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Die nächsten Tage flossen so dahin und Melissa lernte mehr über den Alltag dieser sonderbaren Gemeinschaft aus Menschen und Vampiren kennen. Tatsächlich verließ Amia regelmäßig morgens das Haus zusammen mit Adam, der sie zur Schule brachte. Melissa hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass Kinder ja auch zur Schule gehen. So etwas gewöhnliches schien zu diesem außergewöhnlichen Mädchen nicht zu passen.

Die Mahlzeiten nahmen sie meist zusammen am großen Esstisch ein und Melissa half bei der Zubereitung wie selbstverständlich mit. Nicolas jedoch ließ sich nicht blicken. Überhaupt schien er sich nicht weiter im Haus aufzuhalten, zumindest lief Melissa ihm kein einziges Mal über den Weg.

Ansonsten las Melissa ausgiebig in ihrer kleinen, aber mittlerweile unbestritten feinen Behausung im Gartenhaus. Hin und wieder kam Amia sie besuchen und oft malten sie mit Begeisterung etwas zusammen. Melissa genoss die Ruhe nach der vielen Aufregung und kam nicht umhin, sich immer heimischer zu fühlen. So gut es ging, versuchte sie den Gedanken zu verdrängen, dass es nicht ewig so weiterlaufen könnte. Sie fühlte sich so aufgehoben, eine fast vergessene Empfindung. Es fühlte sich an wie eine Familie.

Selbst Lia besuchte Melissa zweimal in ihrer Gartenhütte. Bei einem Tee saßen die beiden dann am kleinen Tisch und tauschten sich über verschiedene Themen aus, meist belanglose, aber gelegentlich wurde ihr Gespräch auch tiefgründiger. So gelang es Melissa, Andeutungen zu machen, dass es in ihrer Familie ernste Probleme gab, ohne ins Detail zu gehen. Lia erzählte im Gegenzug von den Anforderungen in der Schule, da sie kurz vor dem Abschluss stand, von ihrer Tollpatschigkeit bei ihren Backversuchen und den daraus resultierenden Verbrennungen an ihren Fingern sowie ihrer Begeisterung für den Theaterkurs. Außerdem sorgte sie sich um Marlon, der tatsächlich erkrankt war und sich nicht richtig erholte. Melissa teilte Lias Sorgen, hatte aber keine Lösung parat. Sie hoffte, er würde nur etwas länger als gewöhnlich brauchen, um zu gesunden.

Die beiden jungen Frauen lernten sich immer besser kennen und Melissa freute sich, eine Freundin gefunden zu haben.

In einem vertrauten Moment offenbarte Melissa Lia, was sie über die weiteren magischen Verstrickungen des Zaubers herausgefunden hatte, ohne zu erwähnen, wie diese Entdeckung im Detail stattgefunden hatte.

Lia war entsetzt darüber, dass eine Verletzung, die Nicolas erlitt, ebenfalls bei Melissa auftrat, beruhigte sich aber schnell, als Melissa sie erinnerte, dass er als Vampir übernatürlich robust war und wenig Gefahr von dieser Seite drohte. Dennoch empfahl Lia Melissa dringend, dieses Thema genauer mit Josephina zu besprechen. Daran hatte Melissa selbst schon gedacht und durch die Aufforderung ihrer Freundin ermutigt, entschloss sie sich eines Abends, die Nummer der alten Dame auf ihrem Handy zu wählen.

Das Freizeichen ertönte mit einem lauten Krachen, zunächst einmal, dann ein zweites und drittes Mal. Nach dem achten Klingeln war Melissa gerade dabei, aufzulegen, als es in der Leitung knackte und kurz darauf hörte sie Josephinas raue Stimme. »Melissa! Ich freue mich, von dir zu hören. Ich hatte schon Sorge, der alte Vampir hätte dich gefressen. Behandeln sie dich anständig?«

Melissa blinzelte ein paar Mal verwirrt, ehe sie antwortete. »Ja, alles bestens. Es geht mir gut hier. Alle sind freundlich.«

»Und keiner hat an dir rumgeknabbert?«

»Nein, es ist wirklich okay. Ich bin gerne hier.« Melissa schwieg einen Moment. »Du tust Tara und Adam unrecht. Sie sind immer für mich da.«

»Das ist schwer zu glauben. Aber wenn du das sagst, dann bleibt mir offensichtlich keine andere Wahl. Aber glaube nicht, dass ich sie jetzt besser leiden könnte. Was ist mit dem Großen? Den mit dem dunklen Haaren? Ist es mit ihm auszuhalten?«

Melissa schluckte. Was sollte sie sagen? Das sie selbst oft nicht wusste, was sie denken sollte? Dass sie sich meist viel zu giftig Nicolas gegenüber verhielt? Oder dass sie sich wiederholt näher gekommen sind, als es gut für sie war und er einen Mann getötet hatte, der sich ihr aufgedrängt hatte? Dass Nicolas ihr seit Tagen nicht unter die Augen gekommen war? Aber sicher würde sie nicht preisgeben, dass sie ihn schmerzlich vermisste und jedes Mal, wenn sie den Wohnraum betrat, hoffte, er würde sich in dem Moment dort aufhalten. Und jedes Mal breitete sich eine kalte Enttäuschung in ihren Inneren aus.

