70


Kaum hatte Melissa ihr Handy mitsamt dem Zettel weggesteckt, flog die Tür auf und Nicolas kam hereingestürmt. Sie wirbelte herum.

»Ich weiß, ich habe gesagt, ich will keine merkwürdigen Geräusche hören. Aber absolute Stille ...«

Prüfend lag sein Blick auf den beiden Frauen. »Was treibt ihr hier?«

Melissa zwang sich zu einem Lächeln und entspannte sich nur langsam, nachdem er sich von ihrem Wohlergehen überzeugt hatte.

»Wir haben uns nur unterhalten. Ich denke, wir sind jetzt fertig.« Melissa hielt es nicht für nötig, Nicolas in ihr Unterfangen einzuweihen. Sie hatte eine Ahnung, dass dieses nicht seine Zustimmung finden würde. Zusammen mit ihm drehte sie sich zur Tür, um den Raum zu verlassen. Sie hatte erfahren, was sie wissen wollte.

»Ihr lasst mich hier zurück? Bei dieser grässlichen Blutsaugerin?« Helenas klagende Stimme hatte beinahe etwas Zorniges an sich.

Abrupt blieb Nicolas stehen und wendete sich wieder zu Helena. Langsam.

Zu langsam.

»Das klingt, als hättest du geglaubt, wir nehmen dich mit ... Was bringt dich zu dieser Annahme?« Melissa verkrampfte sich, als sie Nicolas gefährlich kalte Stimme vernahm, ihre ehemalige Chefin hielt dies jedoch nicht vom Weitersprechen ab.

»Ihr könnt doch nicht einfach ...« Verzweifelt blickte Helena von einem zum anderen, aber als sie auf Nicolas versteinerte Miene traf, kehrte sie sich gänzlich Melissa zu. »Du bist kein schlechter Mensch. Bitte, du darfst das nicht zulassen. Diese Frau, diese Kari, ist ein echtes Monster und ... und es sind so viele Vampire in diesem Haus. Du lässt mich nicht im Stich, oder?«

Nicolas näherte sich Helena bis auf wenige Zentimeter und ging, wie vor einem kleinen Kind, in die Hocke. Lediglich sein Gesichtsausdruck verriet, dass er ganz und gar nicht vorhatte, Helena wie ein Kind zu behandeln. Ein boshaftes Lächeln legte sich auf seine Lippen und sein lauernder Blick ließ das Raubtier in ihn erkennen. Hoffentlich würde Helena jetzt den Mund halten. Warum hatte diese sie auch zurückrufen müssen?

»Und jetzt wünschst du dir, dass ein anderes Monster dich mitnimmt? Weil du glaubst, ich bin das umgänglichere Monster?« Er klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Unterlippe. »Es ist kaum mehr als ein paar Stunden her, da hast du deiner liebreizenden Tochter und ihren Freunden dabei geholfen, ebendieses Monster einzufangen, um es für immer zu beseitigen. Weil ich so sehr zum Fürchten bin. Hat sich das geändert?«

Jede Faser an Helena bebte, doch sie hielt Nicolas Blick stand. »Du ... du würdest mir nichts antun. Du ... Melissa hätte sich nicht auf dich eingelassen, wenn du tatsächlich ein bösartiger Mensch ... Vampir wärst.« Es klang eher wie eine Frage, als wie eine Feststellung.

»Du könntest mich gehen lassen.«

Nicolas hob eine Augenbraue. »Dich gehen lassen? Warum sollte ich das tun?«

»Ich habe ... habe darauf bestanden, dich nicht umzubringen. Ich habe immer wieder darauf beharrt. Du bist nur noch am Leben, weil ... weil ich für dich Partei ergriffen habe.«

»Also soll ich dir dankbar sein, weil du mich nicht umgebracht hast?« Abrupt fiel das Lächeln aus Nicolas' Gesicht. Melissa war mit kaum wahrnehmbaren Schritten an die beiden herangetreten, in der Absicht, Nicolas abermals von Helena wegzuziehen. Doch als sie seine finstere Miene erblickte, zögerte sie, ihn zu berühren. Was sie sah, hatte kaum noch etwas mit dem Nicolas, den sie kennengelernt hatte, zu tun. Dieser Ausdruck an ihm war ihr erst ein einziges Mal begegnet.
Kurz bevor er getötet hatte.

