88

Am frühen Abend erreichten sie die kleine Stadt nach einem Spaziergang. Auf eine Autofahrt hatten sie bewusst verzichtet, da sie davon ausgingen, dass der Zauber weiterhin Bestand hatte. Es wäre zu gefährlich gewesen, zudem beruhigte die Bewegung Melissas angespannte Nerven. Seit der Eismahlzeit war bereits einige Zeit verstrichen und ansonsten hatte Melissa an diesem Tag erst ein einzelnes, trockenes Brötchen zu sich genommen, was ihr Magen schließlich deutlich zur Sprache brachte.

Lia hielt es für angebracht, etwas Essen zu gehen und schnell fand Melissa sich in einem kleinen italienischen Restaurant wieder, indem sie lustlos in einer Portion Spagetti rumstocherte. Zwar hatte das lebensfrohe Mädchen es mit ihrer übersprudelnden Fröhlichkeit geschafft, ihre Verfassung zu steigern, jedoch war sie noch weit entfernt vom Gemütszustand eines durchschnittlichen Menschen, und das wirkte sich ebenfalls auf ihren Magen aus. Sie vermisste Nicolas noch immer mehr, als sie sagen konnte, und das jetzt sogar Tara sie verlassen und Adam und Amia mit sich genommen hatte, schnürte ihr buchstäblich die Kehle zu. Diese Barriere hatte bislang nur die Eiscreme durchbrechen können.

»Ich weiß genau das Richtige für dich«, sagte Lia und zog sie hinter sich her, direkt in eine Cocktailbar hinein. Wieder ließ Melissa es über sich ergehen.

Die Bar war gut besucht und ein wirres Stimmengemisch unterlegt von gedämpfter Musik empfing sie. Nur zögerlich folgte sie Lia zu einem freien Tisch und setzte sich zu ihr. Die Menge an Menschen und die Fröhlichkeit, die von diesen ausging, überforderte sie.

Lia schien ihr verkniffenes Gesicht bemerkt zu haben und lachte kurz auf. »Keine Sorge, du wirst dich schon noch entspannen. Darum werde ich mich sofort kümmern«, sagte sie und flitzte los zur Theke. Mit einem zufriedenen Lächeln und zwei kleinen Gläsern in der Hand kam sie zurück an den Tisch und setzte sich. Sie schob Melissa einen der bernsteinfarbenen Drinks zu, griff selbst nach dem anderen und hob diesen auffordernd hoch. Melissa nahm das Glas vor sich und roch daran. Sofort stach ihr der scharfe Geruch des Alkohols in die Nase.

»Nicht so zögerlich, immerhin sind wir hier, um Spaß zu haben. Also, auf meinen Geburtstag!«

»Auf deinen Geburtstag«, erwiderte Melissa mit wenig Überzeugung und gleichzeitig kippten beide Frauen die Flüssigkeit in ihren Mund. Scharf brannte der Whiskey in Melissas Kehle und floss heiß ihre Speiseröhre hinab. Tränen traten ihr in die Augen. Wie gerne hätte sie jetzt einen Schluck Wasser zum Nachtrinken gehabt, doch daran hatte Lia nicht gedacht. Unwillkürlich schüttelte sie sich.

»Und? Fühlst du dich besser?«

Melissa konnte nicht leugnen, dass sich eine angenehme Wärme in ihrem Bauch ausbreitete und sie begann, sich zu entspannen, etwas, dass sie lange nicht mehr getan hatte. Doch ihr war auch bewusst, dass dieses Gefühl trügerisch war, deshalb zuckte sie nur unschlüssig mit den Schultern.

»Ach Melissa. Du musst es ja nicht überstürzen. Auch wenn sich jetzt alles aussichtslos anfühlt, du wirst dein Leben bald wieder genießen können. Zugegeben, zurzeit bist du sehr eingeschränkt, was deine Bewegungsfreiheit anbelangt, aber dafür werden wir noch eine Lösung finden. Selbst wenn es länger dauert, als wir anfangs angenommen hatten.«

Stimmt, so weit hatte sie noch gar nicht gedacht. Nicht nur Nicolas konnte nicht weit fort von ihr, auch sie war an diesen Ort gebunden, solange er sich hier aufhielt. In den letzten Wochen hatte sie sich keine Sorgen mehr gemacht wegen des Zaubers, konnte sie doch überall hin, zusammen mit ihm. Jetzt war sie an diese Gegend gebunden, unter Umständen für den Rest ihres Lebens. Eigentlich sollte diese Aussicht sie erschrecken. Aber das tat es nicht. Es löste einfach nichts in ihr aus, nur pure Gleichgültigkeit. Was spielte es für eine Rolle, wo sie sich ohne Nicolas aufhielt. Das Leben zu genießen kam in keiner ihrer Zukunftsvisionen vor.

