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»Das muss dir nicht leidtun. Das Leben wäre schwer zu ertragen, ohne ein wenig Humor. Und ich mag es deutlich lieber, wenn du lachst.« Mit einem leisen Schmunzeln zog er ihr die Hand vom Mund. »So ist es besser. Dein Mund ist so schön, wenn du lächelst. Apropos Mund, hast du Hunger?« Nicolas fiel erst jetzt auf, wie viel Zeit seit ihrem Picknick vergangen sein musste.

Gedankenverloren blickte Melissa ihn an. Er konnte nur erahnen, wie intensiv seine Geschichte in ihr nachwirkte. »Nicht sonderlich. Du?«

Nicolas zuckte innerlich zusammen. Hatte sie tatsächlich ... Gebannt starrte er auf ihren Hals mit der weißen Haut, das lockende Pochen ihres Pulses.

Es dauerte einen Moment, bis Melissa klar wurde, was sie da gefragt hatte. Erschrocken zog sie die Luft ein. »Ich meine ... also ... ich habe nicht nachgedacht. Aber ... vielleicht möchtest du noch ein Sandwich?« Verkrampft zog sie beide Mundwinkel nach oben.

Nicolas holte tief Luft. Ausgesprochen tief. Normalerweise hätte er einen anderen Tag für diesen Ausflug vorgezogen, einen nach der nächsten Mahlzeit, einem, an dem ihm die Selbstkontrolle nicht so verdammt schwergefallen wäre. Aber es hatte sich angeboten, sie nach ihrem ersten Arbeitstag abzuholen. »Genau genommen wollte ich mit dir noch darüber reden. Genau genommen wäre es ausgezeichnet, wenn wir wieder einen kleinen Ausflug machen könnten ...«

Den gesamten Tag hatte er es fertig gebracht, seinen Hunger zu unterdrücken, ihn zu bezwingen und beiseitezuschieben. Es war ihm wichtiger gewesen, Melissa zu zeigen, was sie ihm bedeutete. Dass er selbst die Küsse auf dem Sofa überstanden und zusätzlich Zurückhaltung an den Tag gelegt hatte, ohne die Ruhe zu verlieren, dafür feierte er sich heimlich als Held. Doch er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er das keinen weiteren Tag ertragen konnte. Zu lange schon fastete er. Dass er zusätzlich Adam mit Blut versorgte, machte die Situation umso dringlicher. Er musste trinken. Sein Zustand wurde mittlerweile bedenklich.

»Wann willst du los?«, fragte Melissa.

»Jetzt.« Das war etwas mit der Tür ins Haus gefallen, aber verdeutlichte sein Anliegen.

»Was? Es ist mitten in der Nacht.«

»Später Abend« korrigierte Nicolas. »Und morgen früh wärst du wieder zurück.«

»Ich muss ausgeschlafen sein. Ich muss morgen arbeiten!« Melissa sprang entrüstet vom Sofa auf. Nicolas liebte diesen Ausdruck an ihr. Wie sie mit leicht geöffnetem Mund und verzweifelt gestikulierend vor ihm stand ... und diese vollen, himbeerfarbenen Lippen, so einladend sinnlich, und der blasse Hals – er musste dringend trinken. Er würde darüber nicht diskutieren.
»Verschieb das!« Er brauchte keinen Spiegel, um zu erahnen, wie dunkel seine Augen geworden waren. Doch was die meisten Menschen zum sofortigen Rückzug veranlasste, schien Melissa kaum noch zu beeindrucken.

»Das ist mein zweiter Arbeitstag. Ich kann das nicht verschieben. Überleg dir eine andere Lösung!« Als hätte die Sache sich damit erledigt, drehte sie sich zu den Panoramafenstern um und blickte aufs Meer. Nicolas schloss die Augen und holte abermals tief Luft. Er würde sich jetzt nicht hinter sie stellen und seine Arme um sie schlingen.

Die nächsten Worte kamen einem Knurren gleich. »Es gibt keine andere Lösung.«

»Es gibt immer eine andere Lösung«, sagte Melissa mit dem Rücken zu Nicolas. Sie verschränkte die Arme, um ihre Meinung zu untermauern.

»Du bist die andere Lösung«, grollte er heiser. Sie musste verstehen, dass es keine andere Option als diese Reise gab. Es tat Nicolas ernsthaft leid, dass er ihr so kurz nach ihrem Arbeitsbeginn Probleme mit ihrem neuen Job bereitete, doch es ließ sich nicht ändern. Er benötigte dringend Blut, wenn er nicht riskieren wollte, über Melissa herzufallen.

