57

Die Bäume flogen regelrecht an ihm vorbei, als er die kurvige Straße entlangraste. Er durfte nicht zu spät kommen. Nicht Melissas Wohlergehen riskieren.

Wie hatte er die Sache damals dermaßen auf die leichte Schulter nehmen können? Die Männer waren alles andere als harmlos gewesen. Sie waren bereit gewesen, ihn in den Wald zu locken, bewusstlos zu schlagen und auszurauben. Ihr Pech, dass sie einen Vampir erwischt hatten. Wozu waren solche Menschen sonst noch fähig?

Nach ihrer Flucht hatte Nicolas nicht erwartet, dass sie jemals freiwillig in seine Nähe zurückkehren würden, und dass sie froh seien mit dem Leben davongekommen zu sein. Rache hatte er nicht ernsthaft einkalkuliert. Dass sie ihn ausfindig machen würden, erst recht nicht.
Deshalb speiste man nicht dort, wo man wohnte. Eine simple Regel, er hatte sich nicht daran gehalten.

Nicolas hätte seine Angreifer suchen und unschädlich machen müssen nach dem Vorfall. Doch er hatte die Gefahr vor allem in Melissa gesehen. Bitter lachte er auf.

Er schloss die Augen und versuchte zu schlucken, doch sein Hals war zu trocken. Regentropfen begannen gegen die Windschutzscheibe zu prasseln, als wollte das Wetter die unheilvollen Vorgänge mit der nötigen Dramatik unterstreichen. Nicolas nahm dies kaum wahr, zu stark war er abgelenkt von Melissas Bild in seinen Gedanken. Zusammengerollt lag sie in diesem fremden Sessel, die langen Haare hingen ihr strähnig und wirr ins Gesicht. Ihre zarten Lippen waren aufgesprungen und blutverkrustet, die linke Wange blau unterlaufen. Verloren ließ sie den Kopf hängen, ihre mit Stricken gefesselten Hände reglos in ihren Schoß gebettet. Er musste ihre Augen nicht sehen, um zu wissen, welche Hoffnungslosigkeit sich in ihnen breitmachte. Er wusste es trotz der Augenbinde.

Es war nur dieses eine Bild von Melissa gewesen, dass man ihm geschickt hatte, aber es reichte aus, um sein Leben innerhalb einer Millisekunde auf den Kopf zu stellen. So sehr hatte er einen weiteren Angriff auf einen der Vampire befürchtet, dass er Melissas Treiben nicht weiter beachtet hatte. Warum zum Teufel hatte sie die Hütte verlassen? Es spielte keine Rolle mehr. Er würde sie zurückholen. Egal um welchen Preis.

Die Nachricht war unmissverständlich gewesen. »Zu keinem ein Wort. Komme alleine. Wir lassen Melissa frei, wenn wir dich haben. Uns liegt nichts an dem Mädchen, wir haben kein Interesse daran, ihr etwas anzutun. Aber wir sind dazu bereit, wenn es nötig wird. Sei in zwanzig Minuten beim Stadtpark. Pünktlich!«

Nicolas' Gedanken drehten sich unaufhaltsam seit dem Erhalt der Nachricht. Es konnte sich nur um das Trio aus dem Wald handeln. Woher kannten sie Melissas Namen und wussten, was sie ihm bedeutete? Woher hatten sie seine Handynummer? Und was zum Teufel sollte er jetzt tun? Er wusste nicht, ob er den Entführern glauben konnte, was Melissas Freiheitsversprechen anbelangte. Aber egal, wie er es drehte und wendete, er hatte keine andere Wahl. Er erinnerte sich an die Schläge beim Lagerfeuer, als er bewegungslos war. Unmöglich, dass ein Mensch diese lange überlebt hätte. Diese Leute kannten Gewalt und sie machten Gebrauch von ihr. Jede Maßnahme, welche er ergreifen konnte, barg die Gefahr entdeckt zu werden. Er durfte Melissa nicht weiter gefährden.

Zunächst musste er für ihre Freiheit sorgen. Erst wenn sie sich außerhalb der Gefahrenzone befand, durfte er sich zur Wehr zu setzen. Falls es ihm dann noch möglich war.

Er parkte den Wagen auf dem verlassenen Parkplatz vor dem Parkeingang. Der strömende Regen hielt die meisten Besucher fern, nur ein einziger Radfahrer kreuzte sein Sichtfeld. Mit Mühe beherrschte er sich, diesen unbehelligt vorbeiziehen zu lassen, zu lange war es her, dass Nicolas sich ausgiebig satt getrunken hatte. Die Aufruhr in seinem Inneren verschärfte seinen Hunger beträchtlich. Eine ausgiebige Portion Blut würde ihm helfen, die Nerven zu bewahren und klar zu denken. Der Radfahrer bog in den schmalen Weg Richtung Park ein und verschwand hinter einer Reihe hoher Büsche aus seinem Sichtfeld. Gleichzeitig klingelte sein Handy. Er erkannte die nicht eingespeicherte Nummer sofort. Es war die gleiche, die ihm Melissas Bild zukommen lassen hatte.