Prüfend betrachtete Lia sie. »Richtig überzeugt siehst du nicht gerade aus. Melissa, es gibt noch andere Männer. Mach dich nicht fertig wegen so eines Arschs. Das ist er nicht wert, und du hast so viel mehr verdient.«

Melissa schnappte nach Luft bei dieser Aussage. Glücklicherweise zeigte der Alkohol mittlerweile deutlich seine Wirkung, sonst wäre sie Gefahr gelaufen, ihr Make-up zu verwässern. »Ich will niemand anderes«, sagte sie leise.

»Ich weiß, du kannst dir das im Moment nicht vorstellen, aber du wirst jemand anderes finden. Jemand, der dich besser behandelt.«

Irritiert kniff sie die Augen zusammen. »Besser?«, krächzte sie.

Nicolas hatte sie nie schlecht behandelt, zumindest, wenn man von ihren ersten Aufeinandertreffen absah. Er war bereit gewesen, sein Leben für sie zu opfern.

Die Erinnerungen begannen in ihrem Kopf zu rotieren. Der erste Kuss, der Besuch im Leuchtturm, seine Hände an ihrem Körper. Der Sarg. Und dann wie Nicolas unvermittelt vor ihr stand, als sich ihre kleine Zelle öffnete während der Entführung und wie sie sich in seine Arme schmiss. Wie er sie hielt. Die Sicherheit, die sein warmer, fester Körper ihr stets vermittelt haben. Sein Lächeln und sein sanfter Blick, mit dem er sie so oft angesehen hatte.

Ganz schlechte Gedanken.

Ihre Augen brannten.

»Ja, besser«, beharrte Lia. »Jemand, der dich nicht mit dem Tode bedroht, nur weil du ihm lästig bist und er dich loswerden will. Jemand, der dich lieben kann, ohne andere an erster Stelle zu setzen. Jemand, der dich nicht bei den ersten Problemen sitzen lässt. Jemand, der dich so nimmt, wie du bist, ohne tausend wenns und Abers.«

Melissas Kinn bebte. »Er hat versprochen, er bleibt bei mir. Er hat gesagt, er ... er ... er hat gesagt, er liebt mich«, brachte Melissa stockend hervor. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mit aller Macht kämpfte sie diese zurück.

Entgeistert sah Lia sie an. »Das hat er gesagt?«

Melissa nickte stumm, gerade als eine Bedienung kam und zwei Cocktails servierte.

»Das hast du mir nie gesagt.« Stumm schüttelte Lia mit dem Kopf und wirkte, als müsse sie diese Information erst einmal verarbeiten. »Doch auch das spricht nicht für ihn. Man sagt sowas nicht und haut dann ab. Konnte er dir wenigstens in die Augen sehen, als er sich verabschiedet hat?« Lias Augen funkelten wütend.

»Er hat nicht ...« Melissa konnte es nicht aussprechen, doch Lia ließ nicht locker.

»Was hat er nicht?«

»Er hat sich nicht direkt verabschiedet.« Melissa griff nach dem farbenfrohen Glas vor ihr und starrte in die orange-gelbe Flüssigkeit, nur um Lia nicht in die Augen sehen zu müssen.

»Sag bitte nicht, er hat dir lediglich eine SMS geschrieben.« Jetzt war Lia wirklich aufgebracht.

»Nein. Er hat Tara eine Nachricht geschickt.« Kurz hielt sie inne. »Von mir hat er sich gar nicht verabschiedet.« Ihre Stimme klang so leise, dass sie unsicher war, ob Lia sie überhaupt verstand.

Doch anscheinend war dies der Fall. Mit offenem Mund starrte das blonde Mädchen sie an, Mordlust stand in ihren Augen. »Es tut mir leid, wenn ich dir das so deutlich sagen muss, Melissa, aber dieser Typ ist wirklich keine Träne wert. Wie kann er es wagen ... Ich werde alles tun, um dir zu helfen, so schnell wie möglich wieder auf andere Gedanken zu kommen.«

Es tropfte aus Melissas Auge in ihren Cocktail. Angestrengt holte sie Luft. Verdammt, sie wollte nicht weinen. Nicht hier. Aus purer Verzweiflung hob sie das Glas und nahm mehrere große Schlucke von der fruchtigen Flüssigkeit, ohne dem Geschmack Beachtung zu schenken. Die Wärme in ihrem Bauch wuchs – und eine dicke Schicht Watte umhüllte allmählich den Schmerz. Lia hatte recht, so durfte es nicht weitergehen. Sie musste auf andere Gedanken kommen. Sie war nicht alleine. Sie hatte Lia. Ihre Freundin war gekommen, so schnell es ihr möglich war, als sie um Hilfe gerufen hatte. Sie stand ihr bei und war bereit sie auch durch ihre schlimmste Zeit zu begleiten. Melissa konnte sich glücklich schätzen, es gab Menschen, die hatten nicht einmal das. Warum fühlte es sich dann so unzureichend an? Aber sie musste es versuchen. Vielleicht konnte Lia sie wirklich durch diese schwere Zeit bringen. Was hatte sie schon zu verlieren?

