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Ihr Überlebensinstinkt übernahm ungefragt und langsam machte Melissa einen Schritt rückwärts, dann noch einen, ohne Adam aus den Augen zu lassen. Sie wagte es nicht, einen Ton von sich zu geben. Beim dritten Schritt stieß ihr Fuß gegen eine Baumwurzel. Sie stolperte – und verlor das Gleichgewicht.
Ein blitzartiger Schatten warf sich auf sie und ergriff ihren Körper, noch bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte. Explosionsartig schoss ein Schmerz, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte, in ihren Hals und von dort durch ihren gesamten Organismus. Sie steckte in einem eisernen Griff fest, der sie unnachgiebig fixierte, ihr keine Luft zum Atmen ließ und als würde ihre Kehle vollständig aufgerissen, drängten sich spitze Dolche weit unter ihre Haut. Immer tiefer schnitten diese in ihr Fleisch. Adrenalin schoss durch ihren Körper und alarmierte jede einzelne Faser, doch es gab nichts, das sie tun konnte. Mit jedem Versuch sich zu befreien drückten die Arme kräftiger zu und pressten die Luft aus ihren Lungen. Ihre Umgebung verschwamm vor ihren Augen. Sie versuchte zu schreien, laut und schrill, aber nur ein Gurgeln entkam ihrem Mund. Hektische Schluckgeräusche drangen an ihr Ohr und ein unerträgliches Saugen an ihrem Hals verstärkte sich mit jeder Sekunde.
Sie würde sterben. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
Langsam gab ihr Körper die Gegenwehr auf und erschlaffte, während Schmerz und Panik weiter anwuchsen. Die Lider über ihre aufgerissenen Augen flatterten und Übelkeit und Schwindel ergriffen sie und ihr Körper wurde eiskalt. Zumindest wären ihre Qualen bald vorbei.
Sie betete für eine schnelle Ohnmacht.
Ihr Herz jagte das Blut durch ihren Körper, welches dröhnend in ihren Ohren rauschte. Wie aus weiter Ferne hörte sie einen grellen Schrei. Wo kam dieser Schrei her? Sie selbst konnte ihn unmöglich ausgestoßen haben, zu groß war die Luftnot.
Und dann warf sie etwas um.
Eine Kraft riss sie mit sich, wie eine Explosion, und schleuderte sie auf den Boden. Mehrmals überschlug sie sich, bevor sie reglos liegen blieb. Es dauerte weitere Sekunden, bis sie in der Lage war, Sauerstoff in ihre gequetschten Lungen zu saugen. Gierig schnappte sie nach Atem. Das Feuer, welches von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte, zog sich zurück bis in ihrem Hals und verweilte dort als pulsierender Brandball, der nur langsam kleiner wurde. Mit beiden Händen umgriff sie ihre Kehle. Warme Flüssigkeit tränkte ihre Finger und ließ diese über ihre Haut glitschen. Sie stieß weitere gurgelnde Laute aus, doch der Nebel um sie lichtete sich allmählich und erlaubte ihr, ihre Umgebung wieder wahrzunehmen.
Sie fand sich auf dem matschigen Rasen des Parks wieder. Noch immer raste ihr Puls und schwallartig schoss rote Flüssigkeit aus ihrer Kehle, aber der Blutstrom verebbte rasch. Sie versuchte sich aufzurichten. Ihr Körper wollte fliehen und weglaufen, schneller als je zuvor ein Mensch gelaufen war, doch jeder einzelne Muskel versagte ihr den Dienst und zitterte unkontrollierbar.
Einige Meter von ihr entfernt kämpfte Adam vergeblich gegen Taras Griff an, schlug wild um sich und fixierte Melissas Hals mit seinen tiefschwarzen Augen. Es war unverkennbar, dass alles in ihm darauf ausgerichtet war, sich erneut auf sie zu stürzen. Sein Mund war blutverschmiert – nein, nicht nur sein Mund, sein gesamtes Gesicht war mit ihrem Blut überzogen.
Übelkeit stieg in Melissa auf und sie würgte. Sie stand kurz davor sich auf den Rasen zu übergeben und gleichzeitig konnte sie nicht aufhören, Adams verzerrte, rotgefärbte Züge anzustarren. Hätte sie nicht genau gewusst, wer das knurrende Wesen mit den grotesk entstellten Gesichtszügen war, sie hätte ihn nicht erkannt.
Nur allmählich begann sie zu begreifen, was geschehen war.
Sie hatte Adam gereizt. Bis aufs Blut, wie man so schön sagte, doch in diesem Fall war es ihr eigenes Blut gewesen, das sie für ihre Gehässigkeit bezahlte. Ohne Rücksicht auf Verluste hatte der Vampir sie attackiert, seine Zähne tief in ihre Haut getrieben und ihr die Lebenskraft aus dem Leib gesaugt. Ohne Taras Eingreifen wäre sie jetzt tot.
