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Verdammt, sie hätte damit rechnen müssen, dass es einen Haken gab, aber zu groß war der Wunsch nach einer schnellen Hilfe für Nicolas gewesen. »An was hast du gedacht?«, presste Melissa hervor, obwohl sie sicher war, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.
»Nichts weiter. Eine kleine Gefälligkeit. Ich habe Nicolas versprochen, dich nicht anzurühren. Und glaub mir, wenn bekannt würde, dass ich mich nicht an meine Versprechen halte ... nun, es könnte unangenehm werden, selbst für mich. Vertrauen ist eine so wertvolle Angelegenheit. Aber wenn du mich nun darum bitten würdest, dass ich nur einmal von dir koste, dann wäre es ... etwas anderes ... nicht viel, du siehst auch so bereits blass genug aus. Lediglich eine kleine Kostprobe, um herauszufinden, wie du schmeckst.«
Melissas Körper versteinerte augenblicklich. Der Gedanke, dass diese Frau ihre Zähne in ihre Haut schlug ... sie ertrug die Nähe der Vampirin jetzt schon kaum. Übelkeit breitete sich in Melissa aus und ein undefinierbares Geräusch verließ ihre Kehle.
Selbstzufrieden lächelte Kari sie an und versuchte nicht einmal, ihre Freude zu verstecken. »Du hast Angst? Wie kann das sein? Du weißt doch, wie es funktioniert. Hat es dir bei Nicolas etwa kein Vergnügen bereitet? Meine Menschen empfinden es durchaus als Beglückung, mich zu nähren.«
Melissa rückte ein Stück von der Vampirin fort. Ihr war klar, dass sie diese damit nur noch mehr herausforderte, doch sie konnte nicht anders. Panisch sah sie sich im Raum um, aber niemand außer den anderen beiden Vampiren war anwesend, der ihr hätte helfen können. Und diese beobachteten das Geschehen mit hungrigen Blicken. Unwillkürlich schüttelte Melissa den Kopf.
»Du lehnst ab? Schade drum. Armer Nicolas. Was glaubst du, wie es ihm in diesem Moment ergeht? Werden diese Menschen nett zu ihm sein? Ob er sich wehren kann?«
Melissa schossen die Bilder von Adam in den Kopf, wie er auf dem Herbstfest zusammengebrochen dalag, vollkommen hilflos. Diese Leute wussten, wie sie einen Vampir ausschalteten. Und sie würden das nutzen.
Ihr stiegen Tränen in die Augen bei den Gedanken daran, was Nicolas gerade durchmachte. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen. Doch eine Antwort auf die Frage wollte nicht durch ihre Kehle gelangen.
Karis Geduld war ausgesprochen kurz für jemand, der die Ewigkeit zu ertragen hatte und bereits nach wenigen Sekunden machte sie ein bedauerndes Geräusch. Gelangweilt erhob sie sich. »Dann eben nicht. So wichtig scheint dir die Angelegenheit nicht zu sein.« Sie schritt durch den Raum in Richtung des Aufzuges, doch bevor sie den Knopf drücken konnte, erklang ein raues Krächzen.
»Warte!«
Gleichgültig drehte sich die Vampirin um. »Was noch?«
»Ich ... ich mache es.« So schlimm konnte es nicht werden. Es stimmte, sie wusste bereits, wie sich ein Vampirbiss anfühlte. Sie würde es überstehen.
»Du machst was?« Skeptisch zog die Vampirin ihre Augenbrauen in die Höhe.
»Ich lasse dich von mir trinken.«
Kurz ruhte Karis Blick auf ihr, bevor sie in grelles Gelächter ausbrach. »Schätzchen! Das hast du falsch verstanden. Ich bin nicht darauf angewiesen, dass man mich trinken lässt. Glaub mir, ich könnte dich aussaugen, bis du keinen Tropfen Blut mehr enthältst und du könntest nichts dagegen tun. Das ist nicht, was ich von dir will.«
Verzweifelt starrte Melissa Kari an. Was meinte sie? War das ganze nur ein Scherz gewesen? Ein Spiel?