»Du willst mich ablenken?«, fragte Melissa mit einem kläglichen Lächeln im Gesicht.

»Ja, natürlich, wenn es das ist, was du brauchst.«

»Und wie lange willst du das tun?«

»Ich habe jetzt ein paar Tage frei. Und danach werde ich einen Weg finden, dich nicht alleine lassen zu müssen. Ich bin für dich da, wann immer du mich brauchst! Und heute Abend tun wir so, als würde es dir gut gehen, bis es so ist. Und bis du vergessen hast, wie er heißt.

Alles schien plötzlich leichter. Melissa spürte deutlich, wie der Alkohol ihr zu Kopf stieg, und dieser sagte ihr, dass Lia einen ausgesprochen guten Plan hatte. Nicolas war fort und würde nicht wiederkommen. Aber sie würde ihm nicht hinterhertrauern, bis sie daran zerbrach. Mit glühenden Wangen lächelte sie ihre Freundin an.

»Und soll ich dir etwas verraten?« Jetzt flüsterte Lia und grinste gleichzeitig. »Schräg rechts von dir sitzt ein wahnsinnig heißer Typ, der dich schon seit unserer Ankunft fasziniert beobachtet.«

Ohne nachzudenken drehte Melissa sich in die genannte Richtung und starrte den Mann entgeistert an. Ihre Freundin hatte recht, er war heiß. Groß und muskulös, dunkle Haare, attraktives Gesicht und er lächelte sie einladend an, während sie mit offenem Mund zurückgaffte. Sie konnte spüren, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Eine winzige Sekunde glaubte ihr vernebeltes Gehirn, Nicolas vor sich zu sehen. Die Ähnlichkeit war deutlich, doch schnell war klar, dass es sich um einen Fremden handelte. Warum konnte es nicht Nicolas sein?

Lias Plan war ein riesen Mist.

Als ihr bewusst wurde, wie unhöflich sie sich verhielt, wendete sie sich ruckartig zurück und die Röte schoss ihr zurück in die Wangen. Immerhin konnte sie sicher sein, dass dies außer ihr niemand bemerkte, dafür hatte Lias Styling-Aktion inklusiver dicker Schminkschicht gesorgt.

Lia musterte sie irritiert. »Alles okay mit dir? Er muss dir ja nicht gefallen, ich dachte nur, es würde dir schmeicheln, wenn ein solcher Mann dich ...« Weiter kam sie nicht.

»Ja, alles super«, schnitt Melissa ihrer Freundin das Wort ab. »Ich mag es nur nicht, so offenkundig angeglotzt zu werden.« Hastig kippe sie jetzt auch die zweite Hälfte ihres Cocktails hinunter. »Du trinkst ja gar nicht. Also ich bin fertig. Wenn du ausgetrunken hast, würde ich gerne woanders hingehen. Ich glaube, dieser Laden ist nicht das richtige für mich.«

»Aber ich hab doch noch nicht mal ...« Doch dann sah Lia wieder in die Richtung des Fremden, setzte ein entschuldigendes Lächeln auf und ihre Augen kehrten zu Melissa zurück. Kapitulierend zuckte sie mit den Schultern, bevor sie ebenfalls ihr Glas ergriff und es in einem Zug leerte. »Womit auch immer ich dir heute helfen kann. Ich hoffe, wir bereuen es später nicht.« Und schon standen die beiden Frauen auf und verließen die Bar.

»Ich wollte ja von Anfang an den Pub testen. Schön, dass wir jetzt diese Gelegenheit haben«, grinste Lia sie an. Melissa holte schon Luft, um zu widersprechen, doch dann stellte sie erstaunt fest, dass ihr alkoholisierter Kopf damit kein großes Problem hatte. Hauptsache, sie würde nicht noch einmal jemanden über den Weg laufen, der auch nur im entferntesten Ähnlichkeiten mit Nicolas hatte, selbst wenn alle Männer in dem Laden rothaarige Trolle wären, wäre das vollkommen in Ordnung. Nickend hakte sie sich bei Lia unter und ließ sich mitziehen.


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