65
Mit angezogenen Knien saß Melissa auf dem Sofa in diesem fremden Hotelzimmer und versuchte weiterzuatmen. Es kostete sie ihre gesamte Kraft. Ihr Oberkörper wippte leicht vor und zurück, immer wieder. Die Fahrstuhltür ließ sie dabei nicht aus den Augen.
Es würde alles gut werden. Bestimmt. Kari würde Nicolas befreien. Es musste funktionieren. Es durfte nichts schiefgehen. Es geht ihm gut. Bestimmt geht es ihm gut.
Warum dauerte das so lange?
Der Hunger war aus den Blicken ihrer zwei Vampir-Aufpasser gewichen. Fast glaubte Melissa, Mitleid in diesen zu erkennen.
Vor und zurück. Vor und zurück.
Immer wieder linste sie zur Uhr, nur um festzustellen, das kaum Zeit vergangen war. Man brachte ihr Essen und Trinken, sie rührte nichts davon an. Am Ende waren es Stunden, die vergingen, bevor die Aufzugstür piepte. Melissa riss die Augen auf. Kari, war sie zurück?
Die Tür öffnete. Es war nicht Kari. Ein fremder Mann trat in den Raum. Ein Vampir, korrigierte Melissa sich. Die Unterscheidung gelang ihr mühelos.
Mit der vampireigenen Anmut glitt er auf Melissa zu. »Ich soll dich informieren.«
Sie verkrampfte sich. Der Miene des Mannes war nichts zu entnehmen.
»Sie haben ihn gefunden. Es geht ihm ... es wird ihm gut gehen.«
Melissa sah, wie sich die Lippen des Mannes weiter bewegten, doch sie begriff den Sinn der Worte nicht mehr. Nicolas war gerettet. Einzig an diese Wahrheit klammerte sie sich. Ein Strudel aus Erleichterung erfasste sie und ließ sie schwindeln. Sie hatte ihn nicht verloren. Den Vampir direkt vor sich, nahm sie kaum noch wahr.
»... die beiden Leichen wurden direkt beseitig und die Frau darf sich bei Zeiten vor Kari verantworten. Gibt es sonst noch etwas, was du wissen willst?«
Hatte sie richtig gehört? Wovon sprach der Mann? War doch etwas mit Nicolas? Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie den fremden Vampir an. »Hast du Leichen gesagt?«
»Ja, was glaubst denn du? Das wir sie dort lassen? Es würde so viele unnötige Fragen aufwerfen. Wir haben unsere Methoden.«
»Wer ... wer ist gestorben?«
Genervt verdrehte der Vampir die Augen. »Du hast nicht gerade konzentriert zugehört, was? Warte ab, man wird dich noch genauer unterrichten.«
»Was ist mit Nicolas?«, platzte Melissa mit der Frage heraus, die ihr wirklich auf der Seele brannte.
»Ich kenne nicht alle Details, aber er lebt und da er ein Vampir ist, wird er sich erholen. Dürfte ziemlich durstig sein, der Gute.«
Melissa blickte ihr Gegenüber verwirrt an. Dieser schien Mitleid mit ihr zu haben und erklärte jetzt doch ausgiebiger.
»Man hat ihn nahezu komplett ausbluten lassen. Beste Methode, um einen Vampir wehrlos zu machen. Je weniger Blut er im Körper hat, desto langsamer wird er, bis der Organismus seine Funktion vollständig einstellt und Herz und Atmung stoppen. Erst die Aufnahme von frischem Blut kann einen solchen Vampir wieder zum Leben erwecken. Unschöne Sache.« Gelangweilt zuckte der Mann mit den Schultern. Melissa jedoch kroch eine Gänsehaut über den Körper. Was hatte man Nicolas angetan? Sie benötigte alle Kraft, um einigermaßen gleichmäßig weiterzuatmen.
