53
Zurück in ihrer kleinen Hütte, machte Melissa sich notdürftig frisch und zog sich um. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Erleichtert stellte sie fest, dass weder ihr Hals noch ihre Lippe Spuren des vergangenen Abends aufwiesen. Dennoch entschied sie sich für einen Rollkragenpullover, nur falls sie etwas übersehen hatte.
Schnell bändigte sie ihre zerzausten Haare und hoffte, dass sie es rechtzeitig zum gemeinsamen Frühstück im Haupthaus schaffen würde, als die Tür aufflog.
»Pack deine Sachen. Wir verschwinden von hier?« Grimmig stand Nicolas im Türrahmen und ließ die Augen durch den Raum wandern, als suche er etwas.
»Bitte? Was ist los?« Melissa starrte ihn an wie eine Erscheinung. Vor wenigen Minuten erst hatte Nicolas mit ihr zusammen das Haus erreicht und war, im Vergleich zu seiner Stimmung am Vortag, recht ausgeglichen in dieses gelaufen. Was konnte seit dem geschehen sein, das seine Laune dermaßen schnell kippen ließ?
»Erzähle ich dir später. Jetzt haben wir Dringenderes zu tun. Wir hätten auf keinen Fall so lange fortbleiben dürfen. Verdammt, was habe ich mir nur dabei gedacht?« Ohne zu Fragen öffnete er ihren Kleiderschrank. »Was brauchst du von dem Zeug?«
Melissa blieb der Mund offen stehen. Meinte er das ernst? Nicht einmal einen Grund für seinen Befehl wollte er ihr nennen? Ohne ein weiteres Wort an ihn zu verschwenden, ging sie zur Tür, schlüpfte in ihre Stiefel und verließ die Hütte. Tara würde ihr Klarheit verschaffen.
»Ja klar, stress dich nicht«, hörte sie hinter sich ein grimmiges Knurren. Fast erwartete Melissa, von ihm zurückgerissen zu werden, doch er versuchte nicht, sie aufzuhalten.
Im Wohnraum fand sie ein unerwartetes Quartett vor einer gedeckten Frühstückstafel vor. Auf der einen Seite saßen Tara und Adam, von denen naturgemäß keiner übermäßiges Interesse an Toast und Kaffee zeigte, auf der anderen Seite befanden sich Marlon und Lia.
Melissa blinzelte zweimal, bevor sie grüßte, so ungewöhnlich war dieses Bild. Die Einzige, die beherzt zum Essen griff, war Lia. Marlon hingegen erschien Melissa eher wie ein Geist, beinahe durchsichtig wirkte seine Haut und so blass ... wüsste sie nicht mittlerweile um Adams Ernährungsweise, sie würde ein ernstes Wort mit diesem sprechen. Adam sah hingegen wieder frisch und anmutig aus und strahlte sie mit seinen braunen Augen an, wie sie es gewohnt war.
Melissa war dermaßen abgelenkt von dem Anblick der vier, dass sie zunächst den Geruch nicht einordnete, der im Raum hing. Es roch nach Rauch. Nicht ein wenig Rauch, sondern hoffnungslos verbrannt. Ihr Blick wanderte zu dem Ofen, doch dieser zeigte keinerlei Verfärbungen. Sie hätte erwartet, dass die Decke über der Feuerstelle pechschwarz wäre. Tara folgte ihrem Blick aufmerksam.
»Der Ofen war es nicht.«
»Woher kommt dann dieser ...«
»Es hat gebrannt.«
»Es hat .... WAS?« Panisch sah Melissa sich im Raum um. Amia war nicht - doch da kam das Mädchen bereits die Treppe hinuntergehopst. Melissa atmete tief ein. Was immer hier vorgefallen war, sie fing definitiv an überzureagieren. Und sie begann Nicolas Verhalten besser zu verstehen. Sie hatte direkt an das Schlimmste denken müssen, obwohl es keinen offensichtlichen Grund zur Panik gegeben hatte. Wäre Amia etwas zugestoßen, keiner der Anwesenden hätte so entspannt dagesessen.
