39

»Ich habe noch eine Idee, wie du dich prima in Lebensgefahr begeben kannst.«

Melissa, die während der Fahrt  bei gefühlten dreißig Grad Innenraumtemperatur ein wenig aufgetaut war, zog skeptisch eine Augenbraue nach oben.

»Du könntest, so wie du bist, zu Tara gehen und ihr erklären, dass du an diesem kalten Herbsttag in Klamotten Baden warst. Ich bin mir ziemlich sicher, sie würde dich für diesen Irrsinn umbringen.«

Melissa schnaufte abschätzig aus. »Da könntest du Recht haben. Aber wo soll denn da die Rettungsaktion bleiben? Gegen Taras Todesblick hast du keine Chance.«

Sie hatte genug Zeit bei der Vampirfamilie verbracht, um zu begreifen, wer das Sagen im Haus hatte. Und das war nicht unbedingt Nicolas.

Dieser lachte laut auf bei Melissas Worten. »Das ist gut möglich. Na, dann wollen wir dich nicht in Gefahr bringen. Besser ich schmuggel dich auf direktem Weg zurück zur Gartenhütte.«

Leise stiegen sie aus dem Wagen und schlichen wortlos durch die Dämmerung zu Melissas Behausung.
Tatsächlich lag ihr einiges daran, dass Tara ihre Ankunft nicht mitbekam und sie hoffte, dass ihre Vampirohren nicht durch Wände lauschen konnten. Es gab so einiges, das sie nicht hätte erklären können – angefangen bei ihrem merkwürdigen Aufzug in nasser Unterwäsche, nur bedeckt von Nicolas' Mantel. Das könnte zu unangenehmen Fragen führen.

Vorsichtig öffnete sie die unverschlossene Hütte und betrat das Zimmer.

Als sie sich umdrehte, um Nicolas zu verabschieden, stand dieser nicht mehr im Türrahmen. Irritiert zog sie die Brauen zusammen und schloss schließlich schulterzuckend die Eingangstür, um sich dann wieder dem Raum zuzuwenden.

Sie zuckte heftig zusammen. Ungerührt fläzte Nicolas in ihrem Sessel.

»Kannst du BITTE damit aufhören?«, fuhr sie ihn an.

»Mit Sitzen?«

»Damit, plötzlich an Orten aufzutauchen, wo du für menschliche Augen nicht sichtbar hingegangen bist ... ach, egal. Was willst du hier noch?«

»Du hast noch meinen Mantel.«

»Ja und?«

»Ich will ihn wiederhaben.«

Ungläubig starrte sie ihn an. »Ich ziehe ihn bestimmt nicht aus, solange du hier bist.« Demonstrativ setzte sie sich auf einen der Stühle. Sie konnte warten. Wenn es sein musste auch in nasser Unterwäsche.

Er grinste sie an. Melissa verengte die Augen.

Nachdem sie sich kurze Zeit herausfordernd angestarrt hatten, ergriff Nicolas das Wort. »Da ist noch eine andere Sache.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Du musst mir versprechen, dass sowas wie auf der Klippe nie wieder passieren wird.«

»Es hätte klappen können ...«, brach es aus Melissa abwehrend hervor. Sie hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, weil er sich aufgrund ihrer Aktion eine nicht unerhebliche Verletzung zugezogen hatte. Auch, wenn davon jetzt natürlich nichts mehr zu sehen war.

»Um ein Haar wäre es schief gegangen.«

Verlegen betrachtete Melissa den blutgetränkten Mantelärmel. Leise murmelte sie: »Woher wissen wir, ob nicht doch noch etwas geklappt hat?«

Düster betrachtete er sie. »Du willst ganz sicher sein?«

Sie nickte.

Mit einer schnellen Bewegung beugte er sich vor und griff nach ihrem – seinem Mantel. Bevor Melissa überhaupt eine Chance hatte zu reagieren, steckte seine Hand in der Tasche des Kleidungsstücks und Nicolas zog das bereits bekannte Klappmesser hervor. Oh nein, nicht schon wieder!

Bevor sie Einspruch erheben konnte, hatte Nicolas sich einen kleinen Schnitt an der rechten Daumenkuppe zugefügt. Er legte das Messer auf den Tisch neben Melissa und sah sie fragend an. Diese betrachtete ihren eigenen Daumen. Ein unübersehbarer roter Strich zog sich über dessen Kuppe. Sie stöhnte gequält auf.

»Da hast du deine Antwort.« Nicolas Schnitt hatte bereits aufgehört zu bluten. Die wenigen Blutstropfen, die ausgetreten waren, leckte er sich langsam und genüsslich mit der Zunge vom Daumen. Dabei ließ sein Blick nicht von ihr ab. Melissa verdrehte die Augen. Wie konnte ein einzelnes Wesen so provokant sein.

