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Melissas Herz klopfte schneller, als Amia sie entschlossen die Treppe hinunterzog. War es eine gute Idee, sich auf ein Treffen mit den Anderen einzulassen? Und dann noch ein angeblicher Zauberer? Doch Amias warme Hand und kindliche Unbekümmertheit beruhigten sie auf eine Weise, die sie nicht zu erklären vermochte.

Mit einer Mischung aus Neugier und Unsicherheit durchquerte Melissa den mäßig beleuchteten Flur, ihre Schritte begleitet von dem quietschenden Klang ausgetretener Holzdielen. Schließlich zog Amia sie durch eine Tür in einen lichtdurchfluteten Wohnraum. Eine bodentiefe Fensterfront gab den Blick auf ein sonnengetränktes Waldstück frei. Die Möbel des Raums waren zwar unverkennbar schon lange in Benutzung und nicht alles andere als modern, dennoch war alles ordentlich und strahlte eine urige Gemütlichkeit aus.

Auf der linken Seite des Raumes ging die Wohnstube in eine offene Küche über, die von einem großen Holztisch dominiert wurde, an dem sich drei Leute unterhielten. Die gedämpften Stimmen verstummten bei Melissas Eintreten und sie spürte, wie alle Augen auf sie gerichtet wurden.

Tara saß bereits am Tisch und winkte Melissa zu, sich zu setzen. Zögerlich blieb sie zunächst im Türrahmen stehen und ließ ihren Blick über die drei besetzten Stühle schweifen.

Neben Tara saß ein zu hoch gewachsener, schlaksiger Junge, dessen große Nase von einer Brille mit riesigen Gläsern in Besitz genommen wurde. Strubbelige rotblonde Locken standen ihm in alle Richtungen vom Kopf und seine unregelmäßig gerötete Haut verriet Nervosität. Kurz sah er zu Melissa hoch, dann senkte er schnell wieder den Blick und begann, seine Fingernägel zu untersuchen.

Ihm gegenüber saß ein Mann, der Melissas Aufmerksamkeit auf sich zog. Kurze hellbraune Haare betonten seine scharf geschnittenen Wangenknochen und die zusammengekniffenen Augen musterten sie mit einer Intensität, als würde sein Blick sie physisch berühren. Sie knabberte nervös an ihrer Unterlippe und fragte sich, ob dieser Mann der angebliche Zauberer war.

Amia zupfte an Melissas Ärmel und zog sie weiter. Dann klettete sie auf einen freien Stuhl und ließ die Beine baumeln. Zögerlich ließ Melissa sich neben sie nieder.

»Das ist Marlon,« plapperte Amia mit ihrer hellen Stimme und deutete auf den Jungen mit der großen Brille. »Er hat gemacht, dass du in den Wald gekommen bist, um Nicolas zu retten. Er ist ein richtiger Zauberer und kann ganz tolle Sachen.«

Marlons gerötete Haut schien noch dunkler und fleckiger zu werden. Hastig murmelte er ein Hallo in Melissas Richtung. Das also war der Zauberer. Erstaunt betrachtete Melissa ihn genauer. Sie holte tief Luft. Fast hatte sie schon an ihrem Verstand gezweifelt und der Idee, dass es Magie gab, eine Tür in ihrem Geist geöffnet. Aber das dieser verunsicherte, zu groß geratene Junge sie durch Zauberei an andere Orte versetzen konnte, war schlicht lächerlich.

»Wie alt bist du eigentlich?«, brach es aus Melissa heraus. Sofort bereute sie ihre Impulsivität und sie presste hastig einige Finger auf ihren Mund. »Äh... ich meine...,« stotterte sie jetzt, »du siehst ganz schön jung aus für einen echten Zauberer.«

Der taxierende Blick des anderen Mannes wurde bei diesen Worten von einem herzhaften Auflachen unterbrochen. Hitze stieg Melissas Wangen hinauf.

