. Die alte Vampirin hatte ihren Hofstaat bestens organisiert. Vermutlich instruierte diese gerade jemanden, Helena ein Telefon zu bringen. Melissa ging nicht davon aus, auch nur eine Minute mit ihr reden zu können, ohne dass andere Ohren mithörten. Aber das war auch nicht von Nöten.
»Melissa?« Die Stimme ihrer ehemaligen Chefin überschlug sich fast. »Gott sei Dank. Bist du endlich zu Verstand gekommen? Du wirst jetzt ein gutes Wort für mich einlegen, stimmt's? Sie können mich nicht ewig hierbehalten. Ich freue mich so sehr, deine Stimme zu hören.« Melissa teilte Helenas Freude nicht.
»Ich habe eine kurze Frage.«
»Oh. Ja, okay. Frag. Und dann sprichst du mit Kari, nicht? Oder sag Nicolas, er soll es tun. Er sorgt doch auch dafür, dass sie dich nicht anrührt. Kannst du das für mich tun?«
Melissa ballte die Fäuste zusammen. Wie konnte diese Frau es wagen? Fast genoss sie die Verzweiflung, die Helena ausstrahlte.
»Nein, nur eine Frage. Und lüg mich nicht an.«
»Ich bin leider nicht in der Position, dich am Fragen zu hindern. Mal sehen, ob mir nach einer Antwort ist.« Alle Euphorie war aus Helenas Stimme gewichen.
»Woher wusstet ihr, dass die Vampire untertauchen wollten?«
»Was meinst du?«
»Nach eurem Angriff auf Adam auf dem Herbstfest. Plötzlich hattet ihr es so eilig, Nicolas zu erwischen. Bis dahin glaubtet ihr, alle Zeit der Welt zu haben. Was hatte sich geändert?«
»Ich habe es dir bereits gesagt. Das Vorgehen war unüberlegt gewesen. Und danach mussten wir davon ausgehen, dass ihr gewarnt wart. Es war nur logisch.«
»Nein. So dumm war dieser Tom nicht, eine Aktion zu planen und erst später über die möglichen Konsequenzen nachzudenken. Das war alles nur als Test gedacht, um herauszufinden, ob Adam ein Vampir war und ob das Medikament zuverlässig wirkte. Ihr seid nie davon ausgegangen, die Vampire würden danach direkt die Stadt verlassen. Nur, dass sie beunruhigt sein würden. Und so war es ja auch. Bis zu dem Feuer in ihrem Haus. Erst danach haben sie sich entschlossen, zu gehen. Und das hat euch überrascht.«
Eine ganze Weile hörte Melissa tiefe, lange Atemzüge und wartete angespannt, bis ihre ehemalige Chefin schließlich antwortete.
»Von einem Feuer weiß ich nichts. Aber das erklärt eure Reaktion. Okay. Kann sein, dass diese für uns unerwartet kam. Was ändert es am Geschehen?«
Nichts. Und doch alles.
»Also noch einmal«, wiederholte Melissa, »woher wusstet ihr, dass Nicolas mit seiner Familie fort wollte?«
»Du gibst nicht auf, oder?« Helena seufzte. »Wir hatten einen Informanten. Ihr wurdet beim Packen beobachtet.«
In Melissas Kopf rasten die Gedanken. Hatte sich jemand im Gebüsch versteckt? Oder hinter einem Baum? Vielleicht hatte dieser Tom oder der andere Mann dort mit einem Fernglas auf der Lauer gelegen. Die Vampire waren an diesem Tag extrem angespannt gewesen, wäre ihnen ein Spion aufgefallen? Aber sie selbst hatte es auch geschafft, sich unbemerkt davonzuschleichen. Es war also denkbar. An dem Tag waren sie einige Male vom Haupthaus zur Gartenhütte hin- und hergelaufen. Durchaus möglich, dass ihre Hektik nicht unbeachtet geblieben war. Konnte das sein? Und war es Anlass genug, um eine überstürzte Entführung durchzuführen?
»Wer war es? Wer hat uns beobachtet?«
»Das werde ich dir nie erzählen.« Die Männer waren tot, Helena bereits gefangen und Sarah hatte sich ohnehin schon den Hass der Vampire auf sich gezogen. Es machte keinen Sinn, jetzt noch jemanden zu schützen, außer ...