Adam hatte versucht sie zu töten.
Panisch starrte Melissa auf den jungen Vampir vor ihr, der nur langsam seine Gegenwehr gegen Tara aufgab. Erst als jede Aggression von ihm gewichen war, ließ die Vampirin in frei und er sackte in sich zusammen, bis er selbst zitternd auf dem Rasen hockte. Tief sank sein Kopf hinab und er keuchte angestrengt. Melissa wagte es nicht, ihn aus den Augen zu lassen.
»Melissa?«, fragte Tara, »bist du in Ordnung?« Sie hörte die Worte, doch sie brauchte einige Sekunden, um ihren Inhalt zu begreifen. War sie das – in Ordnung? Sie wusste es nicht. Zögernd nahm sie ihre zittrigen Finger von ihrem Hals, starrte ihre tiefroten Handflächen an und augenblicklich ergriff sie eine erneute Welle der Übelkeit. Dieses Mal konnte sie sich nicht zurückhalten und mit letzter Kraft stützte sie sich auf ihre Hände, bevor die Magensäure ihr sauer in den Mund schoss.
Als das Würgen nachließ, stand Tara neben ihr und fasste Melissa am Arm, Adam blieb am Boden hocken. Vorsichtig half die Vampirin ihr, sich aufzusetzen und betastete sogleich mit den Fingerspitzen die brennende Stelle an ihrer Kehle.
»Die Wunde hat sich fast geschlossen. In zwei Stunden wird nichts mehr davon zu sehen sein. Wie fühlst du dich? Glaubst du, du kannst dich auf die Bank setzen, wenn ich dir helfe?«
»Ich ... weiß nicht.« Noch immer hatte sie kaum Kontrolle über ihre Gliedmaßen, aber auf dem nassen Boden wollte sie nicht bleiben. Unangenehm wurde ihr ihre matschverschmierte Kleidung bewusst, welche kalt an ihrem Körper klebte. Tara zog sie behutsam nach oben und schwarze Punkte tanzten vor Melissas Augen und ließen sie taumeln, doch die Vampirin stützte sie die wenigen Schritte bis zur Bank. Zitternd ließ Melissa sich auf die Sitzfläche nieder und versuchte, ihren viel zu hektischen Atem zu beruhigen. Sie hätte tot sein können. Eine kleine Stimme in ihr schrie vor Dankbarkeit laut auf, dass es nicht so war – trotz all der Trostlosigkeit, die ihr ihr Leben bot. Ihr Lebenswille hatte noch nicht aufgegeben.
Dann drehte Tara sich zu Adam. »Was ist bloß los mit dir? Hast du deinen Verstand verloren oder ist dir jetzt alles egal?«, fuhr sie ihn scharf an. »Seit wann hast du keine Kontrolle über dich?« Doch die einzige Reaktion des Jungvampirs war es, den Kopf noch weiter zu senken.
»Adam, verdammt, sieh mich an und steh endlich auf!« Selbst Melissa zuckte bei den erzürnten Worten zusammen. »Und erklär mir auf der Stelle, was in dich gefahren ist!«
Widerwillig rappelte Adam sich hoch und hob den Kopf, peinlich darauf bedacht, Melissa nicht anzusehen. Jede Angriffslust war aus seiner Mimik gewichen und in seinen warmen braunen Augen schimmerten Tränen. Ein unheimlicher und gleichzeitig erbarmungswürdiger Anblick in dem blutverschmierten Gesicht.
»Ich ... ich ...« Seine Stimme brach. Und trotz ihres Schocks wurde Melissa klar, dass Adam nichts von diesem Angriff gewollt hatte – es war sein Instinkt gewesen, der mit ihm durchgegangen ist. Das Raubtier in ihm hatte übernommen. Wie hatte es so weit kommen können?
Doch das Raubtier war fort und hatte einen zutiefst verzweifelten Jungen zurückgelassen. Langsam verebbte Melissas Panik. Adam stellte keine Gefahr mehr da.
Unerbittlich fixierte Tara den vor ihr stehenden Vampir. Sie würde ihn keinesfalls ohne eine verdammt gute Erklärung davonkommen lassen, soviel stand fest. Und das erkannte auch Adam.
»Ich war nur so ... so unglaublich wütend«, stammelte er weiter.
»Wütend? Was hat dich derart in Rage versetzt, dass du einen Menschen anfällst?« Irritiert wanderte Taras Blick zwischen den beiden Hin und Her und musterte sie misstrauisch.
Verflucht – Melissa wurde siedendheiß, als sie sich an die Worte erinnerte, die sie Adam an den Kopf geworfen hatte. Schlimm genug, dass sie diese ihm gegenüber ausgesprochen hatte, doch nun würde auch Tara davon erfahren. Zum ersten Mal seit Nicolas' Weggang war sie in der Lage etwas anderes als Schmerz, Wut oder Angst zu fühlen. Wie sehr sie ihre impulsiven Worte bereute. Jetzt war sie es, die den Kopf senkte, um den Blicken auszuweichen.