»Und sowas überleben Vampire?«
»Ja, so leicht sind wir nicht unterzukriegen. Mach dir keine Sorgen, Mädchen. Dein Nicolas hatte, soweit ich das mitbekommen habe, sogar noch geatmet. Wenn auch ausgesprochen langsam. Lass ihn sich satttrinken, und dann ist er wieder ganz der Alte.«
Es fiel Melissa schwer, sich vorzustellen, jemand könnte eine solche Tortur überleben, aber noch schwerer fiel ihr die Vorstellung von einer Welt ohne Nicolas. Sie beschloss, dem Bericht zu vertrauen.
»Und jetzt, wenn ich bitten darf ...« Er machte eine einladende Geste Richtung Lift. »Kari hat angeordnet, dich zu ihr zu bringen.« Und zu Nicolas, dachte Melissa den Satz still weiter. Sie brauchte dringend die unwiderlegbare Gewissheit, dass mit ihm alles in Ordnung war. Sie wollte ihn sehen, so schnell wie möglich.
Stöhnend drehte Nicolas sich von einer Seite auf die andere. Besser wäre es, er würde sich überhaupt nicht bewegen, aber das Brennen in seinen Adern war anders nicht zu ertragen. Noch immer fehlte seinem lädierten Körper eine deutliche Menge Blut und das brachte ihn komplett um den Verstand. Er war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen und wenn es ihm doch gelang, so handelte es sich stets um Erinnerungen, die er am liebsten auf ewig löschen wollte.
Das hämische Lachen von diesem Tom hatte sich tief in sein Gehirn eingegraben und Nicolas' Verhältnis zu Messern würde nie wieder dasselbe sein. Die Schnitte in seinen Handgelenken waren viel zu rasch verheilt, zumindest dem Geschmack der Männer nach. Doch zu sehr betrübte sie diese Tatsache nicht. Ohne Skrupel öffneten sie die Wunden erneut, etliche Male, bis diese sich nicht mehr verschlossen und Nicolas' Körper keine weitere Kraft für die Reparatur aufbrachte.
Immer kamen sie zu zweit, als würden sie nicht darauf vertrauen, dass er absolut wehrlos war, dabei schaffte er es kaum noch zu atmen. Die fremde Frauenstimme hatte er nicht wieder gehört, offenbar hatte sie den Männern das Feld überlassen.
Nicolas konnte nicht einmal schätzen, wie lange er sich in diesem Zustand befunden hatte, auf dem Boden liegend, seine Kleidung vollgesogen mit seinem eigenen Blut. Zeit wurde zu einer Nebensächlichkeit und nur die schreienden Schmerzen existierten, bis auch diese abklangen und eine bleierne Benommenheit von ihm Besitz ergriff.
Irgendwann griffen, wie so oft zuvor, Hände nach ihm. Doch diesmal hoben sie ihn hoch und trugen ihn fort. Er wusste nicht, wo er war oder wohin man ihn brachte und es interessierte ihn auch nicht. Er hatte den Bezug zur Welt verloren und die Geräusche und Stimmen zogen an ihm vorbei, als würden sie einer anderen Realität angehören. Nur ein nagendes Hungergefühl erreichte deutlich seinen Geist.
Bis diese salzige Flüssigkeit seine Lippen benetzte. Und plötzlich hatten alle seine Sinne einen Fokus. Er wollte diese Substanz trinken und nie wieder damit aufhören. Der Name dieser Flüssigkeit war ihm entfallen, ausgedörrt wie er war. Er wusste nur, dass er sie wollte wie sonst nichts auf der Welt.
Anfangs verweigerte sein Kehlkopf zu schlucken, und jemand hielt ihn, hob seinen Oberkörper an und bettete seinen Kopf nach hinten. Die warme Flüssigkeit rann ohne sein Zutun seine Kehle hinab, bis sein Schluckreflex wieder einsetzte. Immer gieriger saugte er an dem festen und doch weichen Etwas, das seinen Mund bedeckte und diese Köstlichkeit darbot. Die Nebel in seinem Kopf wurden lichter und er gewann eine erste zittrige Kontrolle über seine Muskulatur zurück. Gierig griff er nach dem Etwas an seinen Lippen und drückte es fester an sich, um besser saugen zu können. Er wollte mehr, so viel mehr!
