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Sie rannte die Treppe hinunter, schmiss sich mit aller Kraft gegen die große Eingangstür, die sich für ihren Geschmack viel zu langsam aufdrücken ließ und stieß einen ihr entgegenkommenden Mann aus dem Weg. Weiter hastete sie in den weitläufigen Park hinein. Sie keuchte, und ihre Lunge protestierte mit Macht, doch sie war erleichtert überhaupt atmen zu können. Stehenbleiben war keine Option. Sie musste fort. Weg von diesem Ort, an dem alles und jeder sie an Nicolas erinnerte, irgendwohin, wo sie frei war von diesen unablässigen Erinnerungen, die sie quälten.
Minutenlang hielt sie nichts auf, kein Stein, der sie stolpern ließ, und keine Bodenwelle. Erst kurz vor der Kante blieb sie stehen.
Der Wind wirbelte über ihre Haut und die Kälte biss ihr in die Wangen, doch dafür empfing die unendliche Weite sie und lud sie ein, ihren Schmerz loszulassen. Erleichtert zog sie die frische Luft in ihre Lungen und langsam kam ihr wilder Herzschlag zur Ruhe. Bis zum Horizont breitete sich die Freiheit vor ihr aus.
Mit stürmischen Wellen schlug das Meer gegen die Klippen und die Gischt spritzte fast bis zu ihr hoch. Sie schloss die Augen und genoss den Moment der Stille in ihrem Inneren, während die Naturgewalten tobten. Wie oft hatte sie die Nähe der See gesucht, schon damals, als sie noch bei ihrem Vater gelebt hatte. Wenn ihr Herz vor Kummer zu zerspringen drohte, hatte sie die steilen Felshänge mit dem Blick bis zum Horizont aufgesucht, immer die Wellen zu ihren Füßen, die niemals aufhörten, mit ihr zu sprechen. Dort hatte sie Ruhe und Frieden gefunden.
Das Meer würde sie nicht verlassen.
Reglos lauschte sie dem Rauschen und der Schmerz wurde erträglich. Sehnsuchtsvoll glitt ihr Blick über die tosenden Wogen und mit jeder heranbrandenden Welle beruhigte sich ihr Atem weiter. Fasziniert starte sie über das Meer, als würde sie es zum ersten Mal sehen – genau wie im Leuchtturm, als sie von dem endlosen Ausblick ergriffen wurde. Nicolas hatte direkt hinter ihr gestanden, sie sanft mit seinen Armen umschlungen und sie hatten gemeinsam den Anblick des Naturschauspiels in sich aufgesogen. Stillschweigend in perfekter Harmonie. Fast fühlte sie seinen warmen Atem an ihrem Hals.
Wie hypnotisiert streckte Melissa eine Hand nach hinten, um Nicolas zu deuten, näher zu treten. Sie wollte ihn dicht bei sich spüren. Doch sie fasste ins Leere und riss die Augen auf. Da war niemand – natürlich nicht. Sie war nicht im Leuchtturm. Sie stand alleine an den Klippen und Nicolas war nicht bei ihr. Er würde es nie wieder sein.
Tief unter ihr spülten die Wellen gegen die steil aufragenden Felswände, brachen und leckten kraftvoll an diesen hoch. Und die Wellen in ihrem Geist brachten erbarmungslos den Schmerz zurück, umschlossen ihr Sein zur Gänze und zogen sie mit in die tiefsten Abgründe. Selbst an diesem Ort ließen die Qualen nicht von ihr ab.
Und dabei lag die Freiheit direkt vor ihr, lud sie ein und war bereit, sie mit tröstenden Armen zu empfangen. Sie musste nur ihrem Rufen folgen.
Mit letzter Kraft flüchtete sie zurück in die hinterste Ecke ihres Geistes, ließ die Welt außen vor, nichts konnte sie mehr berühren. Der Schmerz schwächte ab zu einen bleichen Glimmen und die Emotionen wurden ausgesperrt. Für sie gab es keine Wünsche mehr, keine Wut oder Trauer, keine Angst – und kein Bedauern.
Minutenlang spielte der Wind mit ihren Haaren. Ihr Puls und ihre Atmung arbeiteten in einem absolut gleichmäßigen Rhythmus. Hin und her spülten die Wellen unter ihr.
Sie trat einen Schritt vorwärts, sodass die Zehenspitzen ihres linken Fußes die Kante berührte. Einige lockere Steinchen lösten sich und verschwanden ungehört in der Tiefe.