»Ich bin wütend auf Nicolas, der uns im Stich gelassen hat«, sprach Adam weiter. »Und dann hat Melissa ... ach nicht so wichtig. Wir haben uns gestritten und ich war ohnehin gereizt. Ich habe die Kontrolle verloren.« Der letzte Satz klang so schuldbewusst, dass es Melissa zusammenzucken ließ.
»Wegen einer Auseinandersetzung? Ist dir klar, dass du im Begriff warst, sie umzubringen? Ich habe dich schon früher streiten sehen. Das konnte dich nie aus der Ruhe bringen. Zumindest nicht so.« Argwöhnisch beäugte Tara jetzt sowohl Adam als auch Melissa. »Irgendetwas verschweigt ihr mir. Was hat dich so in Rage versetzt, dass du über sie hergefallen bist?«
Schuldbewusst biss Melissa sich auf die Lippen. Sie wollte ihre Worte nicht wiederholen. Doch das würde auch nicht nötig sein, Adam würde Tara die gewünschte Erklärung liefern.
»Ich hab' versucht mich zusammenzureißen. Wirklich! Ich hab' es so sehr versucht, aber ich ...«
Am liebsten hätte Melissa sich die Ohren zugehalten. Sie wollte die Ungeheuerlichkeit, die sie von sich gegeben hatte, nicht hören. Doch sie konnte der Situation genauso wenig entfliehen, wie Adam. Er tat ihr leid, obwohl er sie vor wenigen Augenblicken noch fast getötet hätte. Es war nicht seine Schuld, sondern ihre. Sie hatte Angst davor, wie die Vampirin auf diese Tatsache reagieren würde.
»... aber du ...«, versuchte Tara Adam die Worte aus der Nase zu ziehen.
Fast flüsternd antwortete dieser. »Ich war so unglaublich hungrig.«
»WAS?« Tara und Melissa rissen gleichzeitig die Augen auf.
Und plötzlich machte alles Sinn. Es war nicht ihr bösartiger Vorwurf gewesen. Nicht nur. Adam war so reizbar, weil er seit Tagen kein Blut zu sich genommen hatte. Er hungerte seit ... ja, seit Nicolas' Fortgang. Sie hätte es wissen müssen. Sein bleiches Gesicht, die dunkelunterlaufenden Augen und die nervösen Bewegungen. Ja, selbst seine harten Worte, die er ihr an den Kopf geworfen hatte, waren alle seinem Hunger geschuldet. Sie hatte das alles nicht registriert. Adam hatte recht gehabt, sie war egoistisch. Sie hatte sich ausnahmslos auf ihr eigenes Leid und ihren eigenen Kummer konzentriert, ohne daran zu denken, was diese Situation für die anderen bedeutete.
»Ich verstehe ja, dass dich ...«, Tara zögerte, als suche sie nach den richtigen Worten, »die aktuellen Umstände mitnehmen. Aber deswegen kannst du doch nicht deine Ernährung einstellen.« Erschüttert sah sie ihn an. »So machst du dich zu einer Gefahr für alle um dich herum.« Hilflos starrte Adam zurück.
»Bist du wirklich so sehr aus der Bahn geworfen, dass du nicht mehr in der Lage bist, normal trinken zu gehen?«
Noch immer regte Adam sich nicht, wortlos stand er da und nur ein Zucken in seinem Gesicht verriet seine Anspannung.
Und die zweite Erkenntnis innerhalb dieser Minute traf Melissa: Tara wusste es nicht. Die Vampirin hatte keine Ahnung, wie Adam sich ernährte.
»Ihr habt es ihr nie gesagt?« Melissas Stimme klang ungewöhnlich rau und ihr Hals brannte bei jedem Wort, dennoch war ihr die Frage schneller entschlüpft, als ihr lieb war.
Adams Blick flackerte und fast unmerklich schüttelte er mit dem Kopf. Er wollte nicht, dass Tara es wusste. Warum nicht?
»Mir was nie gesagt?«
»Ich ... ach nichts. Nicht so wichtig. Ich bin wohl noch etwas durcheinander«, versuchte Melissa die Situation zu retten.
Doch damit ließ die Vampirin sich nicht abfertigen. »Sagt mir jetzt sofort, was hier los ist.« Aber Melissa schwieg eisern. Sie konnte nicht etwas über Adam preisgeben, was dieser für sich behalten wollte.
»Ich habe nie von einem Menschen getrunken«, sagte Adam.
Tara öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn aber sofort wieder, nur um ihn erneut zu öffnen. »Was soll das heißen, du hast nie von einem Menschen ...« Und dann fügten sich auch in Taras Kopf die Puzzleteile zusammen.
»Du meinst, du hast ... Nicolas hat ... oh.«
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