Als jemand begann, seine Finger sanft von der Quelle des süßen Saftes zu lösen und ihm diese schließlich entriss, schrie er innerlich auf und zum ersten Mal öffnete er die Augen. Es war das Handgelenk einer jungen Frau, das man ihm raubte. Sie war eine hellblonde Schönheit mit einem blassen Gesicht – und ihm vollkommen unbekannt. Sie blickte ihn so ängstlich an aus ihren rehbraunen Augen, dass er kurz einen Stich von Reue verspürte. Doch dieser wurde augenblicklich hinweggewischt. Er wollte mehr, er wollte alles Blut – endlich erinnerte er sich an dieses Wort – das diese Frau zu bieten hatte, bis zum letzten Tropfen. Rasendschnell griff er erneut nach ihrem Handgelenk und hörte, wie die Atmung der Frau hektisch wurde. Als sie seinem Blick begegnete, schrie sie auf. Es mache sie noch begehrenswerter. Doch jemand riss ihn zurück und löste seinen Griff von der Frau mit unerbittlicher Kraft. Ein großer Mann löste aus der Zimmerecke und begleitete die Frau zügig hinaus.
Noch immer war Nicolas derart schwach, dass er kaum Kontrolle über seinen Körper hatte, doch er schaffte es, sich umzuwenden. Er wollte wissen, wer die Unerhörtheit besaß, ihn von dieser Frau, von dieser Blutquelle, zu entfernen.
Er blickte in Karis sanft lächelndes Gesicht.
So viele Male hatte er diesen Ausdruck gesehen – vor sehr langer Zeit. Ein tiefes Knurren bildete sich in seiner Kehle.
Kari schob ihn zur Seite, setzte sich neben ihn auf das breite Bett, auf dem er sich befand, und zog ihn eng an sich, ihren linken Arm schob sie dabei unter ihn und umfasste seine Hüfte. Er drückte seine Hände gegen ihren Körper, um sie wegzuschieben, trotz der alles beherrschenden Blutgier war ihm absolut klar er, dass er das hier nicht wollte.
Es war hoffnungslos. Ein leises Lachen kroch durch den Raum, amüsiert und hell, fast wie das Kichern eines Mädchens. »Wehr dich nicht. Vertrau mir ... mein geliebter Nicolas.« Noch fester zog sie seinen wehrlosen Körper an ihren und legte seinen Kopf an ihren Hals. Lange strich sie ihm durch die Haare und ließ ihre Fingerspitzen über seinen Nacken und seine Ohrmuscheln wandern. In tiefen, gleichmäßigen Atemzügen spürte er ihren Brustkorb, an seinem Körper gepresst, sich heben und senken, während sein Gesicht an ihrem schlanken Hals ruhte. Sie gab ein sanftes Summen von sich, fast wie das Schnurren einer Katze.
»Du warst so lange nicht bei mir. Hast du mich vermisst?«
Noch immer war seine Kehle zu trocken und sein Körper zu schwach, um Worte zu formen. Nur ein erneutes Knurren brachte er zustande, lauter und bedrohlicher als das erste.
»Beruhige dich. Nicolas. Du bist in besten Händen.« Die Vampirin ließ sich nicht stören. Weiter wanderten ihre Finger, streiften seine Schulter hinab über seinen Arm und verharrten auf seinem Unterarm. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Oberkörper unbekleidet war.
Sanft fuhr sie über den unangenehm stechenden Bereich in Höhe seines Handgelenkes. »Du hast eine Menge Blut verloren.« Sie drückte fester auf die schmerzende Stelle und er gab ein leises Keuchen von sich. »Du wirst neues brauchen. Leider kann ich keinen weiteren meiner Menschen zu dir lassen, du bist eine zu große Gefahr für diese«, säuselte sie.
