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Wehmütig schaute sie sich in ihrer kleinen Hütte um. Sie würde sie vermissen. Alles an ihr. Das Bett, den Tisch, den Sessel, in dem Nicolas betont lässig gesessen hatte, als wäre es das Natürlichste der Welt. Ihr Bücherregal, das ihr so viele Stunden versüßt hatte. Den flauschigen Teppich. Und die Tatsache, dass diese Hütte bedeutete, dass sie ein Teil der Familie war, die im Haupthaus lebte.

Aber noch war es nicht so weit. Einmal würde sie noch wiederkehren, bevor sie diesen Ort auf unbestimmte Zeit verließ

Sie hatte Nicolas erklärt, dass sie ohne Hast zu Ende packen und danach duschen gehen würde, bevor sie ins Haupthaus käme.

Sie würde zwanzig Minuten für die Fahrt ins Café benötigen, wenn sie sich anstrengte lediglich fünfzehn. Das Gleiche galt für den Rückweg. Sie wäre zurück, bevor jemand bemerkte, dass sie fort war.

Das Rad lehnte an der dem Haupthaus abgewandten Seite ihrer Hütte. Ehe sie hinaustrat, steckte sie den Brief ein, in dem sie Helena erklärte, dass sie nicht wieder zur Arbeit kommen würde und wie leid dies ihr tat. Melissa hatte ein schlechtes Gewissen, die herzliche Frau dermaßen im Stich zu lassen. Helena sollte zumindest nicht vergeblich auf ihren Einsatz in der kommenden Woche warten müssen. Abgesehen davon hatte Melissa den Eindruck, dass ihre Chefin ohnehin ihre Nervosität mitbekommen hatte, hatte Melissa diese doch derart aufgeregt nach dem Kuscheltier suchen lassen. Sie würde den Brief nach Nalas Abholung in den Briefkasten schmeißen.

Sie kontrollierte mit einem Blick durch das kleine Fenster, dass keiner der Vampire sich im Garten aufhielt. Dann schlüpfte sie durch die Tür, schlich zum Fahrrad und schob dieses in den Wald hinein. Als sie außer Sichtweite des Hauses war, bog sie in einen Waldweg ab, der direkt zur Straße führte. Sie schwang sich auf ihr Gefährt und atmete erleichtert aus. Niemand hatte ihren Aufbruch bemerkt.

Schnell glitt die Straße unter ihren Rädern dahin und Melissa genoss die Strahlen der tiefstehenden Herbstsonne im Gesicht. Zum Glück regnete es nicht, sie hätte später kaum ihren durchweichten Mantel erklären können. Tatsächlich war es ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, sodass sie ihren Mantel öffnete. Nachdem sie einige Zeit zwischen Bäumen und Feldern gefahren war, erreichte sie keuchend den kleinen Radweg, welcher zum Stadtpark führte. Sicherlich war es vorteilhaft, sich noch einmal zu verausgaben, bevor sie auf unbestimmte Zeit in Nicolas Auto stillsitzen musste.

Der von hohen Büschen umgebende Weg war zu Beginn von zwei zueinander versetzten Barrikaden versperrt und fast hätte sie nicht mehr rechtzeitig bremsen können, so rasch war sie unterwegs. Nach einer abrupten Bremsung stieg sie ab, um ihr Rad an den Hindernissen vorbeizuschieben.

Sie trat an die Barrikade heran und wollte zwischen sie treten, als wie aus dem Nichts eine große Hand nach ihr griff und sich fest auf ihren Mund legte, gleichzeitig presste sich ein Arm um ihre Brust. Augenblicklich durchflutete sie Panik und sie riss intuitiv die Arme hoch. Doch der Angreifer ließ sich nicht abschütteln und zog sie einige Schritte nach hinten. Sie versuchte nach Luft zu schnappen, doch die Hand verschloss ebenfalls ihre Nase und erhöhte ihren Horror. Wild kämpfte sie gegen den Griff des Fremden an, aber mit purer Muskelkraft konnte sie sich nicht befreien. Bilder aus einem lang vergangenen Selbstverteidigungskurs streiften ihre Gedanken, aber wollten sich nicht fangen lassen. Was machte man, wenn man von hinten gepackt wurde? Fallen lassen! War das die richtige Taktik? Sie wusste es nicht. Egal, sie musste etwas tun.

Melissa biss in die Hand vor ihrem Gesicht und beugte zeitgleich die Knie. Die Hand zuckte von ihr fort und kurz hing sie im Arm des Angreifers, dann sackte sie nach unten weg. Eine Männerstimme über ihren Kopf zischte fluchend. Als ihre Füße Boden berührte, schoss sie nach vorn, doch wurde umgehend zurückgerissen und prallte gegen den Mann hinter ihr. Wieder schmiss sie sich vor, wurde dieses Mal von ihrem Mantel festgehalten, in dessen Rückenteil sich die Hand des Angreifers festgekrallt hatte. Blind schlug sie mit ihren Ellenbogen nach hinten und traf auf etwas Hartes. Ein Aufjaulen verriet ihr, dass sie einen Volltreffer gelandet hatte. Schnell streckte sie die Arme hinter sich, glitt aus dem Kleidungsstück und rannte los.