»Im Obergeschoss hat sich ein kleines Feuer entwickelt. Es hat nicht lange gebrannt, wir konnten es rechtzeitig löschen. Es kann ausgesprochen praktisch sein, wenn sich zwei superschnelle Vampire im Haus aufhalten.« Tara zuckte mit den Schultern, als tangiere sie das Ereignis kaum, doch ihr wacher Blick verriet das Gegenteil.
»Aber ... aber wie kann sowas passieren?« Melissas Augen wanderten zwischen den Anwesenden hin und her.
»Tara vermutet einen Kurzschluss.« Von Melissa unbemerkt war Nicolas hinten an sie herangetreten und legte eine warme Hand auf ihre Taille. Adam runzelte die Stirn. Ob er noch immer glaubte, dass die Sache zwischen ihr und Nicolas keine gute Idee wäre? Eine unangenehme Stille trat ein und Melissa spürte plötzlich die Blicke aller Anwesenden auf ihrem Hals ruhen. Nur mit Mühe unterdrückte sie den Impuls, sich unter dem hohen Kragen ihres Pullovers zu kratzen. Jetzt waren es ihre Wangen, die Feuer fingen. Sie verfluchte innerlich ihre Kleiderwahl und wünschte sich, ein halsfreies Oberteil angezogen zu haben.
»Zumindest hat er sich zusammengerissen, du stehst ja noch«, murmelte Tara, bevor sie sachlich fortfuhr: »Ein Kurzschluss ist am naheliegendsten. Es war eine alte Lampe und das Kabel vermutlich nicht mehr intakt. Solche Dinge geschehen.« Melissa war der Vampirin für diesen nahtlosen Übergang unendlich dankbar. Doch in Adams und Marlons Mienen stand trotzdem eine unverkennbare Fassungslosigkeit. Und Lia wirkte, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie Nicolas anfallen oder lieber schreiend davon rennen sollte.
»Was könnte sonst einen Brand ausgelöst haben?«, versuchte Melissa die Aufmerksamkeit zurück zum Thema zu lenken.
Adam gewann die Kontrolle über seine Mimik zurück und erklärte mit angespannter Stimme: »Es besteht eine geringe Möglichkeit, dass das Feuer ... kein Zufall war.«
Melissas Augen wurden groß. »Ihr glaubt ... jemand hat mit Absicht das Feuer gelegt? Wie? War jemand im Haus?« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand in der Lage wäre, sich an gleich zwei Vampiren vorbeizuschleichen.
»Nein, es war sicher niemand hier. Aber es besteht die Möglichkeit, dass es aus der Ferne entzündet wurde.«
Verwirrt starrte Melissa Adam an. Dieser blickte zu Marlon und nach einem weiteren Moment verstand Melissa. »Du glaubst, es wurde durch Magie ausgelöst?«
Marlon ergriff das Wort: »Wir nehmen es nicht wirklich an, aber es wäre möglich.« Seine Stimme klang dünn und kraftlos. »Jedoch ist es nicht einfach, ein Feuer gezielt zu legen. Dafür braucht man eine gute Portion Übung und die magischen Kräfte müssen ausreichen. Ich kenne niemanden, der das bewerkstelligen könnte.«
»Du meinst, niemanden außer dir?«, fragte Nicolas langsam. »Oder deiner geliebten Josephina?«
Marlon zuckte zurück und schüttelte nur schwach mit dem Kopf.
Melissa blieb der Mund offen stehen. Wie konnte Nicolas es wagen, einen derartigen Verdacht auszusprechen? Litt er an Demenz? Immerhin war es Marlon gewesen, der Nicolas mit seiner Magie das Leben gerettet hatte. Würde dieser einen persönlichen Groll gegen ihn hegen, er hätte nur die Hände in den Schoß legen und abwarten müssen. Entrüstet stieß sie Nicolas' Hand von ihrer Taille und öffnete den Mund, um Marlon zu verteidigen, doch Lia war schneller.
