35
Im Schneidersitz saß Melissa auf dem flauschigen Teppich der Gartenhütte, neben ihr stand eine große Schüssel mit Keksen, aus der sie sich hin und wieder bediente. Draußen pfiff der Herbstwind, aber drinnen war es gemütlich warm. Die Nase hatte Melissa tief in eines der Bücher aus dem Regal gesteckt. Sie genoss die heimelige Atmosphäre, welche die Hütte ihr mittlerweile bot und war Tara dankbar für die gelungene Einrichtung.
Als es zaghaft an der Tür klopfte, schaute sie kaum auf. »Komm herein, Amia!«
Schnell beendete sie den Absatz, doch als sie den Kopf hob, stand in der Tür nicht das kleine Mädchen, sondern Lia, die sie breit anlächelte. Ihre Frisur war zerzaust und ein rötliches Blatt steckte ihr in den Haaren. Melissa sprang auf und fiel ihr um den Hals. »Oh, was für eine tolle Überraschung! Ich wusste gar nicht, dass du heute herkommst.«
»Na klar doch, ich habe den Nachmittag frei und die Nase voll von der Lernerei. Und da dachte ich, du würdest mir helfen, mal wieder auf andere Gedanken zu kommen. Ich kann keine Bücher mehr sehen.«
»Bei mir ist genau das Gegenteil der Fall, ich wüsste gar nicht, was ich machen sollte, wenn ich nichts zu lesen hätte.« Melissa ließ den Blick durch das Zimmer streifen, in dem mehrere aufgeschlagene Bücher herumlagen. »Ich freue mich, dich zu sehen! Komm rein.«
»Na, es steht immer noch das Angebot, dass du bei Josephina einziehen kannst.« Lia zog Schuhe und Jacke aus und betrat das Zimmer. »Dann würden wir uns deutlich häufiger sehen. Falls es dir mal zu viel wird mit zwei Vampiren im Haus ...«
Melissa wollte schon nachfragen, warum nur zwei - selbst wenn Nicolas sich nicht blicken ließ, gehörte er doch dazu - als ihr einfiel, dass Lia nichts von Adams Vampirnatur wusste. Was sie davon halten würde? Andererseits hatte Lia das mit Nicolas und Tara ziemlich cool aufgenommen.
»Das ist schon okay so. Ob Vampir oder Mensch, es kommt doch drauf an, wie man als Person ist.« Melissa ließ sich wieder auf den Teppich nieder und bedeutete Lia, es ihr gleich zu tun.
»Nun«, sagte Lia, während sie es sich neben Melissa bequem machte, »ich kann nicht viel zu Tara sagen, ich kenne sie kaum, aber für Nicolas spricht diese Feststellung wenig. Er wäre selbst als Mensch ziemlich ätzend, oder? Ein arroganter Typ.«
»Ähh...« Melissa schoss die Röte ins Gesicht und hoffte inständig, Lia würde es nicht bemerken. Sie hatte keine Lust, darüber zu reden, was sie über Nicolas dachte. Im Gegenteil, sie hatte die letzten Tage angestrengt versucht, jeden Gedanken zu diesem Thema zu verdrängen. Was ihr kaum gelungen war.
»Aber ich kann dich verstehen, dass du gerne hierbleiben möchtest.«
»Kannst du?«, fragte Melissa erschrocken.
»Na klar.« Lia zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Wenn ich so viel Zeit mit Adam verbringen könnte, würde ich auch nicht nein sagen. Er ist doch ein echter Blickfang. So süß und charmant, wer könnte da widerstehen?« Ein verschwörerisches Grinsen breitete sich auf Lias Gesicht aus.
Melissa war erleichter. Lia hatte keine Ahnung von ihren Gedanken zu Nicolas. »Hey! So ist das nicht. Wir sind nur Freunde!«
»Ja, klar. Aber er mag dich. Das ist unbestreitbar. Er lässt dich bei sich wohnen!!! Hast du gar kein Interesse? Ich würde ihn mir sofort schnappen, wenn ich könnte.«
»Hmmm ...« Melissa zog die Augenbrauen hoch. »Hast du das Marlon auch so erzählt?«
»Ach komm, sei nicht so spießig. Du weißt genau, wie ich das meine.« Lia hob abwehrend eine Hand. »Marlon vertraut mir, keine Sorge. Obwohl ... er lädt Adam nie zu sich nach Hause ein, wo ich ja meistens auch bin.« Lias strich sich nachdenklich übers Kinn. »Meinst du, er hat Bedenken? - Ich guck doch nur gerne. Adam ist schrecklich niedlich. - Aber ich weiß, was ich an Marlon habe.«
Nachdem Melissa selbst erlebt hatte, wie Josephina auf die Vampire reagierte, verstand sie, warum die beiden jungen Männer es vorzogen, ihre Treffen außerhalb von Marlons Heim stattfinden zu lassen. Aber davon konnte sie Lia nichts erzählen.