»Ich bin 20.« sagte Marlon gekränkt. »Und was das Zaubern angeht... ich übe noch.«

Melissa hob verdutzt die Augenbrauen. Das waren einige Jahre mehr, als sie vermutet hatte. Sie musterte ihn genauer. Er wirkte erschöpft, fast kränklich und auf eigentümliche Art kindlich, trotz seiner Körperlänge. Seine Erscheinung stand im krassen Gegensatz zu dem kraftvollen, anmutigen Äußerem seines Gegenübers.

»Und mein Name ist Adam.« Der andere Mann hielt Melissa mit einem einladenden Lächeln die Hand entgegen, die diese zögernd ergriff. Sie war warm und kraftvoll. »Unterschätze Marlon nicht«, sagte er mit wohlklingender Stimme. »Er ist zu mehr fähig, als er zugibt. Was er gestern geleistet hat, war unglaublich.« Er machte eine kurze Pause und wurde dann ernst. »Wir sind sehr betroffen von dem, was du durchmachen musstest und dass du verletzt wurdest. Wir werden dich selbstverständlich nach Hause bringen, sobald du dich dazu in der Lage fühlst. Du sollst nicht glauben, wir hätten dich gekidnappt oder so.«

Melissas Blick haftete perplex an seinem Gesicht. Das Angebot, jederzeit nach Hause zurückkehren zu können, gab ihr das Gefühl von Kontrolle über ihre Situation zurück - etwas, das sie dringend brauchte.

Doch dann fiel ihr ein, was sie zu Hause erwartete und ihr Herz pochte wild in ihrer Brust. Das Klopfen ihres Vaters an die Badezimmertür, wieder und wieder, und ihre Verzweiflung, die erdrückende Ausweglosigkeit. Ihr Hals schnürte sich zu.

Melissa schluckte trocken. Sie zwang sich, diese Gedanken beiseitezuschieben und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren - ein Hier und jetzt, das anscheinend von übernatürlichen Kräften durchdrungen war.

»Ihr glaubt also alle, ich bin wirklich durch ... Magie... in den Wald gelangt?« Es kostete sie Überwindung, die Frage auszusprechen.

Adam nickte knapp, Tara jedoch neigte den Kopf und betrachtete sie intensiv, als ob sie etwas in Melissas Augen lesen wollte. »Es ist schwer zu akzeptieren, nicht wahr? Vielleicht ist es das beste, wenn wir es dir greifbarer machen. Marlon kann dir zeigen, zu was er fähig ist.«

Marlons Körper spannte sich an und er blickte erschrocken auf Tara. Doch dann fing er sich, nickte kaum merklich und wandte seinen Blick Melissa zu. »Wie gesagt, ich übe noch,« stellte er mit belegter Stimme fest. »Aber ich kann dir eine Kleinigkeit vorführen.«

Er hob die Hände über die Tischplatte und schloss die Augen. Seine Finger zitterten leicht, während sein Atem sich immer weiter vertiefte und er die Luft kraftvoll strömen ließ. Melissa spürte unsichtbare Wellen durch das Zimmer wabern. Gebannt starrte sie auf Marlon. Seine gewölbten Finger schienen von einem kaum wahrnehmbaren Leuchten umgeben zu sein und ein leises Knistern erklang. Plötzlich atmete er zischend ein, riss die Hände zu beiden Seiten weg und wedelte mit ihnen wild in der Luft herum. Auf dem zuvor leeren Tisch lagen drei lange Fichtenzapfen und an einem von ihnen zündelte sich eine kleine Flamme empor. Schnell sprang Amia hinzu und pustete diesen wie eine Kerze aus.

»Verdammt!« Mit hängenden Schultern sah Marlon auf die Zapfen und seufzte enttäuscht auf. Melissa indes riss Mund und Augen weit auf und ihr Blick wanderte zwischen den Zapfen und Marlon hin und her.

»Du kannst brennende Gegenstände erschaffen?«

Adam prustete laut los. »Das mit dem Brennen ist Marlons Spezialität. Kommt öfters vor.« Belustigt grinste er ihn an. »Normalerweise jedoch völlig unbeabsichtigt.«

Tara gab Adam einen Stoß in die Rippen und blickte tadelnd in seine Richtung.