Es war nicht auszuhalten. Es musste doch irgendwie möglich sein, diesen Zauber zu vollenden. Wenn sie es nicht bald schafften, würde dieser Mann ihr noch zum Verhängnis werden. Aus dem Augenwinkel erblickte sie das aufgeklappte Messer. Sie konnte nicht anders, sie musste einen weiteren Versuch wagen.

Ohne den Blick dem Messer zuzuwenden, griff sie nach der Klinge und presste es mit einer schnellen Bewegung an ihre eigene Kehle. Keinen Wimpernschlag später packte Nicolas ihre Hand, und sein schraubstockartiger Griff machte es ihr unmöglich, das Messer zu bewegen. Zu ihr hinabgebeugt stand er vor ihr.

»Was hast du vor?«, knurrte er dunkel.

»Allerletzter Versuch. Ich schneide mir die Kehle auf und du rufst den Notarzt ... oder so.« Melissa schluckte, was ihr schwerfiel, da die Klinge noch immer gegen ihren Hals drückte und sie keine Chance hatte, dessen Position zu verändern.
Verdammt, Drama konnte sie.

Was sollte er denn unternehmen, wenn sie blutend am Boden lag? Vampire waren eher nicht dafür berüchtigt, professionell Blutungen zu stillen. Hatte sie etwa vergessen, wie dieser Mann sich ernährte, als ihr der Impuls mit dem Messer gekommen war?
Andererseits wollte sie sich auf keinem Fall eine Blöße geben.
Mit einer finsteren Entschlossenheit starrte sie Nicolas an.

»Das wirst du nicht tun.« Sein bedrohliches Knurren klang so rau, als würde ein Reibeisen über Melissas Körper hinwegfahren und eine Gänsehaut breitete sich über diesen aus. Aber trotz dieser warmen Hand, die fest um ihr Handgelenk geschlungen war und ihr jede Bewegung der Klinge unmöglich machte, war sie nicht bereit aufzugeben.

»Weil du mich davor rettest?« Aus Augen, die kaum mehr als schmale Schlitze waren, fixierte sie jetzt Nicolas. Ihre Gesichter waren nun so nah beieinander, dass ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten. Sein Atem streifte ihre Wangen. Nur das Messer mit ihrer beiden Händen auf dem Griff schwebte zwischen ihnen.

»Weil es nicht klappen wird. Du müsstest es schon ernst meinen.«

»Du vertraust also darauf, dass ich keine solchen Dummheiten mache?« Würde sie? Sie war sich nicht sicher. Aber eine kleine Stimme in ihr schrie sie an, dass sie nur bluffte, dass sie ihn ihrerseits aus der Reserve locken wollte. Wie weit würde er gehen? Wie weit würde er sie gehen lassen?

Noch immer presste sie die Klinge in Richtung ihres Halses. Einzig Nicolas' Gegendruck bewahrte sie davor, sich selbst zu erstechen. Ein unvermutetes Loslassen seinerseits, würde ein Blutbad auslösen. Melissa hatte keinen Zweifel daran, dass das nicht passieren würde.

»Nein.«

»Warum lässt du es uns dann nicht probieren?« Ihre Stimme klang gepresst vom Druck auf ihren Kehlkopf.

»Ich würde nicht zulassen, dass du dich ernsthaft in Gefahr begibst.« Warum entwaffnete er sie nicht? Es wäre ein leichtes für ihn, ihr die Klinge zu entreißen.

»Das mit der Klippe WAR gefährlich.«

»Ja. Und sehr dumm. Und du hast mir noch immer nicht versprochen, dass du so eine Scheiße nie wieder tust.«
Er wollte, dass sie das Messer selbst weglegte! Wie hatte er vor, sie davon zu überzeugen?

»Warum sollte ich? Dann hätten wir keine Chance mehr, den Zauber zu lösen.«

Nicolas beugte sich noch weiter zu ihr vor, seine Augen und Lippen waren nun direkt vor den ihren. Sie konnte seinen dunklen, warmen Geruch wahrnehmen, seine Hand, die unnachgiebig um ihre geschlungen war. Nicolas' Atmung beschleunigte sich.

»Lieber bin ich an dich gebunden, als zu riskieren, dich zu verlieren.«

»Was?« Melissa riss die Augen auf. Seit ihrer ersten Begegnung war es einzig darum gegangen, ihre Verbindung zu lösen. – Und jetzt ...

»Versprich es!« Wie ein Donnerschlag erklang sein Befehl. Melissa zuckte zusammen. Alles in ihr erstarrte.

Er wollte sie nicht verlieren.

