32


Unten angekommen, wischte Melissa sich ein paar Mal über das Gesicht, bevor sie sich Amia näherte. Das Kind sollte nicht sehen, dass sie geweint hatte. Freudestrahlend flog dieses sogleich auf Melissa zu, einen Gegenstand in der Hand, der golden zu leuchten schien. »Schau, was ich gefunden habe! Ich musste richtig lange suchen, bis ich ihn endlich entdeckt habe.« Auf ihrer mit Sand und Meeresschaum überzogenen Hand hielt sie Melissa einen kinderfaustgroßen, durchsichtigen Stein direkt unter die Nase. Das Sonnenlicht brach sich in seinem gelbbraunen, glasklaren Inneren und erzeugte ein goldenes Funkeln.

Amia sah stolz auf ihr Fundstück, runzelte kurz die Stirn und zog ihre Hand von Melissa wieder fort. »Warte!«, sagte sie, rubbelte den Stein sorgfältig an ihrer Jacke sauber und hielt ihn Melissa erneut entgegen. Im späten Nachmittagslicht wirkte dieser fast wie ein mystischer Edelstein. »So, jetzt ist er perfekt.« Amias Gesicht strahlte genauso wie der Stein und ihre Sommersprossen schienen auf ihrer Nase zu tanzen. »Das ist heute mein bester Fund. Ich habe dir versprochen, ich zeige ihn dir.«

Vorsichtig nahm Melissa den Stein in ihre Hand, drehte ihn hin und her und betrachtete fasziniert das funkelnde Glühen. »Wow, das sieht toll aus. Ist das ein ...?«

»Ein Bernstein, ja!«, rief Amia begeistert. »Ich habe noch nie einen so großen gefunden.«

»Da hast du ja wirklich einen Glücksfund gemacht. Ich gratuliere dir.«

»Nein, kein Glück, meine Schwester hat mir gesagt, dass ich ihn hier irgendwo finden kann und dann habe ich so lange gesucht, bis ich ihn hatte.«

»Deine Schwester?« Überrascht riss Melissa die Augen auf. Hatte sie ernsthaft eine Schwester übersehen können? Nein, das war unmöglich. Wovon sprach das Kind?

»Ja ... nein, nicht wirklich. Wir bezeichnen uns nur gerne als Schwestern, weil wir uns so ähnlich sehen. In Wahrheit ist sie nur eine Freundin. Aber ich habe sie so lieb, wie eine Schwester. Und sie ist immer für mich da, hilft mir und passt auf mich auf. Sogar, wenn Adam es einmal nicht schafft.«

»Oh!« Melissa war noch immer zutiefst verwirrt und schaute sich ratlos nach allen Seiten um. »Und wo ist diese Schwester? Ich habe sie noch nie gesehen.«

»Nein«, gluckste Amia jetzt vergnügt, »das kannst du auch nicht. Keiner außer mir kann sie sehen.« Dann wurde das Kind ernster. »Eigentlich mag sie es nicht, wenn ich anderen von ihr erzähle. Ich war eben nur so aufgeregt gewesen wegen des Bernsteins und da ist es mir rausgerutscht. Erzähle niemanden davon, ja? Adam würde es bestimmt komisch finden. Und ich will nicht, dass er eifersüchtig wird!«

Melissa wusste nicht so recht mit dieser Information umzugehen. Amia hatte also eine imaginäre Freundin, jemand, der stets an ihrer Seite blieb und ihr das Gefühl von Sicherheit gab, selbst wenn sonst keiner bei ihr war. Langsam rieselte die Erkenntnis in Melissa hinein, zu welcher Zeit diese ausgedachte Schwester eine besonders wichtige Rolle in Amias Leben gespielt haben dürfte. Als ihr kleines Leben drohte völlig auseinanderzubrechen und selbst Adam ihr fast entglitten war, hatte sie sich in den Schutz einer imaginären Freundin gerettet. Melissa wünschte, sie wäre zu solch kreativen Problemlösungen fähig. Wieder einmal bestaunte Melissa die Fähigkeiten des Mädchens. Sie würde Amias Geheimnis für sich behalten - wie könnte sie auch anders.