Blut – noch immer war da dieser unerträgliche Drang. Kaum hatte ihm die blonde Frau Linderung verschaffen können. Oh doch, er wollte mehr von Karis Menschen. Jetzt. Sofort. Obwohl er wusste, was er mit ihnen machen würde. Karis Worte waren pure Folter. Er stöhnte auf.
Langsam wanderten ihre Finger zurück zu seinem Nacken, um dann Zentimeter für Zentimeter seinen Rücken hinabzustreifen, während ihr anderer Arm um seine Hüfte geschmiegt dalag. »Du fühlst dich noch besser an, als du es als Mensch getan hast.« Genüsslich zog die Vampirin die Luft ein. »Mach dir keine Gedanken, ich habe, was du brauchst.« Noch fester zog sie ihn an sich, sodass er kaum noch Luft holen konnte. »Ich habe alles, was du brauchst.«
Dann nahm sie die Hand von seinem Rücken und berührte ihren Hals, direkt neben seinem Mund. Mit einer schnellen, präzisen Bewegung schnitten ihre Fingernägel durch die feine Haut und diese färbte sich augenblicklich rot.
In Nicolas' Wahrnehmung löste Kari sich auf, nur ein roter Nebel aus verheißungsvollem Schauern blieb zurück. Automatisch fanden seine Lippen den Schnitt und saugten den lockenden Saft in tiefen Zügen ein.
Erst als die Vampirin ihn mit voller Kraft von sich stieß, löste sich sein Biss. Keuchend erhob sie sich. Sie wirkte ungewohnt blass und angespannt. Er musste ihr eine beträchtliche Menge Blut abgenommen haben. Doch er hatte noch lange nicht genug.
Als Kari sich anschickte, sich von ihm zu entfernen, sprang er auf und folgte ihr, doch zwei kräftige Vampire drängten ihn unverzüglich zurück. Er hatte seine volle Stärke noch nicht wieder zurückerlangt und musste sich fügen.
»Nicolas!« Die klare Stimme der Vampirin erreichte seine Ohren und endlich wurde ihm wieder bewusst, wen er vor sich hatte. Nun trat er freiwillig einen Schritt zurück. »Ich weiß deine wiederentdeckte Vorliebe für meine Nähe aufrichtig zu schätzen, doch erst muss ich speisen. Danach können wir weitermachen, wo wir aufgehört haben. Du wirst Verständnis dafür haben, dass du in diesem Zimmer bleiben musst, bist du ... wieder hergestellt bist.« Und damit verließ sie den Raum.
Das Blut in Nicolas' Organismus sorgte dafür, dass sich seine Gedanken sortieren konnten. Nach und nach reimte er sich zusammen, was geschehen sein musste.
Nur Melissa konnte Kari informiert haben. Also war sie in Sicherheit. Wellen der Dankbarkeit überfluteten ihn. Glücklicherweise hatte sie seinen Wunsch, Tara nicht zu informieren, respektiert. Wie hätte er ahnen können, dass Melissa sich an Kari wenden würde? Lieber wäre er in der Gewalt der Männer geblieben, als je wieder für Karis Vergnügung herhalten zu müssen. Grimmig biss er die Zähne zusammen.
Ach, wem machte er etwas vor. Er war froh, am Leben zu sein, und auch Kari würde er bald hinter sich lassen. Ihm war klar, dass er keine alternative Blutquelle angeboten bekommen würde, die alte Vampirin wusste die Situation schamlos auszunutzen. Ihr Blut zu trinken, war Mittel zum Zweck und nicht zu vergleichen mit dem köstlichen Genuss frischen menschlichen Blutes, aber verdammt, in seinem Zustand erschien es ihm dennoch vorzüglich. Bevor er sich nicht vollständig erholt hatte, entkam er ihr nicht, und was wirklich zählte, war, sich schnellstmöglich zu erholen und die anderen nicht im Stich zu lassen.
Als sie wieder den Raum betrat, bestand er darauf, dass Tara, Adam und Amia in Sicherheit gebracht wurden. Er kannte seine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie niemals ohne ihn fortgehen würde.
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