»Also niemand von euch vieren. Es gibt noch jemanden.«
Helena stieß schnaufend die Luft aus. »Möglich.«
»Wer?« Melissas Handflächen wurden feucht. Sie musste den Namen hören. Sie brauchte die Bestätigung. Doch ihre ehemalige Chefin schwieg. Diese würde nicht mehr preisgeben, es war hoffnungslos, noch auf weitere Informationen zu hoffen.
Wie bei einem netten Plausch unter Freunden wechselte Melissa das Thema. Sie betete, dass ihr Plan aufging. »Sarah hat sich bei mir gemeldet. Sie will sich mit mir treffen. Heimlich. Sie will von mir wissen, wie es dir geht und mir dabei ins Gesicht sehen können, um einzuschätzen, ob ich die Wahrheit sage und ob du tatsächlich wohlbehalten bist. Sie vertraut meiner Handynachricht nicht.«
Melissa bluffte, Sarah hatte nie auf die Nachricht, die sie ihr zusammen mit dem Bild ihrer Mutter geschickt hatte, geantwortet. Möglicherweise passte die Geschichte auch überhaupt nicht zum Charakter der jungen Frau und jeder klardenkende Mensch, der diese kannte, würde die Lüge sofort durchschauen. Doch das spielte keine Rolle. Helena dachte nicht klar, zu groß musste ihr Wunsch sein, von ihrer Tochter nicht vergessen worden zu sein und dass diese sich um das Wohlergehen ihrer Mutter sorgte. Helena würde Melissa ihre Geschichte abkaufen, weil sie diese glauben wollte. So wie Melissa fest darauf gehofft hatte, dass ihr Vater etwas an seiner Situation verbessert hätte.
Helena schwieg einige Sekunden. Dann holte sie tief Luft. »Du lügst. Sarah wäre nicht so dumm.«
Melissa zwang sich, ruhig zu bleiben. »Wie du meinst. Sagst du mir trotzdem, was ich Sarah mitteilen darf? Wie gefällt es dir bei Kari? Genießt du dein Leben? Oder soll ich sie zu dir einladen, dann kann sie sich ein unverfälschtes Bild machen?«
»Das wagst du nicht, du weißt genau, dass Kari sie nicht mehr gehen lassen würde. Sie würden sie ebenfalls als Blutspender missbrauchen.«
Melissa hatte gewonnen.
»Ja, ich gehe davon aus. Aber vielleicht ist es alles nur halb so schlimm, dort, wo du nun bist. Und Sarah bei dir zu wissen, erscheint dir besser, als stattdessen deinen Komplizen preiszugeben. So ein Vampirbiss muss nicht zwingend etwas Unangenehmes sein.« Melissa hoffte zum ersten Mal, dass Helena ihr neues Leben durch und durch verfluchte. Selbst durch das Telefon hörte Melissa den angespannten Atem ihrer ehemaligen Chefin. Doch eine Antwort gab diese nicht.
»Weißt du was? Ich werde mich mit Sarah treffen, heimlich, so wie sie es sich wünscht. Und zusätzlich informiere ich Kari über Zeit und Ort. Und dann lass ich mich überraschen, was geschieht.«
Ein merkwürdiges Geräusch drang durch das Telefon. War das ein Zähneknirschen?
»Okay, ich werde dir sagen, wer noch zu unserer Gruppe gehört hat. Dafür musst du mir versprechen, dass du dich nie wieder bei Sarah meldest oder sie sonst wie in Gefahr bringst, egal was geschieht.«
Fast verzogen sich Melissas Mundwinkel zu einem Lächeln. Nur fast, zu angespannt war sie, ob sie den Namen hören würde, mit dem sie rechnete. »Also, ich lausche.«
»Ich sag dir, wer es war. Aber tut ihr nichts. Sie mag dich wirklich. Sie war es, die allen gesagt hat, dir dürfe nichts geschehen. Sie hat sich für dich ins Zeug gelegt, noch mehr als ich. Auf mich hätten die Jungs ohnehin nicht gehört. Und sie hat dafür gesorgt, dass Tom dich so lange ausgehorcht hat, bis du ihm bestätigen konntest, dass dein Leben an Nicolas' geknüpft ist. Deswegen haben sie ihn nicht direkt umgebracht.
Magensäure stieg Melissa die Kehle hinauf. Sie hatte gedacht, sie könnte sich nie schlimmer verraten fühlen, als sie es bei Nicolas' Fortgang getan hatte.
Sie hatte sich getäuscht.