»Ja, Nicolas lässt mich in Frieden. Ich habe ihn kaum gesehen.«

»Na, hoffentlich stimmt das.« Josephina klang skeptisch. »Aber was wir ebenfalls nicht vergessen dürfen: Habt ihr mittlerweile etwas herausgefunden? Seit ihr weiter gekommen oder habt ihr neue Ideen, wie der Zauber vollendet werden könnte?«

»Da ist tatsächlich etwas, über das ich mit dir sprechen wollte ...«

»Na los, dann erzähl! Spann mich nicht so auf die Folter!«

Melissa verstand selbst nicht, warum sie jetzt zögerte, aber plötzlich wollte sie nicht mehr so dringend hören, was Josephina zu dem Thema zu sagen hatte. Sie hatte Angst, es würde ihr missfallen.

»Wir haben da eine Entdeckung gemacht.« Kurz erklärte Melissa der alten Frau, was sie und Nicolas über ihre physischen Reaktionen bei Verletzungen des jeweils anderen herausgefunden hatten.

Dann war eine lange Stille in der Leitung und Melissa überlegte schon, ob die Verbindung vielleicht abgebrochen war, als sie endlich Josephinas Stimme vernahm, die merkwürdig belegt klang. »Wenn es so ist, wie du sagst, dann hat das noch eine andere Bedeutung ...«

Wieder Stille. Melissa hielt es fast nicht aus.

»In diesem Fall bedeutet es, dass, falls jemand von euch beiden ernsthaft verletzt wird - ich spreche hier nicht von kleinen Kratzern -, wenn einer von euch stirbt, wird es dem anderen genauso ergehen.«

Melissa glitt das Handy aus der Hand, welches scheppernd auf den Boden landete. Schnell hob sie es wieder auf. »Was hast du gesagt?« Sie hatte Josephina durchaus verstanden, aber sie konnte nicht glauben, was sie gehört hatte.

»Wenn einer von euch stirbt, dann stirb der andere ebenso. Im Prinzip ist das nicht einmal schlecht für dich. Vampire gelten gemeinhin als recht widerstandsfähig dem Sterben gegenüber, andersherum hat Nicolas einen verflucht guten Grund, die Finger von dir zu lassen.«

Melissa atmete scharf aus. Ihre Gedanken rasten. Die ganze Zeit, als sie davon überzeugt gewesen war, Nicolas wollte ihren Tod, hätte er ihr nichts antun können, ohne sich selbst zu schaden. Hatte er es gewusst? Geahnt? Rührte daher seine wahre Sorge um sie?

»Wir wissen nicht, wie der Zauber beendet werden kann.«

»Ach Kind.« Josephina seufzte. »Strengt euch doch ein wenig an. Es kann unmöglich so schwer sein, jemanden zu retten. Oder muss ich dich erst von einer Klippe schupsen, damit das was wird?«

Melissa stieß ein atemloses Lachen aus. »Bitte nicht! Ich denke nicht, dass das etwas bringen würde. Ich werde mir weitere Gedanken dazu machen. Jetzt bin ich erst einmal müde. Vielen Dank und gute Nacht.« Sie drückte das Gespräch schnell weg. Wenn Josephina wüsste ...

Melissa zog ein abgegriffenes Buch aus dem Regal, dass Amia ihr nach ihrem Ausflug ans Meer gebracht hatte. Auf dem Cover prangte der Titel Alice im Wunderland. Amia hatte darauf bestanden, dass sie das Buch aufbewahrte und immer dann aufschlüge, wenn sie von Ängsten oder Zweifeln geplagt werden würde.

Melissa hatte die Geschichte zwar schon einige Male in ihrer Kindheit gelesen, aber eine weitere Runde konnte nicht schaden. Vielleicht schaffte Alice es ja, ihren unaufhaltsam kreisenden Gedanken ein wenig Einhalt zu gebieten. Es war auf jeden Fall einen Versuch wert - besser als völlig die Nerven zu verlieren und am Ende schreiend durch den Wald zu irren.

Als sie den Buchdeckel anhob, fiel ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier entgegen. Hatte Amia etwas in dem Buch vergessen?

Voller Neugier nahm sie das Papier und öffnete es behutsam.

Irritiert zog sie die Augenbrauen zusammen. In ihren Händen lag die Buntstiftzeichnung, welche Amia von ihr und Nicolas und den anderen angefertigt hatte. Buntstift-Melissa, die Buntstift-Nicolas fest an den Händen hielt. Oder andersrum. Melissa seufzte tief und wünschte sich, sie könnte Amia bitten, einen kleinen Teil ihrer wunderbar positiven Sicht auf die Welt mit ihr zu teilen.

Dann faltete sie das Blatt wieder zusammen, steckte es zurück ins Buch und entschied sich für eine andere Lektüre.

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