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Kichernd zog Amia sie an der Hand durch den langen Flur mit den antiken Türen, die Holzdielen knarrten unter ihren Schritten. Melissa kam kaum hinterher.

»Das musst du unbedingt sehen! Oh, es wird dir gefallen, ich bin mir ganz sicher.«

Vor wenig mehr als einer Stunde waren sie in diesem abgelegenen Gästehaus mit seiner Fassade aus kunstvoll verziertem Mauerwerk angekommen, welches malerisch am Ufer eines ausladenden Sees stand. Ein schmiedeeisernes Tor hatte sie bei ihrer Einfahrt auf das Grundstück empfangen und ihnen den Weg zum Haus geleitet. Melissa konnte nicht leugnen, dass sie das Anwesen mit dem gepflegten Garten beeindruckte, obwohl die letzten Jahrhunderte ihre Spuren an diesem hinterlassen hatten. Nach der auffallend herzlichen Begrüßung durch das Personal hatten sie ihre Zimmer bezogen – ihrer kleinen Familie wurde direkt ein gesamter Flur überlassen – und begonnen, sich mit ihrer neuen Umgebung vertraut zu machen. Amia konnte nicht umhin, alle Klinken im Gang zu drücken, um zu testen, welche Türen sich öffnen ließen. Offenkundig hatte das Mädchen dabei eine spannende Entdeckung gemacht, die sie umgehend mit Melissa teilen wollte.

Ohne Melissas Hand loszulassen, zog Amia sie in ein großzügig geschnittenes Zimmer, ausgestattet mit schweren, antik anmutenden Möbeln. Um einen kniehohen Tisch herum standen ein Sofa und zwei wuchtige Ohrensessel. In der rechten Wand war ein ausladender Kamin eingelassen, indem zu Melissas Freude bereits ein knisterndes Feuer brannte, das den Raum in ein flackerndes Licht hüllte und eine wohlige Wärme verströmte.

Entgegen ihrer Vermutung war die Feuerstelle mit dem breiten steinernem Sims jedoch nicht Amias Ziel, im Gegenteil. Das Mädchen zog sie weiter in die entgegengesetzte Richtung des Raums, bis zur fensterlosen linken Wand und blieb vor dieser stehen. Ein weißes Tuch bedeckte einen hängenden Gegenstand, dessen Form verdächtig nach einem mannshohen Gemälde aussah.

»Na, so wie du kicherst, hast du schon herausgefunden, was dort drunter verborgen ist.«

Melissa trat einen Schritt näher an das verhangene Objekt heran und fuhr mit den Fingerspitzen über den dicken Stoff. An den Rändern machte sie längliche Erhebungen aus, die unzweifelhaft einen Bilderrahmen darstellten. Was mochte dieses Gemälde zeigen, das Amia dermaßen belustigte?

Das Mädchen hob den unteren Teil des Tuchs empor und verschwand darunter, nur ihre Füße schauten noch hervor. »Wenn du es sehen willst, musst du mir helfen, den Stoff oben abzumachen. Da komm ich nicht ran. Das Bild wird dir gefallen. Ich weiß es.«

Mit einer vorsichtigen Drehung befreite Amia sich wieder von dem herabhängenden Tuch und sah Melissa an. Diese zögerte kurz. Ob jemand etwas dagegen haben würde, wenn sie diese Sache genauer unter die Lupe nahm? Andererseits, sie würde keinen Schaden anrichten. Sie zuckte mit den Schultern. »Na gut, dann lass uns sehen, was du gefunden hast.« Behutsam löste sie die hinter dem Rahmen festgesteckten Enden des Tuchs, zog dieses von der Leinwand und ließ es in ihre Hände gleiten.

Amia, die das Gemälde nun in voller Pracht erblicken konnte, starte es mit offenem Mund an. »Ist das nicht cool?«

»Wow!«

Melissa ging zwei Schritte zurück, um das Gesamtwerk besser erfassen zu können. Was beeindruckte sie am meisten? Sie konnte sich kaum entscheiden. Die akkurate Technik, in der das Bild gemalt worden war und es nahezu lebensecht wirken ließ? Das anziehende Motiv selbst? Oder doch die unübertreffliche Überheblichkeit, die es repräsentierte?

»Gefällt es dir?«, fragte Amias helle Kinderstimme.