»Was fällt dir ein? Glaubst du ernsthaft, Marlon rettet dir den Allerwertesten, um dich dann hinterrücks anzufallen?« Die Stimme des blonden Mädchens bebte. »Marlon ist der Letzte, der dir an die Wäsche will! Und nur, weil du dich von seiner Magie in deiner Superman-Rolle bedroht fühlst, heißt das noch lange nicht, dass du das Recht hast, ihm solche Unterstellungen zu machen. Sieh ihn dir an: er ist krank. Er hatte Mühe, die Busfahrt hierher zu überstehen. Ganz sicher ist er nicht in der Lage, ein Feuer in vielen Kilometer Entfernung zu legen. Und nur fürs Protokoll: auch Josephina verfügt nicht über die Fähigkeiten.« Als wolle sie Marlon schützen, rückte Lia näher an Marlon heran und trotz ihrer geringen Körpergröße wirkte sie durchaus einschüchternd, wie ein bissiger Terrier. Melissa grinste innerlich.
»Und warum seid ihr dann überhaupt hier?«, brummte Nicolas.
»Weil Adam uns angefleht hat, herzukommen, um eventuelle magische Spuren an der Brandstelle feststellen zu können. Und das hat er vollkommen ohne Drohungen hinbekommen. Der Beweis, dass es auch Vampiren möglich ist, sich zivilisiert zu verhalten.«
Melissa zog überrascht die Luft ein. Lia wusste es?
»Marlon hat dich über Adam aufgeklärt«, stellte Nicolas trocken fest.
»Nein, nicht Marlon, das hat Adam erledigt. Marlon ist eurem Wunsch, niemanden unnötig über eure Natur zu erzählen, nachgekommen. Nach Adams Zusammenbruch konnte ich mir ohnehin zusammenreimen, an welcher Krankheit er gelitten hatte, hatte ich dich doch auf die gleiche Art in der Nacht am Feuer kollabieren gesehen.« Lia hielt Nicolas Blick erbost stand.
Nicolas seufzte. »Nun dann, zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen bezüglich des Brandes?«
Lia schnaubte verächtlich aus. »Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass bereits die Fahrt hierher zu viel für Marlon war und ein Zauber ihm heute nicht mehr zuzumuten ist.«
Marlon meldete sich jetzt zu Wort. »Lia, ich kann nach einer kurzen Pause ...«
»Auf keinen Fall! Ich werde nicht dabei zusehen, wie du zusammenbrichst, nur um irgendwelche Vermutungen zu widerlegen. Bitte, verlange das nicht von mir!« Jetzt schimmerten Tränen in Lias Augen. »Ich erlebe bereits Tag für Tag mit, wie du schwächer wirst, und keiner kann mir sagen, was los ist. Verschwende nicht noch mehr Energie ... ich habe Angst um dich!«
Melissa musste schlucken. Und so sehr sie ebenfalls an einer Antwort zum Ursprung des Brands interessiert gewesen wäre, sie musste ihrer Freundin heimlich recht geben. Marlon wirkte, als könne er sich nur mit Mühe auf dem Stuhl halten. Er tat ihr leid. Keiner im Raum widersprach Lia.
»Dann bleibt uns keine andere Wahl. Wir werden von hier verschwinden. Und ab jetzt bleiben wir zusammen. Packt eure Sachen, bei Dämmerung ist Abfahrt, das sollte euch genug Zeit geben, alles Wichtige zu regeln«, stellte Nicolas bestimmt fest.
Melissa und Lia sahen sich bestürzt an. Keine von ihnen hatte mit einer derartig umgehenden Konsequenz gerechnet. Beiden Frauen war schlagartig klar, dass dieser Aufbruch automatisch Melissa miteinschloss, Lia und Marlon jedoch nicht. Sie würden sich auf unbestimmte Zeit nicht mehr sehen.
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