Melissa drehte sich wieder zu ihm um und blickte ihn mit zusammengepressten Lippen an. Nach etlichen Sekunden brachte sie ein angespanntes »Okay, dann trink!« Hervor.

»Was?« Nicolas blieb der Mund offen stehen. Mit Wucht meldeten sich alle seine niederen Instinkte und versuchten, ihn zum Buffet zu dirigieren. Angestrengt hielt er seine Muskulatur unter Kontrolle. Ohne es zu wollen, inhalierte er ihren Duft, so süß und schwer und köstlich. »Du hast keine Ahnung, was du da sagst!«

»Nein? Warum nicht? Wirst du mich umbringen? Kannst du dich nicht beherrschen?« Zweifelnd zog sie die Augenbrauen hoch. »Wenn ich das richtig verstanden habe, trinkst du auch sonst portionsweise von anderen Menschen, ohne dass ihnen etwas geschieht. Aus den Vampirkinderschuhen bist du jedenfalls raus.«

»Ich kann mich beherrschen!« Nur mit Mühe unterdrückte er ein bedrohliches Knurren. Er würde sich beherrschen. Selbst wenn sie ihn mit ihrem Verhalten in diesem Moment mehr abverlangte, als er jemals für möglich gehalten hätte. Er würde Melissa nicht anrühren. Niemals.

»Gut.« Melissas Stimme klang so nebensächlich, als würde sie nichts weiter als einen Essensplan mit ihm absprechen. »Wie lange würde so eine Mahlzeit ausreichen?«

»Drei oder vier Tage, aber ...«

»Dann hab ich frei und du kannst dich anderswo komplett satttrinken.«

Fassungslos starrte er sie an. Seine Brust hob und senkte sich angestrengt. Er konnte den Blick nicht von Melissa lassen, wie sie vor ihm stand, das schwarze, tobende Meer im Hintergrund und ... sich ihm anbot. Tief und kehlig erklangen seine nächsten Worte. »Tu sowas nie wieder!«

»Was denn?« Ihre sanften, hellen Worte mit dem gespielten Erstaunen jagten einen Schauer über seine Haut, wie er ihn bisher nicht gekannt hatte. Sie legte den Kopf leicht schräg und lächelte ihn unschuldig an. So hoffnungslos arglos sah sie aus ... und wusste doch genau, was sie tat.
Er fletschte die Zähne. »Spiel nicht mit mir!«

Ihr Mund verwandelte sich in ein herausforderndes Lächeln, gleichzeitig hob sie übertrieben ahnungslos die Augenbrauen. Das war mehr, als er ertragen konnte. Wie zum Teufel sollte er sich zurückhalten, wenn sie so ...

Er hörte auf zu denken. Seine Instinkte übernahmen die Führung. In einer einzigen, schnellen Bewegung stand er vor ihr, seine Brust berührte ihre, sein Gesicht zu ihr hinabgebeugt. 

Erschrocken zuckte sie zusammen und versuchte einen Schritt zurückzumachen, aber die dicke Scheibe hinter ihr hinderte sie daran. Mit einem derartigen Angriff hatte sie nicht gerechnet. Er senkte sein Gesicht bis in ihre Halsbeuge hinab und fuhr mit der Zunge über die Stelle, an der ihre Halsschlagader verlief. Ihr Puls pochte unter seiner Zungenspitze. Nur diese dünne Schicht Haut trennte seine Lippen von ihrem köstlichen Blut.

»Biete dich NIE einem Vampir als Mahlzeit an.« Seine Lippen lagen noch immer an ihrem Hals und sein Atem strich über diesen. Sie rührte sich nicht, jedoch sah er, wie sich eine Gänsehaut über ihre Haut ausbreitete. Er hob den Kopf, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Trotz allem gelang es ihm, sich zu beruhigen. Er würde sie wieder loslassen und sich runterfahren. Es würde unangenehm werden, aber nicht unmöglich.

Zu schrille, hektische Worte verließen keuchend ihre Kehle. »Es ist okay.«

Zischend stieß er die Luft zwischen seine Zähne aus. Er hatte verloren. Er würde sich nicht beherrschen.

Er lehnte sich vor, presste Melissa fester an die Scheibe, so dass es ihr unmöglich wurde, sich zu bewegen. Sie versuchte es nicht einmal. Schwer atmend wartete sie ab. Er ergriff ihre Handgelenke und fixierte diese neben ihrem Kopf, bevor er seinen Mund erneut in ihrer Halsbeuge sinken ließ.

