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Triggerwarnung: Wer sensibel auf Gewaltbeschreibungen reagiert, sollte das folgende Kapitel nicht lesen.









Sie lächelte. Als sie den Kopf zu ihm umdrehte und in sein Gesicht blickte, lächelte sie. Die Droge zirkulierte bereits in ihren Adern. Wie hilflos sie wirkte, als sie einen Moment später in seinen Armen hing. Sie in diesem Zustand diesen Menschen zu übergeben, zerriss ihn geradezu, doch es gab keinen anderen Weg für sie in die Freiheit.

Sie war schrecklich blass und ihre Haut fühlte sich klamm und kalt an. Sie war so schutzlos. Sorgfältig wickelte er sie in seinen Mantel ein, mehr konnte er nicht für sie tun, er hatte nichts außer einen verfluchten Mantel, den er ihr mitgeben konnte.

Nachdem er sie aus dem Raum getragen und vor der Tür abgelegt hatte, strich er ihr die tränenverschmierten Haarsträhnen aus dem Gesicht und hauchte ihr einen letzten Kuss auf die Stirn. Dann schritt er zurück in das fensterlose Zimmer und zog die Tür zu. Sofort klickte das Schloss kaum vernehmlich.

Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Wand unter der Kamera und sackte langsam hinab. Jetzt waren es seine Beine, die den Dienst verweigerten. Die vergangenen Minuten hatten ihm seine gesamte Kraft gekostet, doch er hatte durchgehalten – bis zu diesem Augenblick, in dem es für ihn nichts mehr zu erledigen gab, in dem er sich endlich erlauben durfte, zusammenzubrechen. Mit angezogenen Beinen saß er dort, den Kopf auf den Knien, und wartete darauf, dass sein Körper aufhörte zu zittern. Bis diese grässliche Stimme wieder aus dem Lautsprecher erklang. Natürlich, auch diese Kamera hatte einen Lautsprecher.

»Na, das hat doch prima geklappt. Und herrlich herzzerreißend. Ich muss zugeben, ich hatte meine Bedenken, ob du die Sache durchziehst. Aber Glückwunsch, du hast die richtige Entscheidung getroffen«, sagte die Stimme spöttisch. »Es wird dich interessieren, dass mein Kumpel deine Prinzessin in diesem Moment in die süße Freiheit bringt. Er war höchst angetan, einen so schönen Schlitten fahren zu dürfen.« Nicolas hoffte und betete, dass der Mann die Wahrheit sprach. »Um eine Sache muss ich dich jedoch noch bitten. Dort wo du dich im Augenblick aufhälst ... also, wir bevorzugen es, dich im Blick zu haben. Wenn du dich daher bitte in die andere Zimmerecke begeben könntest. Es steht ein ausgesprochen netter Sessel für dich bereit, das möchtest du nicht ernsthaft ignorieren. Und vergiss nicht, bist du kooperativ, sind wir zuvorkommend Melissa gegenüber.«

Angestrengt öffnete Nicolas die Augen, strich sich mit den Händen über das Gesicht und erhob sich auf wacklige Beine. Langsam stolperte er zum Sessel, registrierte am Rande die Flecken und Löcher in seinem Stoffbezug und fiel mehr in diesen, als das er sich setzte.

»Ausgezeichnet, demnach funktioniert es. Du weißt, was als Nächstes kommt, habe ich recht?«, fragte der Mann mit unverhohlener Freude in der Stimme. Ja, Nicolas wusste, was ihn erwartete. Er spürte es bereits. Das Brennen auf seiner Haut kam langsamer als beim ersten Mal, aber trotzdem deutlich. Er machte nicht einmal mehr den Versuch einer Antwort, zu taub waren schon seine Lippen und Zunge. Nach und nach sackte sein Kopf zur Seite und sein Arm folgte der Richtung, schlaff hing er über dieselbe Sessellehne, welche noch vor wenigen Minuten Melissas Kopf gebettet hatte. Mühevoll sah er zur Kamera, neben der sich ein kleines rundes Gitter befand, die Lüftung des Raumes. Es funktionierte also auch über die Luft. Jeder einzelne seiner Muskeln stellte den Dienst ein, selbst seine brennenden Augen fielen zu.