»Was ist von dir brauche, ist, dass du mich bittest, dich zu beißen. Du musst es wollen.« Lauernd glitt Kari zurück zu Melissa. Kurz vor ihr hielt sie an und ging in die Hocke, bis diese mit ihr auf Augenhöhe war. »Hast du mir noch etwas zu sagen?«
Melissa keuchte. »Ich ... ich ...« Kurz glaubte sie, sie hätte die Fähigkeit, Sätze zu bilden verloren, doch dann riss sie sich zusammen. »Ich will ... ich will, dass du von mir trinkst.«
Die Vampirin legte den Kopf schief und lächelte sie sanft an. »Na also, geht doch!«
Geradezu einfühlsam strichen Karis Finger seitlich ihren Hals hinunter. Nur um sie dann mit unmenschlicher Geschwindigkeit vorzureißen und einen eisernen Griff um ihren Nacken zu legen. Ein greller Schmerz schoss in ihre Kehle und explodierte. Melissa wollte aufschreien, brachte jedoch keinen Laut hervor. Mit all ihr zur Verfügung stehenden Kraft stemmte sie sich gegen die zierliche Person, die mit gleichmäßigen Zügen an ihrem Hals saugte. Vergeblich. Nur langsam schwächte das höllische Brennen ab und machte einem warmen Summen Platz. Der Schmerz war erheblich stärker, als sie es bei Nicolas erlebt hatte. Dafür blieben das restlose Wohlgefühl und das sanfte Vibrieren aus. Ähnlich war nur das Erschlaffen ihrer Muskulatur. Ihr Kopf sackte zur Seite und nur die Vampirin hielt sie weiter aufrecht.
So schnell es begonnen hatte, so schnell hörte es wieder auf. Mit einem Seufzer zog Kari ihre Zähne aus Melissas Haut und leckte sich genüsslich die Lippen. »Hm, angenehm. Aber nichts Besonderes. Du bist absoluter Durchschnitt, meine Liebe.«
Zitternd presste Melissa ihre Hände auf die Bissstelle. Sie hatte Mühe, gerade sitzen zu bleiben, nachdem Kari ihren Griff gelöst hatte.
»Nachdem du deinen Teil beigetragen hast, auch wenn er meine Erwartungen bei Weitem nicht erfüllt hat, sage mir doch bitte, wo wir Nicolas finden. Wir wollen ihn doch nicht länger warten lassen.«
»Er ... er ... was? Ich kenne die Adresse nicht.«
»Nicht? Wie das? Du hast gesagt, du warst dort.« Zum ersten Mal wirkte die Vampirin nervös. »Wie war dann dein Plan, ihn zu finden?«
Panik stieg in Melissa auf. Zu viel war in den letzten Stunden passiert, als das sie darüber hatte nachdenken können, dass möglicherweise selbst Kari nicht in der Lage sein könnte, Nicolas ausfindig zu machen. Und zwar unverzüglich. Aber es musste doch einen Weg geben, jetzt wo sie eine Vampirarmee auf ihrer Seite hatte.
Und dann kroch die einzige Möglichkeit, die es gab, langsam in ihren Geist.
Marlon. Er musste herausfinden, wo Nicolas sich befand. Er hatte es bereits einmal getan. Ein zweites Mal dürfte kein Problem für ihn sein. Der Anblick des blassen, kränklichen Jungen tauchte vor ihrem inneren Auge auf, doch sie kämpfte konsequent jeden Zweifel nieder. Marlon musste es schaffen. Er musste einfach.
Die Vampirin stand neben ihr, als Melissa mit zittrigen Fingern auf Marlons Kontakt in Nicolas' Handy tippte. Sofort hatte Kari zugestimmt, den Zauberer anzurufen. Langsam machte sich in Melissa der Verdacht breit, dass die Vampirin nie vorgehabt hatte, Nicolas seinem Schicksal zu überlassen, selbst wenn Melissa die Kostprobe verweigert hätte.
»Nicolas!«, erklang Josephinas erzürnte Stimme aus dem Gerät. Melissa stockte, hatte sie sich doch auf Marlons Begrüßung vorbereitet.
»Du wagst es, diese Nummer anzurufen? Reicht es nicht, dass ...«
»Hier ist nicht Nicolas. Ich bin es, Melissa«, unterbrach Melissa die alte Dame.
»Melissa? Oh, meine Liebe, schön endlich wieder von dir zu hören. Aber warum steht auf dem Display der Name von diesem Blutsauger?« Die Irritation war Josephinas Stimme deutlich anzumerken. »Hat er dich gezwungen, diesen Anruf zu tätigen? Sollst du jetzt für die Vampire sprechen? Ich sage dir, egal was ihr Anliegen ist, Marlon wird keinen Finger mehr für diese Kreaturen rühren. Da können sie noch so oft auf ihre Mitleidstour angekrochen kommen. Aber gut schauspielern kann diese Tara ja, das muss ich sagen. Fast hätte ich ihr ihre Verzweiflung abgenommen. Nun, Blutsauger eben. Hunderte von Jahren nichts anderes zu tun, als Menschen zu täuschen und zu hintergehen. Bitte Melissa, sag mir, dass du dich nicht von ihnen um den Finger hast wickeln lassen.«
»Ich ... was? Nein, ich ... keiner hat mir gesagt, ich solle hier anrufen. Ich habe nur mein Handy verloren.« Das war technisch nicht einmal gelogen, hatte sich ihr Gerät doch in ihrem Mantel befunden, den sie bei ihrem missglückten Fluchtversuch abgestreift hatte und der ihr seitdem nicht mehr unter die Augen gekommen ist. Einem Impuls folgend fuhr sie fort: »Nicolas weiß nicht, dass ich sein Handy benutze ... Tara hat dich angerufen?« Melissa hätte es wissen müssen. Niemals hätte Nicolas seine Schwester ihn seine Pläne eingeweiht, so bedacht, wie er darauf war, sie nicht in die Ereignisse mit hineinzuziehen. Sie musste außer sich sein, wenn sie sogar versuchte Marlon zu erreichen.