Er sollte das nicht tun.

Der Vampir konnte nicht anders.

Sachte nahm er ihre zarte Haut zwischen seine Zähne. Sie keuchte.

Er schmeckte ihre salzige Haut, darunter das Wummern ihres Herzschlages. Melissas Atem wurde so flach und hektisch, dass er fürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen.

Ohne sie verletzt zu haben, löste er den Mund von ihrem Hals. Nein. Das hier durfte nicht geschehen. Sie keuchte überrascht auf, mit riesigen Augen sah sie ihn an. Noch immer machte sie keine Anstalten, sich von ihm befreien zu wollen. Gequält stöhnte er auf. Sie machte es ihm so leicht und damit so verflucht schwer. Trocken schluckte er. In seinem Mund ertastete er seine spitzen Fänge. Alles in ihm schrie nach frischem Blut.

Er ließ seinen Mund Melissas Schulter hinabwandern, bis zu ihrem Ellenbogen und über ihren Unterarm. Durch den Stoff ihres Pullovers nahm er dabei den Duft jeden Zentimeters ihrer Haut unter seiner Nase wahr. Bei ihrem Handgelenk angekommen, wurde sein Griff fester. Mit seinen Zähnen erfasste er das Ende ihres Ärmels und zog ihn ein kleines Stück nach oben. Seine Lippen liebkosten die weiche Haut über ihrem rasenden Puls. Doch auch sein eigenes Herz donnerte mit einer ungeahnten Heftigkeit in seiner Brust. Die spitzen Enden seiner Fänge ritzten hauchfeine Linien in ihr Handgelenk. Kaum mehr, als dass ein einziger Blutstropfen hervorquoll. Er leckte sich das köstliche Rot von den Lippen. Alle seine Sinne schrien ihn an sich augenblicklich in ihre Adern zu versenken. Aber er sah Melissa zuerst in die Augen, sein Mund leicht geöffnet, seine Zähne entblößt. Er musste einen beängstigen Anblick bieten und er spürte, wie ihr Körper zitterte, doch sie hielt seinem Blick stand. Kaum wahrnehmbar nickte sie.

Ohne seine Augen von den ihren abzuwenden, biss er zu.

Sie keuchte laut auf und ihr Körper versteifte sich einen Moment. Erneut hielt er inne, suchte nach Anzeichen der Gegenwehr. Doch Melissa bewegte sich nicht weiter. Mit aller Vorsicht, zu der er fähig war, begann er zu saugen. Ihr Blut flutete seinen Mund und seine Sinne schienen zu explodieren. Nie hatte er dermaßen vorzügliches Blut gekostet, als hätte er sich bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich von schmutzigem Wasser ernährt. Kurz flatterten ihre Lider, bevor ihr Atem zu einem gleichmäßigen Rhythmus fand und jeder ihrer Muskeln weich wurde. Nur der Druck seines Körpers gegen den ihren hielt sie noch aufrecht. So war es immer, wenn der Rausch seines Bisses sich in dem Menschen ausbreitete. Doch obwohl ihre Augen kaum mehr halb geöffnet waren, fixierte sie weiterhin seinen Blick mit einer Intensität, die ihm fast den Atem raubte. Das stellte alle seine bisherigen Erfahrungen in den Schatten.

Er hatte sie zuvor nicht betört, verführt und abgelenkt, bis sie nicht mehr wusste, wie ihr geschah. Verdammt, wie auch? Er hatte das hier nicht geplant. Melissa war zweifelsfrei bewusst, was mit ihr passierte. Und dennoch ließ sie es zu. – nein, sie ließ es nicht nur zu, sie forderte ihn hemmungslos auf. Er nahm wahr, wie sie ihr Handgelenk ein klein wenig fester gegen seine Fänge presste, eine fast unmerkliche Bewegung, jedoch mit immenser Wirkung. Ein tiefes Knurren wand sich aus seiner Kehle und unwillkürlich intensivierte er den Druck seines Bisses. Gleichzeitig registrierte er ein kaum wahrnehmbares Lächeln, das um Melissas Mundwinkel zuckte. Fassungslosigkeit breitete sich in ihm aus. Er hatte sich immer als Jäger betrachtet, aber in diesem Moment war er sich nicht mehr sicher, wer die Beute war.