»Genaugenommen kann ich keine Sachen ›erschaffen‹«, erklärte Marlon mit etwas zu hoher Stimme und rieb sich eine verbrannte Fingerkuppe. »Ich bringe sie nur an andere Orte. Vermutlich kommen diese aus dem Garten draußen. Genau weiß ich es nicht.« Entschuldigend hob er die Schultern.

Melissa rang nach Luft. »Wie hast du das gemacht? Ich meine, ich hab es gesehen, aber...«
»Dich beeindruckt das?« Marlons Gesicht leuchtete kurz auf. Dann kehrte sein Blick entmutigt zu seinen Händen zurück »Tut mir leid, ich würde dir gerne mehr zeigen. Aber du siehst, ich habe noch nicht mal das hier unter Kontrolle.«

»Dann hast wirklich du mich in den Wald gebracht?« Noch immer fiel es Melissa schwer, dies zu akzeptieren. »Wie hast du das geschafft? Das muss eine viel größere Herausforderung gewesen sein als ein paar Sachen aus dem Garten herbeizuzaubern.« Sie stockte kurz und runzelte die Stirn. »Und das ohne mich anzuzünden.«

Marlons Pupillen weiteten sich. »Es tut mir so leid, ich wollte dich ganz bestimmt nicht verletzen.« Entsetzt blickte er Melissa an, als wäre ihm erst jetzt klar geworden, dass er ihr ernsthaften Schaden hätte zufügen können. Leise fügte er hinzu: »Ich hätte das nicht tun dürfen.«

»Oh doch, hättest du.« wandte Tara mit einer Bestimmtheit ein, die keinen Widerspruch duldete. »Und du hast das fantastisch gemacht. Es gab keine andere Wahl. Außerdem es ist alles gut ausgegangen. Einigermaßen.«

Marlons Gesicht wurde noch röter und er lächelte verlegen. »Aber es war gefährlich. Es hätten sonst was für Nebenwirkungen auftreten können. Wir hatten alle verdammt viel Glück.«

Melissa lauschte aufmerksam, als Adam und Tara ihr die Ereignisse des Abends aus ihrer Perspektive schilderten. Sie hörte von Amias Vorahnungen, die sich meist bewahrheiteten, sowie von dem panischen Verhalten des Mädchens und der darauf folgender Alarmierung Marlons und wie dieser verzweifelt versuchte, Nicolas zu retten. Die Details waren verwirrend und komplex, und Melissa kämpfte damit, alles zu verstehen. Marlon hatte einen mächtigen Zauber gewirkt, der Melissa zu Nicolas Rettung erwählt hatte. Warum, das verstand nicht einmal der Zauberer.

Während sie ihre Gedanken ordnete, erinnerte sich Melissa an die kalte Nacht im Wald, an das flackernde Lagerfeuer und an den verzweifelten Mann, der um sein Leben kämpfte. Es war schwer für sie zu glauben, dass Magie sie dorthin gebracht hatte. Warum ausgerechnet sie? Es hätte tausend andere Möglichkeiten gegeben, Nicolas zu retten. Bessere Möglichkeiten. Es kam ihr alles so zufällig vor. Wenn es so etwas wie Magie gab, sollte sie dann nicht wenigstens logischer sein? Und etwas an der Sache bereitete ihr Unbehagen. Einige Puzzleteile schienen noch zu fehlen. Sie seufzte und strich sich eine Strähne roter Haare aus dem Gesicht. Warum hatte Tara behauptet, es ginge ihrem Bruder gut? Er musste entsetzliche Verletzungen haben.
Tara schien ihre Stimmung zu bemerken. »Am besten, du isst jetzt etwas.« Versuchte sie Melissa mit einem strahlenden Lächeln abzulenken. »Danach wirst du dich besser fühlen. Du bist zum Frühstück eingeladen.«


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