»Ihr habt Glück, dass ihr nicht bis in die Nacht mit mir am Strand bleiben müsst.« Frech grinste Amia sie an.

»Du meinst, du wärest heute ohne einen Bernstein nicht wieder mit nach Hause gekommen?« Melissa amüsierte die Selbstverständlichkeit, mit der Amia annahm, dass alle auf ihre Wünsche eingingen, egal wie ungewöhnlich sie waren. Und sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob das Kind nicht sogar Recht damit hatte.

»Auf keinen Fall! Aber jetzt hab ich ihn ja.« Behutsam nahm Amia Melissa den Stein wieder aus der Hand und steckte ihn in ihre Jackentasche, als ihre Augen sich plötzlich vor Überraschung weiteten. »Nicolas! Du bist zu uns an den Strand gekommen. Das ist wunderbar!«

Überschwänglich rannte sie auf Nicolas, der sich nur langsam von den Klippen genähert hatte, zu und warf ihre kleinen Arme so gut sie es vermochte um den großen Mann, der sich nun zu ihr hinabbeugte und sie ebenfalls herzlich drückte. Weiche, dunkle Strähnen fielen ihm dabei in die Stirn und der liebevolle Ausdruck auf seinem Gesicht, getaucht in goldenes Sonnenlicht, ließen ihn so unverhältnismäßig attraktiv aussehen, dass es Melissa beinahe körperliche Schmerzen bereitete. Schnell wand sie den Blick ab.

Unwillkürlich fragte Melissa sich, was diese beiden miteinander verband und ihr fiel die Geschichte ein, die Adam ihr erzählt hatte. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie die kleine Amia, damals noch jünger, als sie es ohnehin noch war, verzweifelt durch den Wald irrte. Melissa hoffte unvermittelt, dass Amia auch an diesem Tag von ihrer erdachten Freundin begleitet worden war.

Schließlich traf das Kind ausgerechnet auf einen Vampir. - Ob die beiden von Anfang an so vertraut miteinander gewesen waren? Hatte Nicolas auf Amia wie ein Engel gewirkt, so wie gerade auf Melissa? Oder hatte der große Mann eine so bedrohliche Aura um sich herumgetragen, wie es bei der ersten Begegnung war, die Melissa mit Nicolas gehabt hatte? Ob Amia sich vor ihm gefürchtet hatte? Es war ein Rätsel für Melissa, wie das kleine Kind es geschafft hatte, Nicolas dazu zu bringen, sie zu begleiten, um Adams Leben zu retten.

Es war nicht übertrieben zu behaupten, dass Amia eine außergewöhnliche Gabe besaß, Sachen zu finden, insbesondere wenn sie sie am dringendsten benötigte. Oder eben Menschen - Oder sogar einen Vampir.

So gesehen war ihr heutiger Fund eher unspektakulär.

Als Melissa den Strand entlangblickte, bemerkte sie, dass Adam und Marlon sich ihnen wieder näherten. Sie kehrten eher zurück, als Melissa angenommen hatte und sie fragte sich, ob man in derartig kurzer Zeit brauchbare Fotos von scheuen Wildtieren schießen konnte. Vermutlich waren die Bedingungen heute nicht so geeignet und sie hatten vorzeitig abgebrochen.

Als die beiden näher kamen, konnte sie erkennen, das Marlon noch blasser aussah, als bereits vor wenigen Stunden. Etwas stimmte nicht mit ihm und Melissa hoffte inständig, dass Adam nicht der Grund war. Sie fühlte sich schäbig dabei, überhaupt so etwas zu denken - dennoch breitete sich dieser Gedanke wie ein wachsendes Geschwür in ihr aus. Vielleicht wäre es das Beste, etwas mehr über die beiden zu erfahren.

Als die beiden Melissa schließlich erreicht hatten, war Marlon regelrecht außer Atem, und Adam warf diesem einen besorgten Blick zu.