Ein Klicken kündigte das Öffnen der Tür an. Schlurfende Schritte näherten sich Nicolas und blieben kurz vor dem Sessel stehen. Jemand griff nach seinem Arm, zog daran und ließ los. Dumpf landete dieser auf seinen ausgestreckten Beinen. Eine Hand fasste in seine Haare und stieß seinen Kopf unsanft hin und her. Es gab nichts, das Nicolas dagegen hätte tun können.

»Der ist außer Gefecht.« Diesmal erklang die Stimme des Mannes direkt vor ihm, ohne einen Lautsprecher, der sie trennte. Innerlich bebte Nicolas und alles in ihm schrie danach, den Mann anzufallen, ihm die Kehle herauszureißen und ihn zu vernichten. Doch seine Muskulatur wollte davon nichts wissen.

»Erstaunlich, wie gut das Mittel wirkt. Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint. Hätte Simon nicht zufällig eine Behandlung mit dem Zeug gemacht, er wäre von diesem Monster erledigt worden. Und wir würden nicht die Schwachstelle dieser Biester kennen.« Der Mann lachte leise auf. »Damit hatte dieser Blutsauger nicht gerechnet, dass die moderne Pharmazie in der Lage ist, ihn lahmzulegen. Er hält sich für unbesiegbar und überlegen, fällt aber bei der kleinsten Dosis von diesem Mittelchen um.« Der Mann musste mit jemanden über das Mikrofon der Kamera sprechen. »Jetzt komm und bring die Ketten, und dann verschnüren wir hin zu einem hübschen Päckchen, nur zur Sicherheit.«

Es dauerte einige Minuten, bis weitere Schritte erklangen, leichtere Schritte. Zögernd verharrten sie in der Tür.

»Nun gib schon her. Wir wollen doch kein Risiko eingehen. Was glaubst du, würde er mit uns anstellen, sollte die Betäubung nachlassen und wir uns im selben Raum mit ihm befinden?«

»Vielleicht sollten wir warten, bis Simon zurück ist.« Eine Frauenstimme. Nicolas erkannte sie sofort wieder. Sie war es, die den Männern im Wald nahegelegt hatte, dass man einen Vampir am besten durch Verbrennen beseitigen konnte. Letzten Endes war es seine eigene Nachlässigkeit, die ihn in diese Situation gebracht hatte. Er hätte diese drei Gestalten umgehend aufspüren müssen, als er wieder gerade stehen konnte und sie auslöschen. Still und leise. Wie hatte er so fahrlässig sein können? Er hatte sich vom Wesentlichen ablenken lassen? Dieser Fehler würde ihm kein zweites Mal passieren – auch weil er vermutlich nie wieder eine Gelegenheit zum Fehlermachen haben würde.

»Das kann eine Weile dauern. Ich will es jetzt erledigt haben. Mir ist wohler, wenn diese Kreatur gefangen, gefesselt und bewusstlos ist. Ich hänge zu sehr an meinem Leben.«

»Bist du sicher, dass er wirklich ...« Die Frau zögerte und blieb an Ort und Stelle stehen.

»Ich lebe noch. Also ja, ich bin sicher. Der macht momentan keinen Mucks.«

Jetzt bewegte sich auch die Frau in seine Richtung. Nicolas hörte etwas scheppern und spürte, wie seine Arme vorgezogen wurden und kaltes Metall sich um seine Handgelenke legte. Wieder und wieder wurden diese umwickelt, dann zog jemand an seinen Schultern, bis sein Oberkörper vorsackte.