Stumm schüttelte sie den Kopf in der Hoffnung, Helena damit am Weitersprechen zu hindern, doch diese konnte ihren Blick nicht von dem drohenden Raubtier vor ihr abwenden und nahm Melissa kaum wahr. Mit schriller Stimme sprach Helena weiter: »Dankbar ... Ja, ja genau! ... Du könntest das Gleiche für mich tun.« Ihre Mundwinkel zogen sich krampfhaft nach oben, doch anstatt eines Lächelns erschien das verzerrte Abbild einer Verrückten.

Warum konnte Helena nicht einfach still sein?

»Vielleicht ... wenn du mich hier rausholst ... und ... und laufen lässt, dann wären wir quitt.«
Endlich brach Helenas Redeschwall ab und sie blickte angespannt auf Nicolas. Kein Ton erklang mehr im Raum. Niemand atmete.

Eine Sekunde lang.

Zwei.

Drei.

Melissa schrie grell auf und stolperte einige Schritte rückwärts, als Nicolas sich auf Helena stürzte und seine Zähne in ihren Hals schlug. Hart presste sie sich die Hand auf den Mund.
Helena starrte aus unnatürlich weit aufgerissenen Augen in den Raum und ein merkwürdiges Gurgeln erklang aus ihrer Kehle, bevor sie langsam erschlaffte. Eisern hielt Nicolas sie in seinem Griff, eine Hand dabei in ihre Haare gekrallt und ihren Kopf nach hinten ziehend. Regelmäßige Schluckgeräusche begannen Helenas ersterbende Gurgellaute zu ersetzen. Nicolas trank in kräftigen Zügen und Melissa beobachtete ihn dabei, unfähig sich zu rühren oder auch nur den Blick abzuwenden.

Geradezu fasziniert.

Nie zuvor hatte sie ihn von einem anderen Menschen trinken sehen. Es hatte nichts mit ihrem Erlebnis gemein, als sie Nicolas ihr Blut angeboten hatte.

Mit roher Gewalt presste Nicolas Helena an sich.

Er nahm sich, was er wollte.

Panik und Schmerzen schrien aus Helenas Gesichtszüge, bis ihre Lider anfingen zu flattern und sich langsam zu schließen. Mit jedem Schluck schien ihre Haut einen blasseren Farbton anzunehmen.

Endlich schaffte Melissa es, sich aus ihrer Starre zu befreien und auf Nicolas zuzugehen, zögernd streckte sie ihre Hand nach ihm aus und berührte ihn an der Schulter. Ein grollendes Knurren drang aus seiner Kehle und ließ Melissa sprunghaft zurückweichen.

»Nicolas ... bitte ... hör auf! Du ... du bringst sie um.« Ihre Stimme schrillte unangenehm in ihren eigenen Ohren.

Nicolas reagierte, indem er sich von ihr fortdrehte, sodass sie nur mehr ihren Rücken erblicken konnte, ohne seine Zähne von Helenas Hals zu lösen.

Noch einmal wollte Melissa etwas sagen, ihn stoppen, doch sie brachte keinen Ton hervor.
Es gab nichts, was sie tun konnte, um Helena zu retten.

Urplötzlich zog Nicolas sich zurück und ließ die benommene Helena auf den Boden fallen.
Wimmernd rollte diese sich zu einer zitternden Kugel zusammen und presste beide Hände auf ihren Hals. Instinktiv wollte Melissa ihrer ehemaligen Chefin zur Hilfe springen, doch Nicolas hielt sie mit einer Hand zurück. Er würde sie keinen Millimeter näher an Helena heranlassen. Dennoch registrierte Melissa erleichtert die Lebenszeichen der am Boden liegenden Frau.
»Ich habe dich ebenfalls nicht umgebracht – wir sind quitt.« Ohne Helena weitere Beachtung zu schenken, wendete Nicolas sich Melissa entgegen, ergriff sie sanft an der Hand und führte sie aus dem Raum.




Melissa packte ihre kleine Tasche, nur wenige Sachen hatte Tara ihr aus ihrer Hütte mitgebracht. Nachdem Nicolas ausgiebig getrunken hatte, gab es keinen weiteren Grund, ihren Aufenthalt bei Kari zu verlängern.