Doch dann wandte er sich an Melissa und interessierte sich für etwas ganz anderes: »Was macht Nicolas hier? Ich wusste nicht, dass er euch begleitet.«

Melissa zuckte mit den Schultern. »Er wollte Amia eine Freude machen.«

Aus irgendeinem Grund konnte sie Adam nicht erzählen, dass Nicolas ihr nachspioniert hatte. Auch nicht von ihrem Gespräch mit ihm auf den Klippen oder die Entdeckungen, die sie dabei gemacht hatten. Oder das er, alleine indem er sie ansah und dabei ihre Hand zu lange hielt, ein brennendes Verlangen in ihr auslöste, das ihr beinahe körperliche Schmerzen bescherte. Nein, das wollte sie nicht einmal sich selbst eingestehen.

Sie gab sich betont gelassen, als sie schnell das Thema wechselte: »Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt, du und Marlon?«

In Adams Gesicht breitete sich augenblicklich ein breites Grinsen aus, wohingegen Marlon leicht gequält das Gesicht verzog.

»Bitte, nicht diese Geschichte!«, flehte er und Melissa fragte sich, in welches Fettnäpfchen sie jetzt wieder getappt war.

Aber Adam ließ sich nicht aufhalten, lachend setzte er sich in den weichen Sand und nachdem die anderen beiden sich ebenfalls niedergelassen hatten, fing er an zu erzählen. »Ich habe Marlon dabei erwischt, wie er versucht hat, im Hinterhof eines Cafés eine Katze anzuzünden ... das arme Tier.« Er schmunzelte.

»Hab ich gar nicht. Das war nur ein Unfall«, protestierte Marlon.

»Wie kann sowas denn ein Unfall sein?«, wollte Melissa wissen.

»Ich wollte ein wenig mit meinen Kräften üben. Und als ich diese Katze gesehen habe, dachte ich, ich könnte sie dazu bringen, meinen Gedanken zu gehorchen.«

»Nun, wenn du ihr gesagt hast, sie solle in Flammen aufgehen, dann warst du durchaus erfolgreich«, grinste Adam.

»Ich habe ihr nur gesagt, dass sie sich setzen und mich ansehen soll. Hätte ich vorher gewusst, dass ihre Schwanzspitze dabei Feuer fangen würde, hätte ich es gelassen.«

Adam konnte sein Lachen nicht mehr unterdrücken und selbst Melissas Mundwinkel zuckten nach oben. »Du hast sie tatsächlich angezündet? - Deswegen macht Adam sich immer über deine Feuer-Unfälle lustig. Ich hoffe, der Katze ist nichts passiert.«

»Der Katze nicht. Sie ist wie ein Blitz davon geflitzt«, fuhr Adam fort. »Gleich, nachdem sie Marlon panisch ins Gesicht gesprungen war, ihm einige fiese Kratzer zugefügt und mit ihrer Schwanzspitze seine Jacke entzündet hatte.«

Melissas Lächeln erstarb. »Was? Das klingt schrecklich.« Sie musste an ihren Fuß denken, und wie dieser geschmerzt hatte, als sie in die Flammen getreten war.

»Alles gut, es ist nichts weiter passiert. Ich habe ihn sofort gelöscht.« Adam hob beschwichtigend die Hände. »Im Innenhof stand allerlei Gerümpel herum. Unter anderem ein halb mit Regenwasser gefüllter Eimer. Es kann von Vorteil sein, wenn man sich übernatürlich schnell bewegen kann. Marlons Jacke war so schnell gelöscht, dass es keine Verbrennungen gab.« Adam grinste schon wieder. »Nur wie ein nasser Pudel sah er danach aus.«

Marlon stieg die Röte ins Gesicht. Immerhin, ganz farblos war er also noch nicht. Diese Erkenntnis beruhigte Melissa auf eigentümliche Weise.