»Das ist ... ist ... das ist beeindruckend.«

Melissa presste sich die Hand fest auf dem Mund, aber es war zu spät. Ein erbarmungsloses Prusten entwich ihrem Mund und Lachtränen stiegen ihr in die Augen. Schließlich gab sie es auf, nahm die Hand vom Mund und hielt sich stattdessen den Bauch. »Wie kommt man auf die Idee, sowas von sich anfertigen zu lassen? Ich glaube, ich habe Nicolas Größenwahn bislang hoffnungslos unterschätzt.«

»Also, ich finde es richtig toll. Obwohl er so seltsam gekleidet ist.«

Erst jetzt fiel Melissa der Kleidungsstil des von Kopf bis Fuß dargestellten Mannes auf, der wirkte, als wäre er dem vorletzten Jahrhundert entsprungen. Automatisch war sie davon ausgegangen, dass das Bildnis vor kurzer Zeit angefertigt worden sein musste, da Nicolas, wie sie ihn kannte, nicht um einen Tag gealtert zu sein schien. Doch schlagartig wurde ihr bewusst, dass das nichts zu bedeuten hatte. Viel wahrscheinlicher war es, dass es sich tatsächlich um ein sehr viel älteres Werk handelte.

Ihr Lachen verklang und sie trat näher an das Gemälde heran. Mit neu erwachter Ehrfurcht betastete sie den Farbauftrag, als suche sie etwas. Nicolas Züge wirkten unglaublich real, fast lebendig, als würde er tatsächlich vor ihr stehen. Sein Aussehen hatte sich, von Kleidung und Frisur abgesehen, nicht verändert. Und das vermutlich seit über hundert Jahren nicht mehr. Sie kannte sein Alter, er hatte es ihr verraten, aber ihn auf diese Art vor sich zu sehen, als Teil einer vergangenen Zeit, gab diesem Wissen eine neue Empfindung von Realität.

Und da war noch eine Sache, die sie zunächst nicht greifen konnte, als würde etwas mit seinem Gesicht nicht stimmen. Erst nachdem sie dem gemalten Nicolas minutenlang betrachtet hatte, wurde ihr bewusst, um was es sich handelte. Dieser Nicolas wirkte ernster, als der, den sie kannte, auf eine unbestimmbare Art verschlossener – und härter.

Ob nur die vergangene Zeit die Veränderung zum jetzigen Nicolas verursacht hatte?
»Ich weiß ja, dass du kaum die Augen von mir lassen kannst, aber meinst du nicht, du übertreibst ein wenig?«

Melissa wirbelte herum.

Mit einem überheblichen Grinsen stand Nicolas lässig an den Türrahmen gelehnt und beobachtete ungeniert Melissas und Amias Treiben.

Oh, wie sie es hasste, wenn er sich anschlich – und das hatte nichts damit zu tun, dass sie sich ertappt fühlte.

Hastig versuchte sie, das Gespräch in eine sachliche Richtung zu lenken. »Warum steht hier ein derart riesiges Kunstwerk von dir herum?«

Ursprünglich hatte sie nach der Entstehung des Gemäldes fragen wollen, aber als sie die Worte aussprach, wurde ihr die Absonderlichkeit über Nicolas Bildnis in einem abgelegenen Gästehaus bewusst.

»Weil ich denke, dass es in der Eingangshalle zu protzig wirken könnte. Die Zeiten haben sich geändert, es ist nicht mehr üblich, Gemälde der Inhaber eines Hauses öffentlich zugänglich auszuhängen. Abgesehen davon würde es unterstreichen, dass mein Äußeres sich selbst über Jahrzehnte nicht verändert. Daher wurde es hier verstaut.«

Das machte Sinn, nicht jeder sollte die Unveränderbarkeit der Vampire unter die Nase gerieben bekommen, aber ... was hatte er da gesagt?

»Der Inhaber? Willst du damit sagen ...?«

»Dass mir dieses Haus gehört.« Er nickte.

Mit offenem Mund starrte Melissa Nicolas an. Dieser grinste amüsiert zurück, während Amia unbeeindruckt zwischen Gemälde und dem echten Nicolas hin- und herblickte, als wolle sie vergleichen, ob auch jedes Detail exakt wiedergegeben worden war.

»Dieses Haus hast du gemeint, als du von weiteren Immobilien gesprochen hast?« Melissa riss die Augen auf. »Ich hatte gedacht, du sprichst von dem einen oder anderen kleinen Wohnhaus. Nicht von etwas derart ... Riesigem!«

»Nun, mit kleinen Häusern lässt sich kaum Geld verdienen. Dabei hat sich ein regelmäßiges Einkommen als durchaus komfortabel herausgestellt.« Nicolas zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Und riesig ist dieses Haus sicher nicht. Ich kenne größere. Aber es erfüllt seinen Zweck und von Zeit zu Zeit ist es ein netter Ort zum Entspannen.«

»So verdienst du dein Geld? Indem du ein Gästehaus leitest?«

Wie wenig sie doch über diesen Mann wusste. Nicolas war nicht nur der Vampir, der sich um Amia und Adam kümmerte. Er hatte noch etliche andere Seiten und nicht alle hatte sie bereits kennengelernt.