»Mich? Nein, so schlau ist sie, dass sie es nicht versuchen würde. Sie wollte Marlon kontaktieren. Zunächst habe ich die Anrufe weggedrückt, der arme Junge soll sich erholen. Schlimm genug, dass er durch die halbe Stadt gefahren ist, in seinem Zustand! Und das nur für diese Blutsauger. Sie hatten nicht einmal den Anstand, ihn nach Hause zu bringen! Kannst du das glauben? Und kaum hatte Marlon sich hingelegt, klingelte sein Handy Sturm. So unbedingt wollte diese Blutsaugerin mit meinem Enkelsohn reden, sie bräuchte nur einen kleinen Zauber, mehr nicht. Typisch, denken immer nur an sich. Alle gleich, diese Vampire. Sie wollte nicht einsehen, dass Marlon zurzeit nicht zaubern KANN. Ich möchte gar nicht wissen, was mit ihm passieren würde, wenn er es auch nur versucht. Aber das Wohlergehen von Menschen spielt für einen Vampir natürlich keine Rolle. Irgendwann hat diese Tara es zähneknirschend aufgegeben. Gott, ich dachte, jetzt ist endlich Ruhe.« Angestrengt schnaufte Josephina auf.
Tara hatte also denselben Plan gehabt, wie Melissa. Allerdings schien diese nicht weit gekommen zu sein. Wenn Melissa bis zu Marlon vordringen wollte, musste sie erst an Josephina vorbei. Sie war noch nie so dankbar gewesen, kein Vampir zu sein, ihr Anliegen wäre hoffnungslos zum Scheitern verurteilt.
»Bitte sag mir, du hast damit nichts zu tun!«, forderte Josephina sie auf.
»Ich ...« Hilfesuchend sah Melissa Kari an.
»Lüg!«, flüsterte die alte Vampirin.
So sehr Melissa Karis empathielose Art verabscheute, in diesem Fall sah sie keine andere Möglichkeit.
»Ich habe keine Ahnung, was bei den Vampiren los ist. Das sollen sie besser unter sich ausmachen. Allerdings hätte ich tatsächlich gerne mit Marlon gesprochen.« Melissa war von sich selbst überrascht, so überzeugend zu klingen. Sie hielt die Luft an.
»Möchtest du ihn um einen Zauber bitten?« Tiefes Misstrauen schwang in der Frage mit.
»Um Gottes willen, nein! Ich habe ihn heute gesehen, er soll sich ausruhen. Ich habe nur eine Frage an ihn. Mehr nicht. Wäre es möglich, mit ihm zu reden? Kurz?«
»Nur eine Frage? Nicht mehr? Versprochen?«
»Nein, mehr nicht. Glaub mir, ich mache mir genauso Sorgen um Marlon, wie du und Lia.«
»Okay, Melissa, weil du es bist. Aber nur fünf Minuten. Warte kurz, ich bring ihm das Handy.«
Melissa presste sich die Hand auf den Mund, damit ihr erleichtertes Ausatmen nicht durch den Hörer klang. Marlon würde sie nicht im Stich lassen.
»Melissa?«
Melissa erschrak, als sie Marlons schleppende Stimme vernahm. So angestrengt hatte er nicht einmal bei ihrem letzten Treffen gewirkt. Es tat ihr unsagbar leid, um was sie ihn bitten würde. Doch sie sah keine andere Möglichkeit.
Sie räusperte sich. Dann erklärte sie ihm so schnell wie möglich, aber dennoch so ausgiebig wie nötig, die Geschehnisse der letzten Stunden. »Ich muss wissen, wo Nicolas ist, bitte«, endete sie.
Lange schwieg Marlon.
»Gibt es keine andere Möglichkeit, ihn zu finden? Melissa ... ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
»Bitte ... probiere es.« Plötzlich tropfen Tränen aus ihren Augen. Wenn Marlon ihnen nicht helfen konnte ... sie schluchzte auf. »Du bist unsere letzte Chance.«
»Hmmm ... er sitzt wirklich in der Klemme, was? Du bist sicher, er kann sich nicht alleine helfen?«
»Nein.«
Vielleicht ...«
»Vielleicht was?«
»Melissa ich wollte dich schon lange etwas fragen. Ich weiß, es ist ein schlechter Zeitpunkt.«
»Ja?«, fragte Melissa zögernd.