Und mit dem Rest hatte ihre Freundin vermutlich recht. Adam war außergewöhnlich attraktiv. Immerhin war er ein Vampir. Aber Melissa bezweifelte, dass er als Mensch viel unansehnlicher gewesen war. Ob sie dafür ein Auge hätte, wenn sie nicht die ganze Zeit damit beschäftigt wäre, nicht an Nicolas zu denken?
Auf jeden Fall konnte Melissa ihrer Freundin diese kleinen Anspielungen nicht übel nehmen. Sie wusste, dass Lia und Marlon ein glückliches Paar waren und diese beiden verband soviel. Ihre Beziehung war sicher nicht in Gefahr, nur weil Lia nicht komplett blind war für Adams übernatürliche Ausstrahlung.
»Ich glaube, Adam und Josephina verstehen sich nicht sonderlich. Hat vermutlich nichts mit dir zu tun. - Wie geht es Marlon mittlerweile, ist er wieder fit?«
Lia senkte den Kopf. »Nein, er ist immer noch so kraftlos. Ich kann überhaupt nicht verstehen, was mit ihm los ist. Wir können kaum noch zusammen seine Fähigkeiten trainieren. Ich sag das nicht gerne, aber ich mache mir ernsthafte Sorgen.« Ihre Unterlippe bebte bei diesen Worten.
Bestürzt sah Melissa Lia an. Wie hatte sie auch nur eine Sekunde glauben können, Lia stände nicht völlig hinter Marlon. Sie waren ein so süßes Paar und jetzt, wo es Marlon nicht gut ging, litt Lia mit ihrem Freund. Melissa beneidetet ein wenig die Verbindung, die die beiden hatten.
Intuitiv nahm Melissa Lia in den Arm. »Das wird schon wieder. Du wirst sehen. Manchmal braucht man nur etwas länger, um sich zu erholen. Das ist bestimmt normal.« Melissa hoffte, dass sie Recht mit ihren Worten hatte und war sich nicht sicher, wen sie mehr beruhigen wollte, Lia, oder sich selbst.
»Ja, vermutlich.« Lia atmete tief ein und wischte sich schnell über die Augen. Dann fing sie abrupt wieder an zu Grinsen. »Und, schnappst du dir Adam noch? Jemand muss ihn doch davor schützen, dass er einsam versauert und ausnahmslos für seine Schwester da ist, bis seine Jugend Vergangenheit ist. Was wäre das für eine Verschwendung!«
Melissa lachte laut auf. »Ich denke, da hat er auch noch ein Wort mitzureden. - Und ich bin dafür absolut die Falsche. Mir steht nicht der Sinn nach einer Beziehung. Zu enge Bindungen führen nur zu Enttäuschungen und mein Leben ist so schon kompliziert genug.« Lia öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Melissa wollte dieses Thema nicht weiter vertiefen. »Adam wird sicher jemanden finden, der besser zu ihm passt. Und seine Jugend hält bestimmt noch einige Zeit an.«
Lias Mund schloss sich wieder und sie verharrte einen Moment, aber schließlich schien sie es dabei belassen zu wollen. »In Ordnung. Ich werde dir mit Adam nicht länger auf den Wecker fallen. Was hast du ...«
Es klopfte wieder an der Tür und diese öffnete sich ohne Aufforderung, bevor Lia zu Ende reden konnte. Amia trat in den Raum, mit Papier und Stiften ausgestattet. »Du wolltest heute ein Bild mit mir malen, Melissa.«
»Ja, das stimmt. Glaubst du, wir können das später machen, Süße?«
»Ja, klar«, antwortete das Mädchen. Ungewohnt zurückhaltend sah sie sich um. »Darf ich trotzdem kurz reinkommen? Ich sehe Lia so selten.«
»Natürlich.« Melissa hoffte, dass Lia sich von dem Kind nicht gestört fühlte, doch sie wollte Amia nicht abweisen.
Das Mädchen ließ sich nicht lange bitten, legte ihre Malutensilien auf den Tisch und setzte sich zu den beiden jungen Frauen auf den Fußboden. Zu Melissas Überraschung schmiegte sie sich fast augenblicklich an Lia. »Darf ich dir was zeigen?«
Lia zog die Augenbrauen hoch, lächelte das Kind jedoch freundlich an. »Ja, klar, was ist es denn?«
Umständlich kramte Amia in ihrer Hosentasche, bis sie gefunden hatte, was sie suchte und zog schließlich triumphierend den Bernstein hervor, den sie am Strand entdeckt hatte. »Ich habe jetzt auch so einen schönen Stein wie du. Gefällt er dir?«
Lias Augen weiteten sich. »Der ist wahnsinnig toll! Wo hast du denn so einen Schatz her?«
»Der hat auf mich gewartet, zwischen Kieselsteinen und Muscheln, bis ich ihn endlich abgeholt habe.« Amia hielt ihren Stein fest in der einen Hand, während sie mit der anderen versuchte, Lias Halsschmuck zu befühlen. Zunächst wirkte es, als wolle Lia der Kinderhand ausweichen, aber dann ließ sie es doch zu.