»Hast du Marlon eigentlich informiert über den Ausgang unseres kleinen Abenteuers?«

Siedendheiß wurde ihr bewusst, dass sie nichts dergleichen getan hatte, Marlon musste sich seit dem vergangenen Abend schreckliche Sorgen machen. Erschrocken sah sie Adam an. Dieser schüttelte nur mit zusammengepressten Zähnen den Kopf. »Mach dir keine Mühe. Ich habs erledigt, nachdem er sich bei mir gemeldet hat ... ich soll schön grüßen.«

»Danke«, murmelte Melissa, doch da war Adam schon hinausgelaufen, Amia im Schlepptau. Tara, die nicht riskieren wollte, dass Adam alleine auf Kari stieß, folgte ihm.

Hoffentlich hatte sie die Sympathien des jungen Vampirs nicht vollends verspielt.

Ursprünglich wollte sich die gesamte Familie im Zimmer treffen, um das Hotel gemeinsam zu verlassen. Nun wartete nur noch Melissa auf Nicolas. Durch die halbgeöffnete Tür warf sie einen Blick in den Hotelflur. Wo blieb er nur?

Sie trat auf den Flur und trippelte von einem Fuß auf den anderen. Als eine Hand sich schwer auf ihre Schulter legte, zuckte sie zusammen. Nie würde sie sich an das pfeilschnelle Auftauchen gewöhnen. Vampire waren durchaus in der Lage, sich in normaler Geschwindigkeit zu bewegen, warum tat Nicolas es dann nicht? Ihre überreizten Nerven vertrugen keine weiteren Schreckmomente, dennoch versuchte sie sich an einem Lächeln.

Es war Kari, der sie ins Gesicht lächelte.

»Melissa, du willst schon gehen?« Melissa wich zwei Schritte zurück. Sie empfand unendliche Dankbarkeit der Vampirin gegenüber für Nicolas Befreiung – dennoch wollte sie nicht eine Sekunde zu viel Zeit mit ihr verbringen.

»Ich hoffe, dein Aufenthalt in meiner Obhut hat dir zugesagt. Letzten Endes war die Begegnung mit dir unterhaltsamer als erwartet.« Schmunzelnd überbrückte Kari die entstandene Lücke zwischen ihnen und legte Melissa die Hand auf den Oberarm, wie zu einem Gespräch mit einer vertrauten Freundin.

Melissas blickte Kari aus schmalen Augen an. Der Vampirin würde ihr beschleunigter Herzschlag nicht entgehen, dennoch entschied Melissa sich gegen falsche Höflichkeit. Wenn Kari finstere Pläne hatte, so konnte sie diese ohnehin nicht verhindern. »Unterhaltsam – eine bemerkenswerte Wortwahl.«

»Oh, du bist noch nachtragend wegen des belanglosen Appetithappens? Nur eine kleine Neckerei zum Kennenlernen. War es so schrecklich? Bedenke, was du dafür bekommen hast.«
Weniger der Biss – obwohl er unzweifelhaft schmerzhaft gewesen war – sondern vielmehr Karis Worte vom Vorabend waren es, die Melissa noch immer mit den Zähnen knirschen ließ. Und die Angst, etwas Wahres könnte an ihnen dran sein.

»Was willst du noch?«

»Ich wollte dir eine Einladung für ein Wiedersehen aussprechen. Es wäre zu schade, deine Gesellschaft nicht erneut genießen zu dürfen.«

Melissa starrte die Vampirin an. Jetzt hatte diese völlig den Verstand verloren. Was war das für ein merkwürdiges Spiel? »Danke, kein Bedarf.«

»Oh, süße Melissa. Man gewöhnt sich schnell an ein Leben unter Vampiren. Nicolas sorgt sich um dich, er schützt dich, erfüllt deine Bedürfnisse. Und Tara, Adam und Amia – sind sie nicht wie eine Familie für dich?«

Was ging Kari ihr Verhältnis zur kleinen Vampirfamilie an? Absolut nichts!

»Ich kann selbst auf mich aufpassen.«

»Sicher kannst du das. Doch wie wird es sich anfühlen, wenn sie deiner überdrüssig werden und du alleine darstehst, einsam und verlassen. Einsamkeit kann ein Arschloch sein.« Karis Lächeln erstarb.