Ein letztes Mal holte sie Luft.
Etwas Warmes umfasste ihre rechte Hand.
Weich und doch fest legten sich kleine Finger um ihre.
»Wenn ich traurig bin, seh' ich mir auch gerne das Meer an.«
Melissa blickte verwirrt auf das Wesen neben ihr. Ein schwaches Lächeln lag auf dem Gesicht des Mädchens. Geduldig sah diese sie an, als warte es darauf, dass sie etwas sagte. Mit offenem Mund starrte Melissa zurück – bis sie begriff, wo sie sich befand. Und wie nah Amia mit ihr am Abgrund stand.
Ihre Atmung beschleunigte sich. Hastig stolperte sie einige Schritte rückwärts und zog das Kind dabei mit sich. Keuchend fiel sie zu Boden. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie im Begriff gewesen war zu tun.
Wenn sie starb, dann Nicolas mit ihr. Nichts deutete darauf hin, dass der Zauber gelöst war.
»Wir ... wir sollten nicht so nah ... nicht so nah am Rand stehen.«
»Nein, du hast recht. Adam lässt mich nie so nah herangehen.«
Warum war das Kind hier? Ob sie ihr gefolgt war? Und Adam ... ob er ... Melissa sah sich suchend um, aber niemand war zu sehen.
»Bist du alleine gekommen, mein Engel?«
»Ja. Ich dachte ... ich weiß auch nicht. Ich wollte unbedingt hierher«, druckste Amia herum. Dann senkte sie den Kopf. »Bitte sag Adam nichts davon, ja? Ich darf gar nicht alleine hier sein.«
Noch immer fassungslos starrte sie das Kind an. Wie sollte sie jemals den anderen erklären, was hier gerade passiert war? Dankbar stimmte sie Amias Aufforderung zu. »Okay.«
Das Mädchen lächelte sie erleichtert an und ließ sich dann gegen ihren Arm sinken, um den Blick gedankenverloren über das Meer und in den Himmel wandern zu lassen.
»Nachdem meine Mama gestorben ist, hab ich ganz oft die Wellen beobachtet und die Möwen, wie sie durch die Luft geflogen sind. Ich hab' mir dann vorgestellt, dass ganz am Ende vom Meer meine Mama sein muss und auf mich wartet. Und irgendwann würde eine besonders große Möwe kommen und mich zu ihr bringen.«
Melissa folgte dem Blick des Mädchens und strich ihr dabei über die Haare. Wie viel dieses Kind in ihren jungen Jahren bereits erdulden musste. Und dennoch fand sie immer wieder zurück zu ihrem unumstößlichen Lebensmut.
»Manchmal warte ich heute noch auf so eine Möwe, obwohl ich eigentlich zu alt bin, um daran zu glauben. Aber wenn ich mir vorstelle, wie Mama am Ende von Meer auf mich wartet, fühlt es sich an, als wenn sie doch noch bei mir wäre – irgendwie.«
Melissa schlang fest die Arme um das Kind und fühlte eine tiefe Trauer. Doch mit Amia an sich gedrückt, war es erträglicher. Fest kuschelte sich das Kind an sie und sie vergrub ihr Gesicht in dessen wilden Locken.
»Ach Mäuschen ...«
Eine Weile saßen sie nur da und lauschten den Wellen.
»Du vermisst Nicolas ganz doll, oder?«, fragte Amia.
Unvermittelt spülte eine neue Woge der Verzweiflung über Melissa hinweg und sie drückte Amia noch enger an sich, als könnte die unerschütterliche Zuversicht des Mädchens auf diese Art auf sie selbst abfärben.
Anstatt einer Antwort, fragte Melissa: »Was haben dir Adam und Tara über Nicolas erzählt?«
»Das er sehr lang fort sein wird. Aber er wird uns nicht vergessen. Und wir ihn nicht.«
»Ja«, es fiel Melissa unendlich schwer, die Worte auszusprechen, »das werden wir nicht. Und deswegen vermisse ich ihn.«
»Ich glaube ja, er wartet auf uns. Ein bisschen wie meine Mama.«
Melissa unterdrückte ein freudloses Auflachen. Nicolas hatte bereits mit ihnen abgeschlossen. Doch we gerne hätte sie sich ein Stück von Amias Hoffnung geliehen.
Den ganzen Rückweg zum Gästehaus über ließ sie die Hand des Mädchens nicht mehr los. Oder andersrum, wer konnte das schon beurteilen.
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