»Nein, ich leite es nicht selbst. Verwaltung und Führung meiner Immobilien liegen in Maurices Hand. So bleibt mir mehr Zeit für andere Sachen.«

»Maurice ... wer ist das? Du sagst seinen Namen so selbstverständlich, als würde ich ihn bereits kennen.«

»Tust du. Er war es, der dich aus dem Pub ins Hotel begleitet hatte, als ...«

Nicolas beendete den Satz nicht, doch das war auch nicht nötig. Zu gut entsann Melissa sich an ihren Rauswurf aus dem Pub.

»Der Mann, der mich ungebeten fortgebracht hatte ... ohne auf meinen Widerspruch Rücksicht zu nehmen.« Sie biss die Zähne zusammen bei der Erinnerung. »Dieser Typ ... dieser Maurice«, verbesserte sich Melissa sogleich, »er hat mir erzählt, er wäre der Geschäftsführer des Pubs ... Ist der Pub auch eines deiner Besitztümer?«

»Ja, das RED DRAGON gehört dazu.«

»Scheint ja nicht viel Arbeit zu sein, deine Geschäfte zu leiten, wenn Maurice noch Zeit gefunden hat, mich ungebeten zum Hotel zu begleiten.«

»Oh, ich denke, das unterschätzt du. Dich begleitet hat er nur auf meinem expliziten Wunsch hin. Niemand anderem hätte ich dich überlassen. Ich hatte Glück, dass er an jenem Tag vor Ort war.«
Melissa rümpfte die Nase, sie hätte kein Problem gehabt, auf die aufgezwungene Begleitung zu verzichten. Doch dann strich sie sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über die Unterlippe. »Du vertraust ihm wirklich.«

»Tue ich, ja. Ich kenne ihn, seit er auf der Welt ist. Vor ihm hat sein Vater meine Geschäfte geführt und zuvor dessen Vater und ... nun, sagen wir, es handelt sich um eine Vertrauensbasis, die über viele Generationen gewachsen ist.«

Melissa riss die Augen auf. »Dann wissen sie, dass du ...«

»Dass ich ein Vampir bin? Dass meine Lebensspanne deutlich länger als gewöhnlich ist? Ja, natürlich. Alles andere würde die Zusammenarbeit enorm erschweren. Auch als Vampir benötigt man Beziehungen, die nicht von Geheimnissen erschwert werden.«

Bislang war Melissa davon ausgegangen, dass nur Nicolas' kleine Familie über seine Vampirnatur Bescheid wusste. Dass er weitere Menschen eingeweiht haben könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen. Ihr schwirrte der Kopf bei all den neuen Erkenntnissen und sie konnte nicht leugnen, dass sie neugierig auf diesen Mann geworden ist, dem Nicolas sein vorbehaltloses Vertrauen schenkte. Aber da gab es eine Sache, die sie noch mehr interessierte.
»Und wie kommt man nun darauf, ein derart größenwahnsinniges Bildnis von sich anfertigen zu lassen?«

Nicolas lachte laut auf. »Gib einfach zu, dass du es fantastisch findest! Diese einzigartige Kunstfertigkeit des Malers, ich weiß, du hast dafür ein Auge. Und die perfektionierte Technik gepaart mit dieser prägnanten Ausdrucksweise, all das nur übertroffen vom Motiv selbst. Gib es zu, würde ich nicht leibhaftig vor dir stehen, du könntest nie wieder den Blick von diesem Kunstwerk abwenden.«

Melissa klappte der Mund auf und einige Sekunden starrte sie Nicolas sprachlos an, bevor sie sich wieder sammelte.

»Frage beantwortet. Du BIST so größenwahnsinnig.«

Noch immer mit einem breiten Grinsen im Gesicht zog er sie an sich und gab ihr einen herrlich prickelnden Kuss auf die Lippen, bevor er nach dem Tuch in ihren Händen griff. »Komm, lass es uns wieder abdecken, damit du es nicht die ganze Nacht anstarren musst und ich, das Original, noch etwas von dir habe.«

Als er mit ihr den Raum verließ, folge ihnen Amias vergnügtes Kichern.


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