Nicht eine Sekunde trennten sich ihre Blicke, während der heiße Strom ihres Blutes in seinen Mund rauschte. Er löste seinen Griff von ihrem anderen Handgelenk, legte seinen Arm um ihre Hüfte und hielt ihren weichen, warmen Körper, während er den Druck gegen sie löste. Gerade genug, um sie ungehindert Atmen zu lassen. Mit seinen Zähnen tief in ihren Adern versenkt, nahm er plötzlich ihre Finger wahr, die sich in seinen Nacken legten und seinen Haaransatz hinaufkrabbelten. Er stöhnte.

Er musste das hier beenden, bevor er zu weit ging. Dringend. Dass sie ihn stoppen würde, die Hoffnung gab er auf, als ihre warme Hand langsam über seine Wange strich.

Zum ersten Mal, seit er den Mund an Melissas Handgelenk gelegt hatte, schloss er die Augen und beendete damit den Blickkontakt. Er sammelte alle seine verbliebene Konzentration. Eine letzte Sekunde genoss er ihren köstlichen Geschmack, das warme Blut, dass seine Kehle hinunterglitt, bevor er so sanft es ihm möglich war, seine Fänge aus ihrer Haut zog. Die Blutung stoppte augenblicklich, so wie er es kannte.

»Nicolas ...« Fragend, fast vorwurfsvoll klang ihr Stimme.

Er löste auch den Griff um ihr anderes Handgelenk und schob seinen freigewordenen Arm nun unter ihre Knie. »Es ist genug.« Sanft hob er sie auf und legte sie auf das Sofa, dann setzte er sich auf die Polsterkante neben sie. Endlich ziegte das aufgenommen Blut seine Wirkung und ließ in zur Ruhe kommen, und seine Gedanken sortierten sich. Tief seufzte er auf und musterte Melissa. Sie war ein wenig blass, aber wirkte ansonsten unbeschadet. Und lächelte ihn noch immer an.
»Warum hast du das getan?« Er musterte sie.

»Wir brauchten eine Lösung für unser ... Terminproblem«, antwortete sie zaghaft.

Er schnaufte. »Klar, du riskierst dein Leben, um Terminproblemen zu begegnen ... Sag mir, warum du das getan hast. Warum hast du immer weiter gemacht, bis ...«

»Weil ich es wissen wollte. Ich wollte wissen, was es für mich heißt, dass du ein Vampir bist. Wie es ist, wenn du von jemanden trinkst. Was geschieht, wie es sich anfühlt. Du hättest mir stundenlang davon erzählen können. Aber ich hätte es niemals gänzlich verstanden, nicht wie auf diese Art.«

Schweigend betrachtete er sie.

Lange.

Er überlegte, ob er sich bei ihr entschuldigen sollte. – Oder sie sich bei ihm. Beides erschien ihn unpassend. In ihren Anblick versunken, strich er ihre über die Haare. Er wusste nichts zu erwidern. Noch nie hatte er sich selbst so sprachlos erlebt.

»Warum glaubst du, ich hätte mein Leben riskiert?« Unsicher blickte sie ihn aus riesigen Augen an.

Nicolas nahm eine ihrer Haarsträhnen und wickelte sie nachdenklich um seinen Zeigefinger. »Du wusstest nicht, wie ich reagieren oder ob ich rechtzeitig aufhören würde zu trinken. Wie gut ich mich kontrollieren kann. Bei vielen anderen Vampiren wärst du nach einer solchen Einladung tot gewesen. Unterschätze nie die Instinkte eines Vampires, wenn es um Blut geht. Du hast Adam erlebt. Er hätte dir ohne Zögern die Kehle aufgerissen, wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte. Und ich bin mir sicher, er ist der Letzte, der dir etwas antun möchte. Reize keinen Vampir, bis er die Kontrolle verliert. Nie wieder!«

Nachdenklich strich Melissa über seinen Handrücken und betrachtete, wie ihre Haare durch seine Finger glitten, bevor sie wieder den Blick zu ihm erhob. »Du hast bei mir noch nie die Kontrolle verloren. Nicht wirklich. Nicht so, dass du mir etwas angetan hättest.«

»Nein. Habe ich nicht.« Nicolas strich sich über das Gesicht. »Normalerweise weiß ich, was ich tue. Das ist der Grund, warum du noch lebst.« Er holte tiefer Luft, als er es vermutlich jemals in seinem Leben getan hatte. Für seinen Geschmack spielte Melissa deutlich zu häufig am Abgrund. In jedem Sinne. »Aber ... Melissa ... ich bin nicht unfehlbar.«

Anstatt einer Antwort nahm sie seine Hand und legte sie sich auf die Wange. Wieder stöhnte er. Worauf hatte er sich nur eingelassen?