»Wer ist dort?« Seine Stimme klang heiser, aber fest.

»Netter Versuch. Keine Fragen stellen. Nur zuhören und antworten. Verstanden?«

Nicolas hatte sich nicht getäuscht. Er hätte diese Stimme unter Hunderten wiedererkannt. Es war nicht der Mann, den er im Wald gebissen hatte, dessen Blut etwas enthalten hatte, das Vampire zu wehrlosen Opfern machte. Nein, es war der andere, der, der den Ton angegeben hatte. Der noch nach ihm getreten hatte, als er schon Richtung Feuer rutschte. »Verstanden.«

»Schalte deine Kamera ein, damit ich sehen kann, wo du bist und wer bei dir ist.«

Nicolas knurrte leise, tat aber, wie ihm geheißen wurde.

»Gut, jetzt zeig mir, wer im Wagen sitzt. Und dann die Umgebung.«

Er schwenke die Kamera langsam herum, erst durch den Fahrzeuginnenraum, dann über den Parkplatz.

»Ausgezeichnet. Du scheinst tatsächlich alleine zu sein. Hübscher Schlitten übrigens. Könnte man glatt neidisch werden. Wenn ich nicht wüsste, dass du nicht mehr viel davon haben wirst.«

Nicolas verzog missbilligend einen Mundwinkel. »Was nun? Wo ist Melissa und wie geht es ihr? Ich möchte mit ihr sprechen.«

»Keine Fragen hab ich gesagt. Benimm dich und tu, was ich dir sage. Dann darfst du dich von ihr verabschieden, bevor wir sie wohlbehalten freilassen. Wenn nicht ...«

Der Mann sprach den Satz nicht zu Ende, aber Nicolas konnte das Grinsen in seiner Stimme hören.

»Jetzt sei ein braver Junge und setz den Wagen in Bewegung. Du kennst die Straße hinter der alten Eisenbahnbrücke am Stadteingang? Fahre dorthin und lasse das Handy eingeschaltet.«

Nicolas kannte die Ecke, die der Mann meinte. Natürlich, er kannte die gesamte Stadt, war sie doch kaum größer als eine durchschnittliche Kleinstadt. Irgendwo in dieser befand Melissa sich. Hätte man versucht, sie weiter fortzubringen, der Zauber hätte es verhindert. Ob der Mann auch über dieses Detail Bescheid wusste? Oder war es Zufall, dass man sie nicht zu weit von ihm fortgebracht hatte? Er wollte sich nicht vorstellen, was anderenfalls geschehen wäre. Er biss die Zähne zusammen, legte das Handy auf den Beifahrersitz und fuhr los.

Wenige Minuten später erreichte er die beschriebene Straße. »Ich bin bei der Brücke.«

»Fahre unter diese hindurch und dann links in die Wohnsiedlung. Am Ende noch einmal rechts.« Als Nicolas sich in einer Straße gesäumt mit modernen Häusern und gepflegten Gärten befand, hinter denen sich ein Wald erstreckte, erklang wieder die Stimme des Mannes. »Siehst du das Haus mit dem blauen Zaun und der breiten Einfahrt auf der rechten Seite? Fahre in diese Einfahrt bis kurz vor der Garage. Bleibe im Wagen, bis ich etwas anderes sage.«

Nicolas bog auf das fremde Grundstück ein. Die Fenster des Hauses waren verdeckt von herabgelassenen Jalousien. Da es noch helllichter Tag war, wirkte es, als wären die Bewohner im Urlaub. Ob Melissa hier war? Zumindest hoffte er es. Möglicherweise führte der Mann ihn völlig in die Irre. Doch es machte tatsächlich keinen Sinn, dass er Interesse an Melissa hatte. Sie wollten ihn. Natürlich. Melissa war nur Beifang. Ein Köder.

Ohne Zögern hatte der Mann ihn an diesen Ort gelotst. Ein Ort, mit dem sie in irgendeiner Art in Verbindung standen. Offensichtlich hatten sie keine Bedenken, dass ihnen dieses zum Verhängnis werden könnte. Sie hatten nicht vor, ihn wieder gehen zu lassen.

Angespannt wartete Nicolas, als sein Blick über die Dachkante des Hauses glitt. Ein kleines rotes Licht blinke dort an einer unscheinbaren Überwachungskamera. Er hatte keine Zweifel, dass der Mann am Telefon seine Ankunft längst auf einem Bildschirm beobachtet hatte.