Er wollte sie nicht verlieren.

Erneut versuchte sie zu schlucken, es gelang ihr nicht. Es war wenig mehr als ein Krächzen, das ihre Kehle verließ: »Ich werde mich nie wieder absichtsvoll in Lebensgefahr begeben.« Ihre Augen waren riesengroß, ihre Blicke verschmolzen miteinander, untrennbar miteinander verbunden. »Zufrieden?«

»Ja«, raunte Nicolas.
Seine freie Hand legte sich in ihren Nacken und seine Finger fuhren langsam ihren Haaransatz hinauf. Ein Schauer breite sich durch ihren Körper. Sanft, fast zögerlich, hielt er ihren Kopf, wie eine unausgesprochene Frage, als wolle er ihr die Möglichkeit der Gegenwehr geben. Sie wehrte sich nicht.

»Du würdest mich vor allem und jeden beschützen, oder?«, keuchte sie.

»Ja ... fast.«

»Fast?«

Seine Finger glitten nach vorne, ihre Wange entlang, streiften über ihre Lippen, hinterließen eine Spur aus heißem Feuer.
Wie konnte es etwas so Prickelndes geben, wie diese Fingerkuppen? Melissa stieß einen Laut aus, der kaum einer war, eine Mischung aus Hauchen und Seufzen.

»Ich bin der Einzige, vor dem ich dich nicht beschützen kann.«

Ihre Augen schlossen sich ungefragt. Sie wollte nicht vor ihm beschützt werden, vor seiner Nähe, seinen Händen auf ihrer Haut. Nicht vor dem Risiko. Wenn sich schon diese Fingerspitzen so verdammt heiß anfühlten, wie würden dann seine ...

Sie zog heftig die Luft ein, als Nicolas die letzte kleine Lücke zwischen ihren Lippen überwand und sein Mund den ihren fand. Sie würde verbrennen. – Auf eine gute Art – eine ausgezeichnete Art! Sie würde in heißen Schauern versinken, verglühen, schmelzen und jede einzelne Sekunde davon genießen. Aber sie würde verbrennen.

Was tat sie hier? Das hier war Nicolas, der sie küsste. Ausgerechnet Nicolas! Hatte sie den Verstand verloren? Ihr Körper stand in Flammen. Sie sollte aufhören. – Jetzt!

Nein! Sie wollte nicht aufhören. Sie wollte diese Lippen schmecken und nie wieder damit aufhören. Sie presste ihre Lippen gegen seine, fester, härter, sie wollte mehr. Sie wollte Nicolas. Ausgerechnet Nicolas.

Sollte sie jemals anderer Meinung gewesen sein, ihr Körper war es nicht.

Nicolas stöhnte überrascht auf, legte ihr die Hand wieder in den Nacken und drückte sie fester an sich. Sie zog seine Unterlippe zwischen ihre Zähne, knabberte daran. Es war das Köstlichste, das sie jemals probiert hatte und einmalig warm und weich und gleichzeitig so fest. Seine Zunge glitt über ihre eigene Lippe und über diese hinweg, in ihren Mund. Ein elektrisierendes Vibrieren jagte durch ihren Körper, bis in ihre Mitte. Sie stöhnte auf, woraufhin Nicolas ein tiefes Knurren entwich, dass nur weitere Wogen in ihre Körpermitte schickte.

Verdammt, wie konnte er solche Gefühle in ihr auslösen, alleine durch ein Geräusch?

Ein Druck löste sich von ihrem Hals. Das Messer – sie hatte es völlig vergessen!

Sie öffnete die Augen und erblickte riesige dunkle Pupillen, tiefgrün umrandet, unter schläfrigen Augenlidern und langen schwarze Wimpern. Nicolas führte ihre Hand über den Tisch, sie ließ die Klinge fallen. Klirrend schlug diese auf den Tisch auf, aber keiner von ihnen schenke ihr Beachtung. Sie schloss ihre Augen erneut.

Er ließ ihr Handgelenk los und legte seine Hand auf den Stoff des Mantels über ihre Rückenmitte, zog sie zu sich hoch, presste sie an sich, ohne dass seine Lippen den Kontakt zu den ihren verloren, seinen Kopf tief zu ihr hinabgebeugt. Sie konnte spüren, wie sein Brustkorb sich schwer hob und senkte, im Gleichklang mit ihrem Atem. Ihre Hände wanderten um seinen Körper, schoben sich von seiner harten Brust bis zu seinem Rücken, tasteten, wollten fühlen, kennenlernen, kletterten hoch bis zu seinen Haaren und wühlten sich in diese. Sie würde nie wieder loslassen.