Surrend rollte der Audi durch die Dunkelheit. Nicolas hatte darauf bestanden, sie zurück in ihre Hütte zu bringen, damit sie die Chance auf genug Schlaf vor ihrer nächsten Schicht hatte. Er hatte die merkwürdige Vorstellung, dass sie heute Nacht in der Lage wäre, Ruhe zu finden. Alleine. Ohne ihn.

Nun, sie würde klarkommen am morgigen Tag. Ein wenig Schlaf hatte sie bereits gefunden – mit Nicolas als lebensgroßes Kissen.

Als dieser vorgeschlagen hatte, sie erneut auf einen Ausflug mitzunehmen, wohlgemerkt wieder ohne Vorwarnung, hatte sie aus Reflex abgelehnt. Doch als ihr bewusst wurde, worauf ihre Weigerung hinauslief ... sie hatte es so dringend wissen wollen! Sie musste es wissen. Was es bedeutete, dass Nicolas ein Vampir war. Und möglicherweise hatte sie auch herausfinden wollen, wie weit sie Nicolas bringen konnte. Als er sie ohne Vorwarnung gepackt und an die Scheibe gedrückt hatte, erschreckte sie dieses mehr, als sie zugeben wollte. Doch nicht eine Sekunde hatte sie in Erwägung gezogen, dass er ihr ernsthaft Schaden zufügen könnte.

Nachdenklich strich sie sich mit dem Zeigefinger über das Handgelenk. Der Biss hatte sich bereits gänzlich geschlossen und nur mehr eine rote Linie erzählte von Nicolas Fängen in ihrer Haut. Und dieser war kaum eine Stunden her.

»Warum heilt es so schnell?«

Nicolas grinste überheblich. »Weil Vampire Wunderwesen sind. Wir haben Superheilkräfte!«
Entnervt stieß Melisse die Luft aus. »Und warum tatsächlich?«

»Wir vermuten, es ist etwas im Speichel von Vampiren, das die Wunde ungewöhnlich schnell heilen lässt. Etwas, das den Biss außerdem nahezu schmerzfrei gestaltet.«

Schmerzfrei ... ja, so konnte man es auch ausdrücken. Dabei hatte Melissa zunächst durchaus das Eindringen der spitzen Fänge gespürt, ein scharfes Stechen, das fast augenblicklich von einer angenehmen Wärme abgelöst wurde. Und dann hatte sich diese Wärme aufgebäumt zu einem allumfassenden Wohlgefühl, das wie ein Lauffeuer durch ihren gesamten Körper fegte, sich immer weiter intensivierte, ihre Muskeln in weiche Watte verwandelte und sie wehrlos in Nicolas Armen sinken ließ, unfähig sich selbstständig auf den Beinen zu halten. Sie hatte Mühe gehabt, den Blickkontakt mit Nicolas aufrecht zu erhalten. Doch sie wollte dieses Bild in sich aufnehmen, wie er seine Zähne in ihr vergraben hatte und von ihr trank. Sein Ausdruck in seinem wundervollen Gesicht, der vor Sanftheit zu Glühen schien, stets darauf bedacht, sie um keinen Preis zu verletzen, und gleichzeitig die raubtierhafte Wildheit in seinen schwarzen Augen. Sie hatte eine solche Mischung nie zuvor gesehen und bei der bloßen Erinnerung lief eine Gänsehaut über jeden Zentimeter ihres Körpers.

»Ist es immer so?«

»Was genau meinst du?«

»So ... berauschend?« Ihr fiel beim besten Willen kein besseres Wort ein.

»Hmmm ...«, Nicolas holte tief Luft »ja ... das ist durchaus beabsichtigt. Es trinkt sich geruhsamer, wenn der ... Mensch ... nicht zu ausgiebig zappelt.«

Melissa fühlte einen Stich, dessen Ursache sie sich nicht eingestehen wollte. Nicolas trank regelmäßig von fremden Menschen und nach allem, dass sie gehört hatte, konnte sie davon ausgehen, dass er Frauen bevorzugte. Was für sie eine überwältigende Erfahrung gewesen war, war für ihn Alltag. Und würde es bleiben. Tara hatte unmissverständlich klar gemacht, dass ein Mensch alleine einen Vampir nicht ernähren konnte.