»Ich habe mir viele Gedanken gemacht, wegen dem Zauber, und der Rettung, die seine Auflösung benötigt. Wir sind alle automatisch davon ausgegangen, dass du es bist, die gerettet werden muss ... aber was ist, wenn wir uns täuschen? Vielleicht war es die ganze Zeit Nicolas.«
»Wie kommst du darauf?«
»Melissa ... wo warst du, als der Zauber dich erfasst hast? In eurer Küche?«
Mit einem Mal tauchte alles wieder vor ihr auf. Alle Geschehnisse dieses einen Abends. Der Streit mit ihrem Vater und wie er diese eine Grenze überschritten hatte. Die bleierne Hoffnungslosigkeit, der sie hilflos ausgeliefert war. Und die Verzweiflung darüber, von ihrem Vater im Stich gelassen worden zu sein, sowie die grenzenlose, alles überrollende Einsamkeit.
»Nein, im Bad.«
Sie hörte Marlon angestrengt atmen, bevor dieser weitersprach. »Wozu brauchtest du im Badezimmer ein Messer?«
Melissa schloss die Augen. Sie spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Marlon wusste von dem Messer. Er hatte es gesehen. Natürlich, sie hätte es wissen müssen. Er hatte alles gesehen, was der Zauber bewirkt hatte. Wie sie im Wald aufgetaucht und das Messer ihr entglitten war. Die Klinge war ihm nicht entgangen.
Die Welt schien plötzlich unendlich weit fort zu sein, ein weit entferntes Schattenbild, von Nebel umhüllt. Alles wirkte dumpf und hohl und ein leises Klirren machte sich in ihren Ohren breit.
»Was wolltest du mit dem Messer«, wiederholte Marlon seine Frage leise.
Wie aus weiter Ferne drang das Gebrüll ihres Vaters an ihr Ohr. Das nicht enden wollende Klopfen. Die bleierne Einsamkeit, die sie restlos mit sich riss. Das Messer war nicht für ihren Vater bestimmt.
»Ich ... es ist nicht ... es. ... es war nur der Moment«, stammelte sie flüsternd ins Handy. »Nur in diesem Moment ... es hatte keine Richtung mehr gegeben ... niemand, zu dem ich mich noch wenden konnte. Kein Lichtblick ... Nichts.« Sie hauchte die Worte mehr, als dass sie sie sprach.
Einige Sekunden hörte sie Marlon nur atmen. »Glaubst du ...« Er räusperte sich. »Glaubst du, ohne den Zauber ... wäre es gut ausgegangen?«
Melissas Schweigen war Antwort genug.
Schließlich hüstelte Marlon verlegen. »Dann bist du es tatsächlich nicht, weswegen der Zauber noch Bestand hat und Nicolas braucht wirklich Hilfe ... Ich werde mein Bestes geben, Nicolas zu finden, aber ich kann nichts versprechen.«
»Danke ... danke, dass gerade du ihm helfen willst.«
»Ach Melissa. Nicolas ist kein übler Kerl. Lia hat recht. Meine Magie schüchtert ihn ein. Es ist etwas, über das er keinerlei Kontrolle hat. Aber auch wenn er bedrohlich wirken kann, mir hat er nie etwas getan.«
»Danke«, hauchte Melissa noch einmal.
»Ich tu, was ich kann. Ich melde mich nachher wieder.« Und dann war die Leitung tot.
Erschöpft sank Melissa auf das Sofa. Sie wartete auf einen beißenden Kommentar von Kari, doch dieser blieb aus. Als sie die Vampirin ansah, wirkte diese zum Zerreißen gespannt.
Sie warteten eine gefühlte Ewigkeit, doch als das Handy ein Piepsen von sich gab, waren laut Uhr kaum mehr als zehn Minuten vergangen. Melissa hatte mit einem Anruf gerechnet – es kam nur eine Textnachricht. Keine persönlichen Worte – aber eine Adresse! Das war alles, was sie benötigten. Marlon konnte sich ausruhen.
Sobald die Vampirin Nicolas' Aufenthaltsort erhalten hatte, verströmte sie wieder eine unerträgliche Ruhe und tätigte mehrere Telefonate, bevor sie selbst verschwand.
Und wieder einmal blieb Melissa nichts anderes übrig, als zu warten. Die Anwesenheit ihrer beiden Aufpasser nahm sie schon nicht mehr wahr, zu sehr war sie damit beschäftig, sich Schreckensszenarien vom Ausgang der Rettungsaktion auszumalen.
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