89
Im Pub war es brechend voll, lautes Stimmengewirr füllte den Raum, wurde jedoch von einem singenden Paar mit Gitarren und zahlreichen mitgröhlenden Gästen problemlos übertönt. Eine ruhige Unterhaltung wie in der Cocktailbar würde kaum möglich sein. Melissa kam das gelegen, sie hatte für heute genug aufreibende Gespräche geführt.
Lia hielt sich nicht lange auf mit einer Sitzplatzsuche, es war ohnehin aussichtslos. Nachdem sie ihre Garderobe losgeworden waren, steuerten sie direkt auf die Tanzfläche zu. Melissa folgte ihrer Freundin, wurde jedoch immer langsam, bis diese sich umdrehte. »Keine Sorge, du musst heute mit niemanden sprechen oder gar tanzen. Halt dich einfach an mich. Ignoriere all die gutaussehenden Männer um dich herum und lass uns Spaß haben.« Melissa lächelte Lia dankbar.
Zu Beginn zögerte sie noch, doch schnell ließ sie sich von der Musik und von Lia mitreißen, die ihr Vergnügen am Geschehen hatte. Das erste Mal seit Tagen empfand Melissa wieder so etwas wie Freude und konnte sich gehen lassen, auch wenn der Schwindel in ihrem Kopf mit Sicherheit einen nicht wegzudiskutierenden Anteil an der Sache hatte.
Zwischendurch zog Lia sie näher an sich heran und rief in ihr Ohr: »Merkst du, wie du alle Blicke auf dich ziehst? Du machst richtig Eindruck!« Melissa sah sich um und bemerkte, dass ihre Freundin recht hatte. Ein hochgewachsener blonder Junge grinste sie herausfordernd an. Ganz süß, aber war er überhaupt schon alt genug für diesen Laden? Und ein weiterer Mann mit brauner Kurzhaarfrisur, bestimmt schon Mitte dreißig, beobachtete die jungen Frauen fasziniert, wobei dessen Blicke eher ihrer Freundin galten.
Der Alkohol hatte jetzt seine volle Kraft entfaltet und Melissa wirbelte mit einer Leichtigkeit und Freude herum, wie sie sie lange vermisst hatte. All ihre Sorgen und der ganze Schmerz traten in den Hintergrund, überdeckt von dem Pulsieren der Musik und der rhythmischen Tanzbewegungen.
Es war möglich. Sie konnte atmen ohne Nicolas.
Die Frauen tanzten ausgelassen zur Musik und ließen sich von der fröhlichen Stimmung mitreißen. Die Lichter flogen um Melissa herum, während sie sich wild hin und herdrehte und sie Lia gelöst anlachte.
Plötzlich spürte Melissa eine Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken fuhr sie herum und blickte direkt in die strahlend blauen Augen des blonden Jungen, der sie bereits die ganze Zeit beobachtet hatte. Mit einem fast noch kindlichen Lächeln blickte er sie an und forderte sie mit einem Kopfnicken zu einem Tanz auf. Sie zuckte unwillkürlich zurück, unsicher, ob sie schon bereit war, mit einem Fremden zu tanzen, egal wie unschuldig dieser wirkte. Doch bevor sie sich eine Antwort überlegen konnte, schob Lia sich zwischen sie und dem Jungen und rief diesen mit einem entschuldigenden Lachen zu: »Tut mir leid, aber heute nicht.«
Der Blonde zuckte mit den Schultern, ein enttäuschter Ausdruck in seinen Augen, doch er lächelte noch immer höflich. »Kein Problem«, sagte er und wandte sich ab, um jemand anderen zum Tanzen zu finden.
»Sorry, Süße. Ich habe dir versprochen, du musst heute mit niemanden tanzen. Aber wenn du möchtest, kann ich ihn gerne zurückholen. Er würde sich sicher freuen.« Fragend sah Lia sie an.