»Hilf mir mal, du musst ihn halten, damit ich das richtig befestigen kann.« Die Hände wechselten, Nicolas kippte fast vorne über, wurde dann zurückgeschubst. »Pass doch auf, sonst wird das nichts.«

»Der ist verflucht schwer«, jammerte die Frau. Nicolas spürte, wie etwas mehrmals um seinen Oberkörper geschlungen wurde und seine Arme und Hände zusätzlich fixierte. Die beiden machten keine halben Sachen.

»Das war kein Problem für dich, als er am Lagerfeuer auf dir lag und dir an die Wäsche wollte.«

Es handelte sich definitiv um die Frau aus dem Wald. Blondie war ihm schon damals nicht ganz sauber vorgekommen. Aber alles war so verlockend einfach mit ihr gewesen. Am liebsten hätte sich Nicolas selbst für seine Dummheit geohrfeigt. Er hätte sie nie an sich ranlassen dürfen und sich einen anderen Blutspender an einem anderen Ort suchen sollen, am besten mit weniger Rundungen. Er wäre jetzt nicht in dieser aussichtslosen Lage. Doch er hätte auch niemals Melissa getroffen.

»Ich hatte mich nur an deinen Plan gehalten!«, entrüstete sich die Frau, während Nicolas Füße ebenfalls mit schweren Ketten umwickelt wurden.

»Das hatte aber eher ausgesehen, als hättest du durchaus deinen Spaß gehabt. Du hattest ihn ja regelrecht unter deinen Rock eingeladen.« Unsanft wurde Nicolas in den Sessel zurückgeschubst.

»Wenn du eifersüchtig bist, hör auf, mich ständig den Lockvogel spielen zu lassen.«

»Ich bin eifersüchtig?« Der Unmut aus der Männerstimme verschwand und wurde von einem belustigten Lachen abgelöst. »Wer musste mich denn unbedingt unterbrechen, als ich mir die Kleine aus der Nähe ansehen wollte? Was ist in deinem hübschen Köpfchen vorgegangen? Dachtest du, ich wollte sie unsittlich berühren? Ihre Wehrlosigkeit ausnutzen?« Nicolas zuckte innerlich zusammen. Was hatte der Mann mit Melissa angestellt? Instinktiv versuchte er, mit den Zähnen zu fletschen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht.

»Ach quatsch. Du hattest ihr einfach alles gesagt, was zu sagen war. Es war unnötig, sie weiter zu verängstigen.«

»Natürlich. Das war alles. Deswegen hast du auch vehement drauf bestanden, dass Simon sie fortschafft, anstatt ich.«, erwiderte der Mann zynisch.

»Der kann wenigstens seine Finger bei sich behalten.«

»Bei der Kleinen vielleicht. Glaubst du, das wäre ebenfalls so, wenn wir ihn mit dem hier alleine ließen?« Ein belustigtes Lachen folgte der Frage. Auf eine eigentümliche Weise war Nicolas froh um diese Information. Dieser Simon würde Melissa nicht anfassen, in ihrem hilflosen Zustand, für den Nicolas verantwortlich war. Immerhin das. Insgeheim dankte er der Eifersucht der Frau und ihrer Weitsicht.

»Ach verdammt Tom! Simon ist nicht der Typ, der jede Situation schamlos ausnutzt. Und nachdem, wie das Monster ihm den Hals aufgerissen hat, würde er kaum freiwillig mit ihm alleine in einem Raum bleiben, völlig egal wie ausgeknockt dieses Untier ist.«

Hände zerrten an Nicolas Ketten und prüften ihren Sitz.

»Ziemliche Verschwendung. Monster hin oder her, ein Hübscher ist er ja.« Eine Hand schob sich unter Nicolas' Kinn und hob seinen Kopf. »Nur leider nichts für mich.« Unsanft wurde sein Kopf wieder fallen gelassen.