Sie war geschmolzen. Die Zeit war geschmolzen. Was sich jetzt schon anfühlte, wie eine Ewigkeit, waren in Wahrheit vermutlich nur wenige Sekunden. Ihr Körper war geschmolzen. Er konnte sie formen, wie immer er wollte. Sie würde seinem Körper folgen, sich ihm anpassen, anschmiegen, wie angegossen. War es das, was man meinte, wenn man davon sprach, Wachs in jemandes Händen zu sein?

Nicolas löste seinen Mund von ihrem, legte seine Hände auf ihre Oberarme und schob sie ein Stück von sich.

Fassungslos öffnete sie die Augen. Nein. Nicht aufhören! Sie brauchte seine Nähe, seine Berührung. Sie würde ohne diese nie wieder atmen können. Warum tat er das? Hatte er es sich anders überlegt?

Nicolas legte warnend einen Zeigefinger auf seine Lippen. Melissa runzelte verwirrt die Stirn.

»Du bekommst Besuch.«

Verwirrt suchten ihre Augen seinen Blick. Ihr Gehirn schaffte den Sprung zurück in die Realität nicht.

»Möchtest du, dass man mich hier entdeckt?« Ein kaum wahrnehmbares Grinsen lag auf seinen geröteten Lippen. »Es gibt sehr neugierige Leute drüben im Haus. Aber vielleicht freut es dich auch, wenn du etwas zu erzählen hast ...«

»Was? ... Ja. ...Nein!« Oh Gott! Sie hatte Adam versprochen beim Zubereiten des Abendessens zu helfen. Ein Blick durch den unverschlossenen Vorhang am Fenster verriet ihr, dass es bereits dämmerte. Würde Adam nachsehen, ob sie hier war? Nicolas bloße Anwesenheit würde zu unerwünschten Fragen führen. Sie konnte jetzt niemanden Rede und Antwort stehen. Sie konnte sich nicht einmal selbst Rede und Antwort stehen. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier tat – nur dass sie es unbedingt weitertun wollte.

Hilfesuchend blickte sie Nicolas an.

»Bis bald«, hauchte dieser in ihr Ohr und war verschwunden, so lautlos, wie es nur einem Vampir möglich war. Die Hüttentür hatte er einen Spalt offengelassen.

Nicolas' Umarmung fehlte ihr schon jetzt. Doch bevor sie lange darüber nachdenken konnte, wurde ihr bewusst, dass sie noch immer in Unterwäsche und Mantel gekleidet war! Hektisch stürzte sie zum Kleiderschrank, kramte wahllos ein komplettes Outfit heraus und stürmte in das winzige Badezimmer, dessen Tür sie hinter sich zuschlug. Mit zusammengepressten Lippen, um nicht laut zu Fluchen, begann sie sich anzuziehen, wobei sie mehrfach mit Knien und Ellbogen gegen die viel zu nahen Holzwände stieß. Sie hörte Schritte durch das schmale Fenster um die Hütte herumgehen, während sie trockene Unterwäsche anzog. Dann streifte sie ein rotes T-Shirt über.

Es klopfte. Schnell griff sie nach der Hose.

»Melissa? Bist du hier?«, erklang Adams Stimme. Eine Höflichkeitsfrage, er musste sie scheppern hören. Sogar ein Mensch hätte jetzt ihr lautstarkes Ankleide-Unternehmen durch die geöffnete Tür vernommen.

»Bin gleich da, ich zieh mich nur um«, rief sie ein paar Töne zu hoch zurück.

Sie schlüpfte in die braune Hose – ehrlich? Rotes T-Shirt und braune Hose? Hoffentlich hatte Adam kein Gefühl für Stil – und löste schnell ihr Haarband von ihren noch feuchten Haaren, um es für einen deutlich ordentlicheren Zopf gleich wieder zu verwenden.
Dreimal tief ein- und ausatmen. Dann betrat sie das Zimmer.
Adam stand noch immer in der geöffneten Tür und schaute sie fragend an.

»Alles gut bei dir? Hab ich dich bei etwas gestört?«

»Nein, alles prima. Ich hab nur nicht mitbekommen, dass es schon so spät ist. Tut mir leid, wenn ich dich warten gelassen habe.«

Adam legte den Kopf schief. »Warum steht denn die Tür offen?«

»Ach, hier war irgendwie eine Maus reingelaufen. Und ich dachte, wenn ich lange genug warte, dann findet sie den Weg nach draußen schon alleine.« Na bitte! Wenigstens ein Talent hatte sie.

Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete Adam sie aufmerksam – und sagte nichts.

Melissa schlüpfte in ihre Stiefel und eilte rüber zum Haus. »Komm schon, Adam! Jetzt wo du mich ans Essen erinnert hast, hab ich richtig Hunger.«

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