»Jetzt nimm das Handy, lass die Schlüssel im Wagen und steig aus.«

Nicolas nahm das Gerät in die Hand und blieb sitzen. »Nein. Erst möchte ich Melissa sehen. Ist sie im Haus?« Stille war in der Leitung zu vernehmen. Dann plötzlich Gemurmel. Nicht nur von einem Menschen. Da waren ... mindestens drei. Waren das die anderen beiden Gestalten aus dem Wald? Nicolas konnte es nicht sagen.

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Spielt es eine Rolle? Ich habe gesagt, sie wird freigelassen, sobald wir stattdessen dich haben. Alles andere hat dich nicht zu interessieren.« Aber alles andere interessierte ihn. Ob sie sich im Gebäude befand? Er konnte es nicht sagen. Er vernahm keinen Laut, doch das hatte nichts zu bedeuten. Wenn sie sich leise verhielt, hatte er keine Chance, sie durch die geschlossenen Türen zu hören. Er wünschte sich jetzt wirklich, über Supermans Röntgenblick zu verfügen, doch was das Innere des Hauses anbelangte, war er komplett blind. Seit er zum Vampir geworden war, verließ er sich gewöhnlich auf seine überdurchschnittlichen Fähigkeiten. Aber hierfür reichten diese nicht aus. Unmöglich konnte er in Sekunden Türen aufbrechen, falls diese massiv genug waren, und das gesamte Haus durchsuchen. Jedoch genau das wäre nötig gewesen, um Melissa vor den Übergriffen der Entführer zu schützen, wenn diese bemerkten, dass er nicht nach ihren Regeln spielte. Falls sie sich überhaupt im Haus befand.

»Nun? Was ist? Bist du festgefroren?«

Nicolas' Gedanken rasten. Was konnte er tun? Kurz überlegte er, Tara doch zu informieren, ihr die Adresse zu nennen und sie zu beauftragen, ihm zur Hilfe zu kommen, sobald Melissa frei wäre. Aber wäre sie dazu in der Lage? Was, wenn Tara geschnappt werden würde? Damit würde er das Leben seiner Schwester riskieren. Er durfte das nicht tun.

»Warum sollte ich dir glauben, dass du Melissa freilässt?« Er kannte die Antwort bereits. Doch er brauchte Zeit zum Nachdenken. Es musste einen Weg geben, unbeschadet aus dieser Sache herauszukommen.

»Gute Frage. Gute Frage!« Die Stimme lachte laut auf. »Die Wahrheit ist, es ist die einzige Chance, die deine kleine Freundin hat, hier wohlbehalten hinauszukommen. Du musst mir nicht vertrauen. Deine Entscheidung. Ansonsten bleibt deine Süße eben bei mir. Ich bin sicher, wir werden unseren Spaß haben.« Nicolas zog scharf die Luft ein. Er konnte sich das schmierige Grinsen des Mannes bildlich vorstellen. Einzig die Angst um Melissa hielt ihn davon zurück, blindlings ins Haus zu stürmen und es zu durchsuchen.

»Oh, ich verstehe«, sprach der Mann weiter, »diese Vorstellung gefällt dir nicht. Ich mache dir die Sache noch einfacher. Dein Mädchen hat uns eine interessante Sache erzählt. Dieser missglückte Zauber, mit dem ihr euch herumschlagt, diese Bindung zwischen euch, sie meinte, sie verbindet ebenso euer Leben. Und wenn wir dir etwas antun, dann würde auch sie sterben. Sie hat so gebettelt, dass wir dich leben lassen, richtig niedlich. Aber ich vermute, in Wahrheit ging es ihr vor allem um ihr eigenes Leben.«

Nicolas schloss die Augen. Er hatte bereits geahnt, dass ihre Verbindung durch den Zauber noch weitere Aspekte mit sich brachte. Aber woher nahm Melissa ihr Wissen? Hatte sie den Entführern nur eine Vermutung aufgetischt, oder steckte mehr dahinter? »Welchen Sinn hat es dann, wenn ich mich ausliefere? Ich bezweifel, dass ich zu einer Wellnesskur eingeladen bin.«

»Deine Bedenken sind richtig. Ich möchte dich am liebsten tot sehen. Wesen wie du sollten nicht durch unsere schöne Welt laufen.« Der Tonfall des Mannes triefte vor Abscheu. »Andererseits ist mein Bestreben, einen Menschen zu töten, eher mäßig ausgeprägt. Strafen für einen Mord können unerfreulich langwierig sein. Hier ist also der Deal: Wir werden dich nicht töten, sondern lediglich außer Gefecht setzen. Dauerhaft. Wie wäre es mit lebendig begraben? Wäre das einem Blutsauger würdig? Muss verlockend für dich klingen.«