Es war nur ein heiseres Flüstern, das Melissas Mund verließ, ein einziges Wort, doch es kam mit soviel Hass, wie sie ihn nie zuvor gekannt hatte. »Lia.«
»Ja.« Helena seufzte. »Lia hatte darauf bestanden, dass man Nicolas lediglich außer Gefecht setzte. Sie ist der Grund, dass ihr beide noch lebt.«
»Lia hat dir getextet, als ich mit dir telefoniert und nach dem blauen Häschen gefragt habe, nicht wahr? Deswegen hattest du plötzlich vorgegeben, das Kuscheltier läge doch im Laden. Sie hat euch gesagt, dass wir alle zusammen weg wollten.« Melissa konnte das blonde Mädchen noch vor sich sehen, wie es in der Gartenhütte saß und etwas in ihr Handy tippte. Lia hatte damals vorgegeben, dass sie mit Marlon schrieb.
»Ja. Es war die letzte Möglichkeit, um noch an Nicolas heranzukommen. Über dich. Doch dafür mussten wir dich zunächst alleine erwischen. Du hast es gewusst?«
»Nein ... doch. Zu spät«, antwortete Melissa bitter.
Zu spät. Alles, was sie gewonnen hatte, war wieder zerstört worden. Lia hatte sie an der Nase herumgeführt wie einen Zirkusbären, eiskalt und rücksichtslos. Das blonde Mädchen hatte skrupellos ihre eigenen Ziele verfolgt.
»Warum? Warum hat sie mit euch gemeinsame Sache gemacht? Lia hatte nichts mit den Ereignissen im Wald damals zu tun.«
Wieder seufzte Helena. »Ich kann es dir nicht sagen, sie hat uns ihre Geschichte nie erzählt. Und für die anderen reichte es aus, dass Lia den abgrundtiefen Hass auf Vampire mit ihnen teilte. Ich vermute aber, sie hatte bereits früher ein Erlebnis mit einem Blutsauger. Wahrscheinlich hat sie jemanden verloren, der ihr nahe stand. Anders kann ich mir nicht erklären, dass sie sogar bereit war, dich als Lockvogel einzusetzen. Keiner von uns war so begierig darauf, Nicolas unschädlich zu machen, wie Lia.«
Melissa hatte Schwierigkeiten, das Handy zu halten, so sehr bebten ihre Hände. Sie selbst war es gewesen, die dem quirligen Mädchen immer die neuesten Informationen über Nicolas hatte zukommen lassen und dadurch seine Schwachstellen offenbart. Sie hatte sich täuschen lassen auf die dümmste Art und Weise.
Ihr Blick glitt erneut über die zerstörte Leinwand neben ihr. Es waren Lias Worte gewesen, die in ihrem Kopf nachgehallt und sie derart die Fassung verlieren lassen hatten. Lia hatte die Dinge ins Rollen gebracht, die zu Nicolas Fortgang geführt hatte. Und jetzt war es zu spät, um noch etwas zu retten.
Es klickte erneut in der Leitung.
»Ich muss sagen, ich habe dich unterschätzt«, erklang Karis helle Stimme. »Erstaunlich, was du aus Helena alles herausgekitzelt hast.«
»Du hast alles mitgehört, oder?«
»Selbstverständlich. Jedes einzelne Wort.« Die alte Vampirin schmunzelte. »Und wie ist jetzt deine Meinung, da du auch von deiner letzten Verbündeten verraten wurdest? Soll ich dich besuchen kommen? Ich könnte dir angenehme Gesellschaft mitbringen. Glaub mir, wir würden Wege finden, um dich zu trösten. Und wir verlangen kaum eine Gegenleistung. Also, was sagst du?« Kari wurde nie müde, ihr Spiel zu spielen. Doch diesmal klang es geradezu verlockend.
»Ich ... ich ...« Was tat sie hier? Dachte sie ernsthaft über Karis Angebot nach? Wünschte sie sich so verzweifelt jemanden an ihrer Seite? Sie konnte nicht leugnen, dass genau das die Wahrheit war. Und dennoch, nach allem, was sie gerade erfahren hatte: War es möglich, dass es noch mehr gab, was sie bis jetzt übersehen hatte?
Nein, sie brauchte keine Ablenkung. Sie brauchte Klarheit. Und die würde sie nicht bei Kari finden.
»Ich werde niemals Teil deiner lächerlichen Community«, sagte sie mit bebender Stimme. Dann drückte sie auf den roten Button und ließ sich zurück gegen die Stuhllehne sinken.
»Gute Entscheidung. Ich bin stolz auf dich.«
Melissa sprang auf und wirbelte herum.
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