»Na schön, lass uns anfangen mit dem Experiment. Wir können ihn kaum bis in alle Ewigkeiten mit dem Medikament benebeln.«

»Das wird eine riesige Sauerei geben. Ich wäre ja für die saubere Lösung durch Feuerbestattung«, murmelte die Frau.

»Da bin ich ganz deiner Meinung. Aber nützt ja nichts. Wir haben es ihr versprochen. Wir behandeln das Mädchen anständig und keine Toten. Also eben so.«

Ohne Vorwarnung riss jemand mit Wucht an den Ketten, welche sich um Nicolas' Oberkörper windeten, sodass er nach vorne flog und mit der linken Schulter und Schläfe auf den Betonboden krachte. Etwas in seinem Gesicht knackte. Grelle Blitze zuckten vor seinen Augen auf und mit einem Stöhnen wich ihm die Luft aus den Lungen.

»Verzeihung«, erklang die Männerstimme boshaft, »ich wollte es dir nicht so ungemütlich machen. Aber ich dachte, der Boden wäre angemessener für einen wie dich.« Wie aus weiter Ferne hörte Nicolas jemanden den schweren Sessel über den Beton bis durch die offene Tür ziehen. Erneut packten ihn kräftige Hände und drehte seinen Körper auf die Seite. Er keuchte, als ein Fuß ihn empfindlich in die Rippen trat.

»Der ist ja doch nicht komplett weggetreten. Macht ja noch Geräusche.« Nicolas hörte das schmierige Grinsen seines Gegenübers, ohne es zu sehen. Wie gerne hätte er jeden Schmerzenslaut vermieden, um sich diese Blöße zu ersparen, aber sein Körper fragte ihn nicht um Erlaubnis. Sein Atem rasselte unregelmäßig.

»Eigentlich schade, dass du unsere Fragen nicht weiter beantworten kannst. Was passiert mit einem Blutsauger, wenn man ihm sein Wichtigstes nimmt? Oder konkreter: Was geschieht mit dir, wenn du keinen Tropfen Blut mehr im Leib hast? Stirbst du dann? Unsere Recherchen lassen etwas anderes vermuten. Leider begründen sie sich nur auf diverse Mythen und Geschichten, also bleibt uns nichts weiter übrig, als es auszuprobieren.«

Der Mann griff nach Nicolas' gefesselten Händen. An jedem seiner Handgelenke war eine schmale Stelle frei von den Ketten geblieben. Nicolas ahnte, dass dies kein Zufall war.

Ein kalter, dünner Gegenstand presste oberhalb seiner rechten Hand in seine Haut. Mit einem gleißenden Schmerz zog es über diese hinweg und tief in seine Fleisch hinein. Nicolas wollte aufschreien, doch nur ein eigenartig blubberndes Krächzen verließ seinen Mund. Dann spürte er den gleichen Druck auf seinem linken Handgelenk. Noch ehe er Luft holen konnte, riss ihn die zweite Schmerzwelle mit und diesmal hörte er sich selbst stöhnen. Warme Feuchtigkeit rann seine Unterarme entlang und bildeten einen nach Blut riechenden See um seine Hände, der stetig wuchs.

»Warten wir ab, wie dir das bekommt. Mach es dir bequem, ich bin bald zurück.«

Und wieder fiel die Tür geräuschvoll ins Schloss.

Wenn Nicolas geglaubt hatte, seine Situation kam bereits der Hölle gleich, so wurde er nun eines Besseren belehrt. Die leise Qual seiner leerlaufenden Adern nahm stetig zu und wurde zu einem unbezwingbaren Feuersturm, der von seinem Körper Besitz ergriff und zu einem gleißenden Inferno anschwoll. Seine Kehle verdorrte vor Trockenheit und gierte nach heilsamen Blut, das nicht zu erreichen war. Selbst die Gedanken an Melissa verstummten in einer Welt aus Schmerz.

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