Nicolas wurde schlecht. Sein Vampirkörper würde durch eine solche Behandlung nicht sterben, aber sobald der Mangel an frischem Blut zu groß wäre, würde er funktionsunfähig werden. Er könnte ewig in einem solchen Zustand verweilen, eine nie endende Folter. Plötzlich bekam der Gedanke an den Tod einen völlig neuen Reiz. Doch wenn der Zauber Bestand hatte, musste er keine Ewigkeit ausharren, nur bis Melissa ihr Leben zu Ende gelebt hatte. In vielen Jahren. Das klang nicht gut, aber immerhin besser. »Und wenn ich mich weigere?«

»Dann mach ich es mir einfach und schneide der Kleinen die Kehle durch. Damit dürftest nebenbei auch du Geschichte sein.« Jetzt klang die Stimme des Mannes eiskalt. Nicolas zweifelte nicht mehr an der Aufrichtigkeit des Mannes. Er war bereit, Melissa zu opfern, wenn es die einzige Möglichkeit wäre, Nicolas zu beseitigen. Dass er es noch nicht getan hatte, sprach dafür, dass er tatsächlich kein Interesse an ihrem Tod hatte.

»Du hast gesagt, ich kann mich von ihr verabschieden ...« Nicolas' Stimme klang brüchig.

»Ich werde sie zu dir bringen, sobald du nicht mehr fliehen kannst.« Der Mann schmunzelte. »Oh, das wird herzzerreißend. Vielleicht verstehe ich dann sogar, was man an einem Monster wie dir so anziehend finden kann? – Ach nein, ich denke, dieses Geheimnis wird mir für immer verborgen bleiben. Sei's drum. Ich bin jetzt sehr nah bei Melissa und werde ernsthaft ungeduldig. Können wir also weitermachen oder soll ich die Sache anders regeln?«

Er durfte Melissa nicht weiter durch sein Zögern gefährden. Der Mann spielte seine Rolle gut, doch Nicolas entging es nicht, dass dieser in Wahrheit zum zerreißen gespannt war. Ein bedrohlicher Zustand. »Was soll ich tun?« Nicolas machte sich keine Illusionen mehr. Er würde nicht entkommen. Aber er konnte Melissa retten.

Die Stimme befahl ihm, eine Tür neben dem Garagentor zu öffnen. Sie war unverschlossen. Dahinter befand sich die Garage, in der ein schwarzer Peugeot stand. Und zum ersten Mal nahm er Melissas Duft wahr. Sie musste in dem Wagen transportiert worden sein. Sein Herzschlag beschleunigte sich.

An der Seite des Raumes führte eine Treppe in einen Keller hinab. Ganz den Anweisungen nach schritt er diese hinunter und öffnete die Tür an deren Fuß. Ihm entging nicht, dass es sich um eine schwere Stahltür handelte. Auch diese ließ sich ohne weiteres öffnen. Ein kahler, graugetünchter Flur lag vor ihm, nur von automatisch aufflackernden Neonröhren erleuchtet. In einer Ecke hing eine weitere Kamera und ein kleiner Punkt leuchtete rot. Es gab keine Fenster, nur zwei weitere Türen, welche ebenso solide wirkten, wie die hinter ihm und ein Schrank am Ende des Ganges. Und Melissas Geruch, so intensiv, dass er annehmen musste, sie war erst vor kurzer Zeit hier vorbeigekommen. Abgelenkt ließ er sein Handy in seine Manteltasche gleiten und sprang vor zur ersten Tür. Er würde sein Leben verwetten, dass Melissa sich hinter dieser befand, das sagte ihm sein Geruchssinn, auch wenn er keine Geräusche durch die massive Tür ausmachen konnte. Er riss die Klinke hinunter und drücke mit aller Kraft gegen die Tür, aber der Stahl bewegte sich keinen Millimeter, lediglich eine leichte Delle zeichnete sich im Türblatt ab. Verdammt, er war ihr so nah und doch blieb sie unerreichbar. Wütend riss er an dem Türgriff, immer wieder und wieder.

»Stopp!«, klang da dieselbe Stimme aus der Kamera, welche offensichtlich mit einem Lautsprecher ausgestattet war, »wenn du die Klinke abreißt, wird die liebe Melissa den Raum nicht so bald wieder verlassen.«

Nicolas hörte ein dumpfes Geräusch hinter sich. Die Tür war selbstständig ins Schloss gefallen. Fast augenblicklich erklang ein mechanisches Klicken. Er wirbelte zurück und zog an dem Griff, doch sein Rückweg war verschlossen. Es überraschte ihn nicht. Er zog das Handy erneut aus seiner Tasche. Das Telefonat war abgebrochen. Er hatte keinen Empfang mehr. »Ich habe meinen Teil erfüllt. Jetzt lasst sie gehen«, sagte er Richtung Kamera.

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