»Und die Kratzer?«

»Die brannten tierisch«, gab Marlon zu. »Sind aber irgendwann wieder verheilt. Gruselig war nur, wie Adam mich angestarrt hatte. Hätte ich bis dahin nicht bemerkt, dass er einige ungewöhnliche Eigenschaften hatte, spätestens zu dem Zeitpunkt wäre es mir klar geworden. Er konnte seine Natur einen Moment nicht verbergen.«

Melissa erschauerte. Hatte Adam Marlon angefallen?

»Nun, reize keinen Jungvampir, indem du ihm mit blutverschmiertem Gesicht gegenübertrittst.« Theatralisch entblößte Adam die Zähne, lachte jedoch gleich darauf auf.

Erstaunlicherweise konnte Melissa nichts an seinem Gebiss erkennen, dass nach einem Vampir aussah.

»Du konntest von Glück reden, dass ich pappensatt war«, sagte Adam jetzt ernster.

»Was wäre sonst passiert?« Melissas Stimme klang ungewöhnlich hoch.

»Nun«, sagte Adam, »ansonsten hätte ich ...«

»...ansonsten wäre es ihm schwergefallen, sich zu kontrollieren,« unterbrach Nicolas Stimme plötzlich Adams Erklärung. Melissa zuckte zusammen. Musste Nicolas sich immer so anschleichen?

»Sagen wir mal, frisch gebackene Vampire sind nicht gerade bekannt dafür, ihre Impulse sonderlich gut zu beherrschen.« Grimmig blickte Nicolas in Adams Richtung. »Findest du nicht, dass sind ziemlich viele Informationen für Melissa?«

Wow, was sollte das denn jetzt? Wollte Nicolas bestimmen, was sie wissen durfte, und was nicht?
Adam zuckte jedoch nur unbeeindruckt mit den Schultern. »Sie hat gefragt.«

»Na, Hauptsache du gibts mir nicht die Schuld, wenn sie das nächste Mal in die Nacht hinausläuft, weil sie Angst hat, von einem hungrigen Vampir ausgesaugt zu werden.«

Die Meeresbrise, die Melissa über den Nacken strich, fühlte sich plötzlich einige Grad kälter an. »Könnte das passieren?« Unsicher blickte sie Adam an.

Aber es war Nicolas, der ihr antwortete: »Nein«, sagte er bestimmt. »Die meisten Vampire haben bereits nach wenigen Jahren gelernt, sich ausreichend zu kontrollieren. Und was Adam betrifft, sorgen wir dafür, dass er immer gut gefüttert ist.«

»Und wenn es doch einmal anders ist?«

»Das werden wir nicht ausprobieren.« Ohne ein weiteres Wort drehte Nicolas sich um und kehrte zu Amia zurück, die gerade begann, eine Felsspalte zu erkunden.

Mit einem schiefen Lächeln blickte Adam sie an. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Du musst dir keine Gedanken machen. Ich würde niemals riskieren, hungrig herumzulaufen. Nicolas würde das auch gar nicht zulassen. Schon wegen Amia. Und ich will niemanden verletzten.«

Das klang plausibel für Melissa. Ihre Vermutung mit den Blutkonserven war scheinbar nicht verkehrt.

»Schon gut. Ich hatte bislang nicht das Gefühl, dass du mir etwas antun könntest. Mich wundert es nur, dass Marlon dich damals nicht in Flammen aufgehen lassen hat vor lauter Schreck.«

»Das ist nicht so verwunderlich. Ich habe ihm ja nichts getan, nur mir etwas die Lippen geleckt - eine Sekunde - höchstens. Aber ich hatte ihn beobachtet, wie er Magie ausübte und er hatte mich als Vampir geoutet. Das sorgte für eine Menge Gesprächsstoff. Und irgendjemand musste sich auch um den begossenen Pudel kümmern.« Grinsend warf Adam seinem Freund einen Blick zu. »Ich konnte Marlon doch nicht tropfend und blutend mit dem Bus nach Hause schicken. Also ist er mit zu mir gekommen. Später haben wir herausgefunden, dass wir das ideale Team sind, wenn es um Tierfotos schießen geht. Ein Vampir, der sich völlig lautlos anschleicht und ein Zauberer, der den Tieren sagt, wie sie am besten posieren. So machen wir die ungewöhlichsten Bilder.«

»Das klingt, als würdet ihr euch gut ergänzen.« Beide jungen Männer nickten.

