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»Alexander!«
Eine schneidend klare Stimme erklang hinter Melissa zusammen mit dem Gefühl, als würde sich eine Hand aus Eis in ihren Nacken legen. »Du kannst sie nicht haben, wenn sie sich nicht freiwillig hingibt.« Umgehend glitten die Hände des Fremden von Melissas Körper und die Stimme fuhr mit deutlichem Bedauern fort. »Ich hatte gehofft, du wärst erfolgreicher. Wie man sich täuschen kann. Ich danke dir dennoch für deine Bemühungen.« Ergeben nickte der Mann und verschwand so anmutig, als würde er schweben.
Und schlagartig war alles klar. Die fließenden Bewegungen, die auffällige Eleganz und das unnatürlich anziehende Äußere. Sie sollte dringend ein Glas Wasser trinken, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Nüchtern hätte sie niemals übersehen, was dieser Mann war. Nur widerwillig drehte sich Melissa zu der Sprecherin um.
»Schade, ich hatte tatsächlich gedacht, Alexander könnte dein Typ sein. Aber du scheinst doch mehr an dem Original zu hängen«, sagte die braunhaarige Frau mit dem perfekten Äußeren.
Kari.
Warum war sie hier? Und warum setzte Kari einen ihrer Vampire auf sie an? Melissa versuchte ein Zittern zu unterdrücken, doch es gelang ihr nicht. Zu sehr nahmen sie die letzten Minuten und die Erinnerung an Nicolas mit. Was hätte sie darum gegeben, wenn dieser Mann tatsächlich Nicolas gewesen wäre?
Verdammt, sie musste sich konzentrieren. In Karis Gegenwart die Nerven zu verlieren, war nicht gerade empfehlenswert. Wo zum Teufel blieb nur Lia? Sie war seit einer gefühlten Ewigkeit fort zum Telefonieren.
»Du lässt mich von einem deiner Anhänger verführen? Wozu?«
»Süße, unschuldige Melissa. Du kennst die Antwort. Ich breche ungern Absprachen. Ich habe Nicolas versprochen, dass weder ich, noch jemand aus meiner Familie, Hand an dich legt. Aber das zählt natürlich nicht für den Fall, dass du freiwillig unsere Gesellschaft suchst.« Die Vampirin lächelte überheblich.
»Und dafür verfolgst du mich sogar?«
»Ich verfolge dich doch nicht.« Kari schüttelte mit gespieltem Entsetzen den Kopf. »Mir wurde nur zugetragen, dass du ohne deine vampirischen Freunde ausgegangen bist. Und da dachte ich, wenn ich dich schon einmal ungestört sprechen kann, frage ich nach, ob du dir mein Angebot durch den Kopf gehen lassen hast.«
Verflucht. Nicolas hatte erwähnt, dass Kari stets über alle möglichen Gegebenheiten informiert war und zahllose Informationsquellen hatte. Doch Melissa hatte nicht damit gerechnet, dass sie selbst auf dem Radar der Vampirin auftauchte, sobald sie die Stadt betrat.
»Warum liegt dir so viel daran, dass ich mich deiner kleinen Community anschließe? Ist es nicht deutlich, dass ich kein Interesse habe?«
»Doch, sehr deutlich.« Kari lächelte amüsiert. »Genau das macht ja den Reiz aus. Die meisten Menschen folgen mir zu bereitwillig. Das kann praktisch sein, aber ... über die Jahrhunderte langweilt es. Sieh dir Alexander an.« Mit einer Hand deutete sie in eine entfernte Ecke des Pubs, wo der Vampir geduldig und mit verschlossener Miene wartete. Melissa erschauerte bei dem Gedanken daran, wie nah dieser ihr gekommen war. »Er steht Nicolas optisch in nichts nach, hat vollendete Umgangsformen und einen wachen Geist. Doch er vergöttert mich. Wo bleibt da die Herausforderung?«
Melissa verzog missbilligend den Mund. Für Kari war das alles nur ein Spiel. Nicolas hatte ihr erzählt, das die Vampirin über fünfhundert Jahre alt war. Wurde einem die eigene Existenz nach so vielen Jahrhunderten derart langweilig? Oder war es von jeher eine ihrer Eigenarten, mit ihren Mitmenschen zu spielen?
»Du hast geweint«, stellte Kari fest und musterte sie genau. »Deine Augen sind gerötet.«
Oh Shit. Das wollte Melissa absolut nicht mit der Vampirin ausdiskutieren. Unwillkürlich presste sie die Kiefer aufeinander.
»Gibt es jetzt schon Ärger im Paradies?« Kari klang derart erheitert, es fehlte nur noch, dass sie vor Freude in die Hände klatschte. »Ich habe mich bereits gewundert, dass du ohne Nicolas ausgehst. Nach allem, was geschehen ist, sollte man meinen, er lässt dich keinen Schritt mehr alleine tun. Er hat einen so ausgeprägten Beschützerinstinkt.« Einige Male tippte sich die Vampirin mit dem Zeigefinger auf die Unterlippe, bevor sie fortfuhr. »Hat er dich fortgeschickt, weil du ihn gelangweilt hast? Oder hast du seinen kleinen Engel verärgert? Wolltest du vielleicht ausprobieren, wer seine wahre Priorität ist, du oder die süße Amia?«
Heißer Zorn brodelte in Melissa auf. Was nahm diese Frau sich eigentlich heraus? »Er ist derjenige, der gegangen ist. Er hat uns alle im Stich gelassen. Ganz offenkundig hatte er überhaupt keine Priorität«, antwortete sie giftig und bereute sofort, die Worte ausgesprochen zu haben.
»Das wird ja besser, als ich gedacht hatte.« Kari versuchte nicht einmal, ihre Begeisterung zu verbergen. »Ich hatte angenommen, du könntest ihn länger amüsieren.«
Melissa ertrug Karis Gegenwart keine weitere Sekunde, sie drehte sich um und marschierte zur Garderobe, nur um direkt in Lia zu rennen. »Verdammt, wo warst du so lange? Lass uns gehen, jetzt sofort.« Ohne Zeit für eine Antwort zu geben, griff sie nach ihrem Mantel und eine verdutzte Lia tat es ihr gleich. Doch so schnell ließ die Vampirin nicht von ihr ab. Melissa bemerkte nicht, dass Kari ihr folgte, als diese plötzlich vor ihr stand.
»Er hat euch alle im Stich gelassen?« Doch Melissa presste nur die Lippen zusammen und schwieg. Sie würde dieser Person kein weiteres Wort mehr über sich oder irgendwem sonst erzählen. Nicht auszudenken, wie die Vampirin triumphieren würde, wenn sie auch vom Weggang der anderen Vampire erführe.
Nachdenklich musterte Kari sie. »Du hast noch die Karte mit meiner Nummer? Pass gut darauf auf. Ich glaube, du wirst sie brauchen.«
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