»Nein, ist schon okay. Mir reicht es, wenn wir beide uns vergnügen.«
»Alles klar. Heute lassen wir uns aus der Ferne anbeten«, erwiderte Lia fröhlich und schnell waren die Freundinnen wieder im Tanz versunken, ihre Kleider und Haare wild wirbelnd, während sie den Menschen um sie herum kaum noch Beachtung schenkten.
Die Tanzfläche füllte sich zusehends, und Melissa genoss die Atmosphäre und das Gefühl der Lebendigkeit, welches sie endlich wieder durchströmte, als Lia plötzlich zu ihrer kleinen Handtasche griff und ihr Handy herauszog. Das Lächeln im Gesicht ihrer Freundin verblasste und diese biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. Dann wandte Lia sich Melissa entgegen: »Wäre es okay, wenn ich kurz rausgehe, um zu telefonieren? Das ist Marlon und ...«
Nur ungern blieb Melissa alleine in der Menge zurück. Doch unmöglich konnte sie Lia dieses Gespräch ausreden, zu bewusst war ihr, wie sehr diese sich immer noch um Marlon sorgte, selbst wenn er auf dem Weg der Besserung war. »Geh nur, ich werde mich schon nicht gleich fressen lassen.«
Als sie plötzlich ohne Begleitung auf der Tanzfläche zurückblieb, drehte sie sich unschlüssig herum und versuchte sich schließlich zum Rand durchzuarbeiten, um eine Pause einzulegen. Doch als sie diesen erreicht hatte, stand erneut der Blonde vor ihr und lächelte sie mit vor der Brust flehentlich zusammengelegten Händen an. »Nur ein Tanz, bitte! Ich verspreche, danach lass ich dich in Frieden.«
»Warum ist dir das so wichtig?«
»Meine Freunde haben bemerkt, wie ...«, er zögerte und seine Wangen färbten sich schlagartig rot, »... wie ich dich angesehen habe und meinten, ich würde es nie schaffen, dich zum Tanzen zu überreden. Bitte, du kannst mich davor bewahren, tagelang ausgelacht zu werden.«
So verlegen, wie er sich jetzt eine seiner hellen Haarsträhnen aus der Stirn strich, wirkte er tatsächlich wie ein Kind. Melissa konnte nicht anders, als lachend zuzustimmen. »Alles klar, ein Tanz. Und dann lässt du dich von deinen Freunden feiern.« Und schon war sie zurück in der wirbelnden Menge. Sichtlich erfreut wirbelte der Blonde sie herum, stets bemüht ihr nicht unangebracht nahezukommen. Man sah ihm seine Freude an und Stolz lag in seiner Miene. Mit Erstaunen stellte Melissa fest, wie sehr ihr seine bewundernden Blicke schmeichelten. Innerlich schmunzelte sie darüber, wie gut Lias Plan aufgegangen war.
Als der Song endete, nickte der Junge ihr dankbar zu und löste sich unaufdringlich von ihr. Melissa sah sich um, um festzustellen, ob Lia bereits zurück war, doch sie konnte das aufgeweckte Mädchen nirgends entdecken. Gerade wollte sie sich auf den Weg zur Bar machen, als wieder eine Hand auf ihrer Schulter landete. Lachend drehte sie sich um. »Na, reichte der eine Tanz nicht?«
Doch anstatt des Blonden, dessen Anblick sie erwartet hatte, stand dort der dunkelhaarige Mann aus der Cocktailbar und streckte ihr einladend eine Hand entgegen. Erschrocken starrte Melissa in das ebenmäßige Gesicht. Intensiv musterte der Fremde sie aus dunklen Augen und ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte seinen anziehend geschwungenen Mund.
»Verfolgst du mich?«, schoss es aus Melissas heraus, bevor sie über ihre unhöflichen Worte nachdenken konnte.
Der Mann verzog das Gesicht, als hätten sie ihn tief getroffen. »Ich würde es nicht verfolgen nennen, eher deinen bezaubernden Anblick genießen.« Dann lächelte er sie breit an und Melissa verschlug es fast die Sprache. Dieser Mann hatte eine Anziehungskraft, die nicht zu leugnen war.
»Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Alexander und es wäre mir eine Ehre, wenn du mir diesen Tanz gewähren würdest.« Unfähig ihren Blick von seinen Augen zu wenden, verharrte sie reglos und suchte nach einer passenden Antwort in ihrem alkoholvernebelten Gedanken. Doch Alexander wartete nicht lange auf ihre Zustimmung. Dass sie nicht ablehnte, schien ihm Einverständnis genug. Sanft umfasste er ihre Hand und zog sie ein Stück zu sich heran. Seine warmen Finger auf den ihren ließ ihren Puls schneller schlagen. Im Takt der Musik wiegte er sie hin und her und wirbelte sie schließlich wild herum. Keuchend versuchte sie Schritt zu halten. Er selbst tanzte mit einer derartig anmutigen Eleganz, wie sie es erst ein einziges Mal zuvor erlebt hatte, während ihm seine dunklen Haare in die Stirn fielen. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Ein altbekannter Schmerz wollte sich in ihrem Inneren ausbreiten, als sie nicht mehr leugnen konnte, an wen dieser Mann sie qualvoll erinnerte, doch sofort verschloss sie diese Erinnerung und verbannte sie weit hinten in ihren Geist.
Heute Abend nicht. Heute würde sie es sich endlich wieder gutgehen lassen. Heute würde sie jeden Schmerz und alle Trauer rigoros ignorieren, und wenn diese danach mit Wucht zurückkämen, so hatte sie zumindest einen Abend frei atmen können. Sie würde diesen Tanz genießen.
Nicolas hatte sie verlassen. Sie war ihm nichts mehr schuldig.
Nach einer weiteren Drehung zog Alexander sie plötzlich ganz nah an sich heran und seine freie Hand legte sich wie selbstverständlich auf ihre Taille. Nur eine handbreit Luft befand sich noch zwischen ihnen und Melissa konnte die Wärme spüren, die von ihm ausging. Sein Lächeln war einer Intensität in seinem Blick gewichen, die sich in sie zu bohren schien. Nur zu bewusst war Melissa sich seiner Nähe, doch sie konnte den Blick nicht abwenden – ja, sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es wollte.
Behutsam löste er seine Finger aus den ihren und legte den freigewordenen Arm um ihren Rücken. Er zog sie jetzt fest an seinen Körper und sie konnte spüren, wie sich seine Brust bei jedem Atemzug hob und senkte. Sie keuchte und die Musik rückte in den Hintergrund. Was machte dieser Mann mit ihr? Sie sollte ihn in seine Schranken weisen. Und doch wurde das Bedürfnis nach körperlicher Nähe in ihr plötzlich so übermächtig, dass sie nicht in der Lage war, sich von ihm zu lösen. Wie von selbst legten sich ihre Hände um seine Hüften und als hätte sie ihn mit dieser Geste aufgefordert, näherte sich sein Gesicht dem ihren und sein warmer Atem streifte ihre Wange. Diese perfekt geschwungenen Lippen in diesem makellosen Gesicht, sein kräftiger Körper, der sich an sie presste und sein einnehmender Geruch ließen sie schwindeln. Sie wollte wieder Wärme in ihrem Leben spüren, wollte Zuneigung und Geborgenheit und dieses Kribbeln, das über ihre Haut zog.
Ohne den Blick von ihr zu lassen, öffnete er leicht die Lippen.
Wie er Nicolas ähnelte. Wie sie Nicolas vermisste. Wie sie wünschte, es wäre Nicolas, der sie hielt.
Immer weiter näherte sich der sinnliche Mund des Fremden und ...
Er war nicht Nicolas.
Panisch wandte Melissa den Kopf ab und versuchte sich aus seinem stählernden Griff zu lösen. Doch seine Arme ließen keinen Millimeter nach. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und sah ihn entsetzt an. Schlagartig verfinsterte sich sein Blick.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top