Abrupt drehten sich die drei um, als sie Amia aufschluchzen hörten. Das Mädchen krabbelte einige Meter von ihnen entfernt rückwärts aus einer engen Felsspalte heraus, und Melissa befürchtete schon, sie hätte sich verletzt, als sie sah, wie Amia etwas Pelziges mit sich mittrug. Schnell eilte sie zu dem Kind und sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, das es sich um einen Otter handelte. Dieser hing kraftlos in Amias Armen und gab nur vereinzelte, klägliche Laute von sich, während das Kind dafür umso kräftiger wimmerte.

Nicolas Hand lag beruhigend auf Amias Rücken und behutsam half er ihr das Tier in den Sand zu legen.

»Ihm geht es schlecht. Kannst du ihm helfen?« Flehend blickten Amias große Augen Nicolas an.
Erst jetzt fiel Melissa auf, dass der Otter eine klaffende Wunde an der linken Seite hatte und seine Atmung auffällig schell ging.

»Du kannst ihm helfen, Amia. Du schaffst das.« Nicolas nahm Amias kleine Hand in seine und legte sie sanft auf das Tier ab. »Siehst du? Er entspannt sich sofort etwas. Deine Berührung beruhigt ihn.«

Amia selbst beruhigte sich ebenfalls ein wenig und die Tränen quollen nur noch langsam aus ihren Augen. »Aber er hat immer noch Schmerzen, ich kann es fühlen ... er wird nicht wieder gesund, oder?«

Nicolas presste die Lippen zusammen. Es war ihm anzusehen, dass er mit dem Kind mitlitt. »Du kannst dafür sorgen, dass er nicht leiden muss. Bleib einfach bei ihm. Was spürst du? Kann er es schaffen?«

Amia schloss die Augen und es wirkte, als wolle sie in das Tier hineinhorchen. »Nein, er ist zu schwach.« Mit bebenden Lippen blickte sie erneut zu Nicolas. »Was soll ich tun?«

Da näherte sich Marlon von hinten und legte seine Hand über Amias. Melissa bemerkte überrascht, dass ein Glimmen durch beide Hände tief in das Tier floss, bis der Otter reglos und mit geschlossenen Augen dalag.

»Ist er tot?«, fragte Amia mit dünner Stimme.

»Nein«, antwortete Marlon, »er schläft nur. Solange hat er keine Schmerzen.«

»Und wenn er wieder aufwacht?«

»Dann leidet er wieder. Es wäre besser, wenn ...«

Melissa war entsetzt über das, was Marlon da andeutete. Und doch wusste sie, dass er Recht hatte. Das Tier würde sterben. Besser es geschah schnell im Schlaf, als unter Qualen. Noch mehr schockierte sie jedoch der Blick, den Marlon Nicolas zuwarf und der eine deutliche Aufforderung enthielt. Einen Moment hielt sie die Luft an. Er würde doch nicht ernsthaft ... Doch Nicolas schüttelte nur kaum merklich den Kopf. Erleichtert atmete Melissa auf.

Doch plötzlich schoss ohne Vorwarnung ein Schatten an der Gruppe vorbei auf den Otter zu. Mit übernatürlicher Geschwindigkeit wurde das Tier ergriffen und ein leises Knacken war zu vernehmen.

All das war zu schnell für Melissas Augen vor sich gegangen und erst, als alles vorbei war, erkannte sie, dass das verletzte Tier mit gebrochenem Genick in zwei leicht gebräunten Händen hing. Nicht Nicolas' Hände - sondern Adams. Anklagend blickte dieser auf Nicolas, während der Wind durch das Fell des Otters strich.

Melissa schlug die Hand vor dem Mund und Amia warf sich in Nicolas' Arme.

»Wie konntest du das tun?« Die Worte hatten Melissas Mund verlassen, bevor sie sie aufhalten konnte.