»Meinst du, ich kann auch so eine hübsche Kette basteln, wie du eine hast?«, fragte Amia.
»Ja, klar. Soll ich dir bald einmal zeigen, wie es geht?«
Amia sprang vergnügt auf. »Oh ja. Bald! Ein wenig mag ich den Stein noch so haben, wie er jetzt ist.«
»Darf ich ihn anfassen?«, fragte Lia.
Doch das Mädchen stand längst wieder bei der Tür und zog sich die Schuhe an. »Ich glaube, Adam hat mich gerufen. Ein anderes Mal, ich muss los. Tschüss!«, und schon war sie zur Tür herausgesprungen, die mit einem Klacken ins Schloss fiel.
Die beiden Frauen sahen sich verdutzt an und prusteten plötzlich los. »Was war das denn?«, fragte Lia.
»Das war Amia. Ein echter Wildfang und absolut einmalig.« Melissas Mundwinkel zuckten belustigt.
Sie hatte Nicolas Worte darüber, wie wählerisch Amia mit ihrer Zuneigung umging, nicht vergessen. Sie vertraute mittlerweile selbst auf die empathischen Fähigkeiten des Kindes. Klammheimlich lächelte Melissa in sich hinein. Offenbar konnte sie Lia vollkommen vertrauen.
Lia nahm sich gedankenverloren eines der herumliegenden Bücher und blätterte darin. Erst jetzt fiel Melissa auf, dass drei ihrer Finger mit Pflaster umwickelt waren. Belustigt fragte sie: »Na, welchen Kuchen gab es denn diesmal.«
Schnell versteckte Lia ihre lädierte Hand hinter dem Buchrücken. »Oh, das ist so peinlich. Ich kann nicht einmal Muffins machen, ohne etwas Heißes anzufassen. Du musst denken, ich bin ein echter Idiot.«
Jetzt taten Melissa ihre Worte leid, sie wollte ihre Freundin nicht in Verlegenheit bringen. Ihrer Meinung nach war Lia alles andere als ein Idiot und ihre Ungeschicklichkeit machte sie nur umso sympathischer.
»Ich denke, dass du das machst, was dir Spaß macht. Das ist eine tolle Eigenschaft.« Melissa nahm sich vor, Topfhandschuhe als ein Geschenk für Lia zu besorgen.
»Mir fällt hier manchmal fast die Decke auf den Kopf und ich fühle mich total nutzlos. Ich wünschte, ich hätte etwas, dass mir soviel Freude macht.« Diese Worte kamen selbst für Melissa unerwartet.
Lia zupfte an einer Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, und sah sie nachdenklich an.
»Du hast vermutlich recht, du solltest eine Aufgabe haben. Irgendwas Sinnvolles ... wie hat es dir in dem Café gefallen, in dem wir zusammen gefrühstückt haben? Erinnerst du dich?«
Und ob Melissa sich erinnerte. Der Laden war bezaubernd gewesen. Zu gerne würde sie diesem einen zweiten Besuch abstatten.
»Oh, das ist eine fabelhafte Idee. Diesmal lade ich dich ein. Ich hoffe, du hast Hunger.« Sie sprang direkt auf und konnte es kaum abwarten, aufzubrechen. Sie musste dringend wieder etwas rauskommen. So nett Tara und Adam waren, und Amia hatte sie vollkommen ins Herz geschlossen, aber hin und wieder musste sie auch andere Menschen sehen.
»Das ist lieb. Aber ich meinte das noch etwas anders.«
Melissa zog fragend die Augenbrauen hoch.
»In dem Laden hing ein Schild aus, dass sie eine Aushilfe suchen. Wäre das nicht ein Ort, an dem du dich wohl fühlen könntest? Kannst du dir vorstellen, dort zu arbeiten?«
»Ob ich mir das vorstellen könnte? Warum hast du das nicht gleich gesagt, als wir dort waren?« Melissa hatte einige Erfahrung als Bedienung und die Aussicht darauf, wieder eine richtige Aufgabe zu haben, fühlte sich erstaunlich erleichternd an. Immerhin hatte sie keine Ahnung, wie lange sie noch bei Adam wohnen bleiben würde. - Und es würde sie von den Gedanken an Nicolas ablenken.
»Können wir gleich los? Hoffentlich hat sich noch keiner gemeldet.«
Lachend erhob Lia sich. »Na dann, auf die Räder!«
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