Resigniert stieß Melissa die Luft aus. »Zumindest weiß ich jetzt, wie sich ein normaler Vampirbiss anfühlt.«

Nicolas zügelte das Tempo des Wagens und sah sie entgeistert an. »Melissa ... nichts an diesem Biss war normal

»Aber du hast doch gerade gesagt ...«

»... dass ein gewisser Rauschzustand meistens vorkommt. Ja, aber ... uff ...« Nicolas fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, als könnte er auf diese Art besser die passenden Worte finde. »Normalerweise suche ich mir den Menschen aus, von dem ich trinke, nicht umgekehrt. Ich bestimme Zeit und Ort. Das waren heute alles deine Entscheidungen.« Ein unterdrückter Vorwurf schwang in seinem Tonfall mit. »Und ich sorge dafür, dass ... der Vorgang selbst nicht so wahrgenommen wird, der Blutspender abgelenkt ist und sich später an keine Details erinnert. Aber du warst dir vollkommen im Klaren, um was du gebeten hast und was mit dir geschah. Mehr noch, du hast es fertig gebracht, mir dabei konsequent in die Augen zu sehen. Und niemals zuvor hatte ich das Bedürfnis, jemanden dabei so nahe zu sein. Und obwohl ich am liebsten immer weiter getrunken hätte, wollte ich dir um keinen Preis der Welt Schaden zufügen.« Ein paar Sekunden schwieg er, als wählte er die nächsten Worte mit ausgesuchter Vorsicht. »Von dir zu trinken, war das letzte, was ich geplant hatte. Ich wollte dir diese Erfahrung ersparen und dich beschützen vor dieser Seite in mir.« Er holte tief Luft. »Aber die Wahrheit ist, solltest du dich jemals wieder so verhalten, wie im Leuchtturm ... ich hätte keine Chance dir zu widerstehen.«

Melissa strich sich mit dem Zeigefinger nachdenklich über die Unterlippe. Kurz überlegte sie, ob sie ein schlechtes Gewissen haben sollte, dass sie Nicolas dazu gebracht hatte, sich von ihr zu ernähren. Aber sie hätte es heute nicht ertragen zu wissen, dass er von jemand anderen trank.

Sie hatte das Gefühl, sie sollte etwas auf seine Ansprache erwidern, aber sie war nicht in der Lage, seine Worte so schnell zu verarbeiten. Es routierte wild in ihrem Kopf und schließlich brachte sie das erstbeste und unverfänglichste raus, dass ihr einfiel.

»So ein Rausch kommt meistens vor?« Das war sicherlich nicht die tiefgründige Reaktion, die Nicolas erwartet hatte. Ein verlegenes Lachen begleitete ihre Frage. Hoffentlich war ihr Verhalten wenigstens im Ansatz mit dem Blutverlust zu erklären. Der führte bestimmt zu mangelndem Denkvermögen.

Nicolas kniff verwirrt die Augen zusammen. »Ja ... meistens ...«

»Nicht immer?«

»Das ist meines Wissens nach die Definition von meistens!«

Melissa wartete, doch Nicolas machte keine Anstalten, seine Antwort weiter zu erklären. Das weckte ihr Interesse erst recht, aber offenbar brauchte er eine Extraaufforderung. »Sagst du mir, wann nicht?«

Sein Gesicht verfinsterte sich und er spannte seine Kiefermuskulatur an. »Das ablenkende Wohlgefühl bleibt normalerweise aus, wenn der Vampir wütend ist. Und ich meine nicht nur ein wenig aufgebracht.«

»Warum?«

»Weil ... die Speichelzusammensetzung ändert sich unter den unterschiedlichen Emotionen des Vampirs. In einem positiven Zustand kann er halbwegs lenken, wie weit er den Menschen, von dem er trinkt, wegbeamt. Aber ist er rasend vor Zorn, so fehlt die für den Rausch zuständige Substanz völlig.«

»Und wie kommt das?«

»Hmmm ... Die Wirkung des Bisses hilft zu verschleiern, dass jemand gebissen wurde. Weil er es kaum wahrnimmt und sich anschließend nicht erinnert. Das hilft uns unauffällig zu bleiben. Wenn wir jedoch jemanden ohne Rücksicht auf Verluste anfallen ... ist diese Verschleierung nicht mehr nötig. Lediglich die Wundheilung funktioniert noch, wenn wir den Vorgang rechtzeitig beenden.«

Melissa fröstelte unwillkürlich, während sie an den Mann von ihrem Unfall denken musste. Dieser würde nichts über den Vampirüberfall erzählen – weil er tot war.

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