»Wir sind Jäger.« Grimmig blickte Adam sie an und Melissa war klar, dass er sich nicht auf die Fotojagd bezog. »Das gehört dazu. Wie kann man nicht?« Adams Kiefer spannte sich an. Dann drehte er sich um und nahm das tote Tier mit sich. Vermutlich würde er es hinter den Klippen begraben. Zumindest hoffte Melissa das. Nachdenklich blickte sie ihm hinterher. Sie wusste, dass sie kein Recht hatte, ihm Vorwürfe zu machen. Er hatte dem Tier eine Gnade erwiesen. Warum bereitete es ihr dennoch ein solches Unbehagen? Adam hatte nicht impulsiv gehandelt, er hatte sich für seine Handlung bewusst entschieden und er bereute sie nicht. Es fiel ihr schwer, diese Entscheidung mit dem sanftmütigen Adam, wie sie ihn bislang kennengelernt hatte, in Einklang zu bringen.

Sie erinnerte sich daran, dass Adam ihr erzählt hatte, wie seine Mutter vor ihrem Tod gelitten hatte und das Amia es seit dem nicht mehr ertragen konnte, wenn andere Wesen Schmerzen erdulden mussten. Aber ihm musste es ähnlich wie seiner Schwester ergehen, auch wenn er es nicht ausgesprochen hatte. Nachdem klar war, dass der Otter keine Chance zum Überleben hatte, hatte er es vorgezogen, die Sache schnell zu beenden. Melissa konnte nicht anders, als Verständnis für Adam aufzubringen.

Allmählich realisierte Melissa, was es war, dass sie so aus dem Gleichgewicht brachte. Aus schmalen Augen blickte sie Nicolas an. »Warum hast du das nicht übernommen?«

Nicolas' Miene verfinsterte sich, vorsichtig löste er Amia aus seinen Armen und richtete sich auf. Einen Moment hörte Melissa nur das Rauschen des Meeres, bis er schließlich antwortete: »Wolltest du, dass ich es tue?«

Sie senkte den Blick. »Nein.«

»Und dennoch machst du mir Vorwürfe?«

»Für dich wäre es leichter gewesen«, stieß sie hervor und dachte an Adams grimmigen Blick, der nicht hatte verbergen können, wie schwer ihm seine Tat gefallen war.

»Weil ich ohne Reue töten kann?« Nicolas Augen wurden bedrohlich dunkel und Melissa wurde zu spät klar, was sie ihm unterstellt hatte.

»Weil, ...« Aber mehr fiel ihr nicht ein. Nicolas hatte es auf den Punkt getroffen. Bestürzt starrte sie ihn an.

»Es ist nie leicht, ein unschuldiges Leben zu beenden. Nicht für Adam - und nicht für mich. Ich bin nicht das Monster, dass du in mir sehen willst.« Er gab ihr keine Chance zu antworten, sondern verschwand wie ein sich auflösender Schatten.

Marlon und Amia blickten Melissa aus großen Augen an und sie brachte ein klägliches Lächeln zustande. Sie hatte Nicolas Unrecht getan. Schon wieder. Nicolas hatte das Tier nicht erlöst, weil er es nicht über sich brachte. Und Adam konnte seine Qualen nicht ertragen. Wie konnte sie sich anmaßen, auch nur für einen von ihnen zu entscheiden, was das Richtige war?

Wieder war es Amia, die ihr eine schwere Situation erleichterte. Traurig lächelnd nahm sie Melissas Hand. »Komm, lass uns zurückgehen. Adam wartet bestimmt am Auto auf uns.«

Schweigend stapften sie durch den groben Sand, bis sie an den Stufen zwischen den Klippen ankamen, die zum Parkplatz führten. Hin und wieder warteten sie auf Marlon, der mit schleppenden Schritten und keuchendem Atem nur sehr langsam vorankam. Seine Gesichtsfarbe war mittlerweile fast so weiß wie die Gischt und Melissa war sich sicher, dass das nicht nur an dem Tod des Otters lag. Er sollte sich wirklich eine Weile ins Bett legen.

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