»Das wird nie geschehen.« Nicolas Stimme erklang drohend hinter Melissa. Wie nebenbei streifte er Karis Hand von ihrem Oberarm und platzierte dort seine eigene. Melissa bewegte sich ein winziges Stück zurück, genug, damit ihr Rücken gegen Nicolas festen Körper stieß. Diese leichte Berührung war alles, was sie brauchte, um ihren Herzschlag wieder zu beruhigen.

»Nicolas, eine Freude, dass du kommst dich zu verabschieden. Ich weiß das zu schätzen. Doch was deine Einschätzung zu Melissa anbelangt ... selbst du kannst nicht hellsehen. 

Möglicherweise wird sie dich tatsächlich nie langweilen. Doch die Welt kann grausam sein. Wer steht ihr bei, falls du es einmal nicht kannst? «

»Ich wiederhole mich ungern: Das wird nie geschehen.«

»Nur für den Fall, dass du dich irrst: Melissa soll wissen, dass es immer einen Platz in meiner liebevollen Gemeinschaft für sie geben wird, mit Menschen – und Vampiren – die ihre Gesellschaft zu schätzen wissen. Sie könnte ein zufriedenes Leben in Luxus führen. Und die Gegenleistung ... ist lächerlich gering, nichts, womit sie nicht zurechtkommt ... wie sie bereits bewiesen hat.«

Melissa spürte Nicolas' Körper sich verspannen. »Du wirst sie nicht für deinen Hofstaat bekommen ... du hattest bereits mehr, als dir zustand.«

»Oh, ich habe unsere Abmachung nicht verletzt.« Ein unschuldiges Lächeln umspielte Karis Mund, doch das Lauern, mit dem sie auf Nicolas' Reaktion wartete, war unverkennbar.
Sein Griff um Melissas Arm intensivierte sich. »Wir gehen.«

»Sagt wer?«

Fast schmerzhaft drückten Nicolas Finger in Melissas Arm, bevor er sie unvermittelt losließ.
Kari ergriff die Gelegenheit, zog ein kleines Kärtchen mit einer Nummer hervor und steckte es ihr in die Manteltasche. »Entscheide selbst, ob oder wann du anrufen willst«, säuselte sie Melissa zu. »Meine Menschen sind freiwillig bei mir, außer jemand hat sich wirklich übel benommen. Aber selbst jemand wie Helena wird lernen, unsere Vorzüge zu schätzen.«

Nicolas schnaubte verächtlich, kurz erwartete Melissa, er würde ihr die Karte abnehmen, doch er tat nichts dergleichen. Melissa brauchte Nicolas Aufforderung nicht, um auf dem Absatz kehrtzumachen und grußlos Richtung Fahrstuhl zu eilen. Nicolas folgte ihr – genauso wie ein leises, glasklares Kichern.

Niemals würde Melissa diese Karte nutzen.




An meine Leser:
Du hast Melissa und Nicolas bis hierhin begleitet? Wow! Der Wahnsinn! Das sind bislang 70 Kapitel und ich freue mich, dass du noch dabei bist! ♥️
Es motiviert mich ungemein zu wissen, dass es Menschen gibt, die meine Geschichte tatsächlich lesen und vielleicht sogar mögen.😊

Und jetzt kommt die Bitte:
Ich sehe eure Klicks, doch die meisten Leser bleiben vollkommen unsichtbar. Das ist nicht wirklich schlimm, ich wünsche euch dennoch viel Vergnügen. Aber ihr müsst wissen, ich freue mich wie ein Schnitzel, wenn doch einmal jemand das Sternchen findet. Das macht die Sache irgendwie nahbarer, es fühlt sich mehr an, wie echte Menschen hinter den Klicks. Und die Motivation weiterzuschreiben wächst. Also, wer bis hierhin noch dabei ist, bitte klickt doch nur das eine Mal auf den Stern. Damit ich weiß, dass es euch gibt! (Kommentare wären dann des I-Tüpfelchen)
Vielen lieben Dank!


Und an alle, die sowieso schon fleißig voten: ihr seid der Grund, dass ich hier noch schreibe! ♥️♥️♥️

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