Blindlings schoss sie Richtung Straßenrand, um hinter den Büschen, welche den Radweg säumten, zu verschwinden. Adrenalin rauschte in ihren Adern und ihre Umgebung verschwamm vor ihren Augen. Wider Erwarten hörte sie keine Schritte hinter sich. Obwohl ihre Lungen brannten, wurde sie nicht langsamer, sondern wollte so viel Abstand zwischen sich und den Angreifer bringen, wie es ihr möglich war. Erst als sie absolut sicher war, dass niemand sie verfolgte, riskierte sie einen flüchtigen Blick nach hinten. Kurz flackerte Erleichterung in ihr auf, doch als sie erneut nach vorne sah, versperrte ihr unvermittelt eine Gestalt den Weg und sie prallte gegen einen zweiten Mann. Abermals legte sich ein hartnäckiger Griff um ihren Körper und hielt sie gnadenlos fest. Melissas Muskeln begannen zu zittern. Sie schnappte verzweifelt nach Luft und kam dabei nicht einmal auf die Idee zu schreien. Wild schmiss sie sich hin und her, aber ihre gesamte Gegenwehr verpuffte ergebnislos. Trotz ihrer in Todesangst aufgebrachten Anstrengungen, gelang es ihr nicht, ihre Arme zu befreien oder einen weiteren Treffer zu landen. Wie einen wehrloser Sack schleifte der Angreifer sie zu einem offenen Wagen, der unter den Büschen verborgen parkte. Schließlich kamen doch noch Schritte hinter ihr angerannt, weitere Arme packten sie und trotz ihres panischen Gezappels wurde sie innerhalb von Sekunden in das Auto geschoben.

Das Klacken der sich schließenden Tür schrillte in ihren Ohren betäubend laut auf. Dann fuhr der Wagen los.

Das konnte unmöglich wirklich geschehen. Wer waren diese Menschen? Warum schleiften sie sie in einen Wagen? Was wollten sie von ihr? In Sekundenbruchteilen malte sie sich Dutzende unterschiedlicher Szenarien aus, was man mit ihr anstellen würde, eines schlimmer als das andere. Erst jetzt fing sie unkontrolliert an zu schreien.

Eine Hand traf hart auf ihre Wange und schleuderte ihren Kopf zur Seite. Ihr Schrei erstickte. »Halt den Mund! Dir wird nichts geschehen, solange du dich benimmst.« Eine kalte Stimme zischte die Worte. Definitiv ein Mann. Melissa schmeckte Blut, ihre Lippe brannte. Benommen hob sie den Kopf und versuchte sich zu orientieren. Sie musste wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Sie öffnete die Augen, welche sich bei dem Schlag instinktiv geschlossen hatten und – sah nur Schwärze. Etwas Weiches legte sich über ihr Sichtfeld und wurde an ihrem Hinterkopf festgezogen. Ihre Hände waren nutzlos, lag doch der eiserne Griff fremder Arme noch immer um ihren Oberkörper. Um sich gegen den Stoff auf ihren Augen zu wehren, schmiss sie den Kopf hin und her, was augenblicklich mit einem weiteren Schlag quittiert wurde.

»Benehmen habe ich gesagt. Halt still, oder du bekommst wirklich Grund zum Schreien.«

Melissas Kopf wurde brutal hinabgedrückt und der Stoff rutschte ihr vom Gesicht. Doch sehen konnte sie nichts weiter als ihre eigenen Knie. Sie schluchzte auf.

»Hör zu«, erklang erneut die kalte Stimme, »wenn du hier mitspielst, wirst du bald wieder zufrieden zu Hause sitzen, ohne dass dir ein Haar gekrümmt wurde. Wenn du dich wehrst, müssen wir leider härtere Methoden anwenden. Also sei brav und lass dir die Augenbinde anlegen. Verstanden?«

Unnachgiebige Finger drückten ihren Nacken weiter nach untern und lockerten sich erst, als sie leicht nickte.

»Ausgezeichnet!« Melissa spürte, wie etwas an ihrem Hinterkopf verknotet wurde. Sie wehrte sich nicht. Ihr gesamter Körper wurde von einem Zittern erfasst, dass sie nicht kontrollieren konnte.

»Und jetzt die Hände.« Die Arme lösten sich von ihrem Oberkörper und schwitzige Hände griffen nach ihren und zwangen diese auf ihren Rücken. Jemand legte eine Schnur um ihre Handgelenke.

Nein, sie durften sie auf keinen Fall fesseln. Sie wäre ihren Angreifern hoffnungslos ausgeliefert. Noch mehr, als sie es ohnehin bereits war. In einem letzten verzweifelten Versuch bäumte sie sich auf und riss ihre Hände vor. Und traf beim Hochschnellen mit ihrem Hinterkopf hart gegen einen festen Gegenstand. Ein Mann schrie auf, doch das nahm Melissa lediglich am Rande wahr, zu sehr waren ihre Sinne vom Klirren in ihren Ohren und den Lichtblitzen vor ihren verbundenen Augen verwirrt.

»Scheiße, die Kleine hat mir einen Kinnhaken verpasst! Na warte, ich werde ...«

»Nichts wirst du!« Eine Frauenstimme, stellte Melissa entgeistert fest. Sie musste der Fahrer des Wagens sein. »Ihr werdet doch zu zweit mit einer Frau fertig werden, ohne sie kaputt zu machen! Und seht zu, dass ihr sie bald verschnürt bekommt!«

Wieder wurde an ihren Armen gezogen und sie schaffte es kein weiteres Mal, sich zu entziehen. Eine Schnur legte sich um ihre Handgelenke, welche nun zumindest vor ihrem Körper lagen, zog sich fest und schnitt schmerzhaft in ihr Fleisch. Das Gleiche geschah mit ihren Füßen.

Sie hatte keine Chance sich zu wehren. Melissa sackte in sich zusammen und spürte Tränen in sich aufsteigen. Verzweifelt versuchte sie, dieses zurückzudrängen, doch sie konnte ein abgehacktes Schluchzen nicht unterdrücken.

Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn das Auto sie weiter von Nicolas wegbringen wollte, als es der Zauber zuließ?

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