26

»Nicolas!« Eine Stimme, klar wie funkelndes Eis. Surrend.

Melissa spürte Nicolas Körper sich anspannen, sie von sich schiebend, nur ein kleines Stück, aber es fühlte sich an wie Welten zwischen ihnen. Sie riss die Augen auf. Nicolas richtete sich auf, den Kopf hoch erhoben. Weg von ihr.

»Nicolas.« Wieder diese Stimme, die direkt in sie fuhr und ihr Innerstes gefrieren ließ. Nicolas Finger lösten sich von den ihren, seine Hand verließ ihre Taille, seine Wärme strömte aus ihrem Körper hinaus, verließ sie schlagartig und ließ sie fröstelnd zurück. Er griff nach ihrem Arm und führte sie von der Tanzfläche. »Komm«, knurrte er rau.

Eine kleine zarte Frau stand völlig reglos neben der Bar, aber ihre Präsenz füllte den gesamten Raum und sie wirkte so mächtig und einschüchternd. Ihre porzellanartigen Gesichtszüge schienen unglaublich fein geschnitten, bildschön, wie aus Stein gehauen, und wurden von kinnlangen braun schimmernden Haaren eingerahmt. Ein hautenges Kleid betonte ihre Figur.

Sie war perfekt.

Ein zartes Lächeln umspielte ihren Mund und sie fixierte Nicolas mit tiefdunklen Augen.
Ihre Aura schien zu flirren. Sie wirkte so unschuldig und gleichzeitig so bedrohlich. Melissa hatte nicht gewusst, dass so etwas möglich war. Niemand musste ihr die Natur dieser Frau erklären, es war dermaßen offensichtlich, dass Melissa sich wunderte, dass nicht alle Gäste von ihrem Anblick gefesselt waren. Sie selbst konnte den Blick kaum abwenden. Fasziniert und verstört zugleich.

Doch diese Frau hatte nur einen kurzen abschätzigen Blick für Melissa übrig. Süffisant verzog sie ihren Mund, bevor sie sich erneut Nicolas zuwendete, als dieser im Begriff war, Melissa an der Frau vorbeizuschieben.

»Es tut so gut, dich zu sehen, mein Schöner!«, gurrte sie.

Nicolas blieb stehen, drehte sich der Fremden entgegen und kniff die Augen zusammen. Seine Muskeln spannten sich an. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, während er gleichzeitig den Griff um Melissas Arm verstärkte.

»Kari!« Seine Stimme tief und melodisch. »Wie lange haben wir uns nicht gesehen.« Wie gebannt lag Nicolas Blick auf der fremden Frau. Es war offensichtlich, dass die beiden von der gleichen Art waren. Und sie kannten sich.

Warum störte Melissa das?

»Eine Ewigkeit! Ich sehe, du hast eine kleine Freundin dabei.« Wieder glitt der Blick der Frau über Melissa und diesmal warf sie ihr ein bedrohliches Lächeln entgegen. »Willst du uns nicht vorstellen?« Ihre Stimme war ein einziges Schnurren, warm und sanft und dennoch fühlte es sich an, als könnte sie Stein durchschneiden. Melissa stellten sich die Nackenhärchen auf.

»Nur eine Bekanntschaft. Sie wollte gerade gehen.« Karis Augen weiteten sich kaum merklich und sie betrachtete Melissa zum ersten Mal ernsthaft. Ihr Blick blieb auf Nicolas Hand an Melissas Arm liegen.

»Oh, wie schade. Ich hoffe, ich habe euch nicht gestört?«

Nicolas schob Melissa weiter zur Garderobe. Fassungslos registrierte sie, dass er ihren Mantel nahm und sie weiter zur Tür drängte. »Keineswegs. Ich begleite sie nur schnell hinaus. Dann bin ich für dich da.«

Er öffnete die schwere Holztür und Melissa stand auf dem Gehweg vor dem Pub, bevor sie überhaupt eine Chance hatte, zu begreifen, was gerade passiert war. Ganz beiläufig legte Nicolas ihr ihren Mantel um die Schultern und drückte ihr etwas in die Hand. »Danke für den angenehmen Abend. Komm gut zurück«, sagte er förmlich und verschwand im Pub.

Die kühle Nachtluft strich ihr über das erhitzte Gesicht und sie fröstelte augenblicklich, als der letzte Lichtstrahl durch die sich schließende Tür fiel. Schnell fuhr sie mit den Armen in die Mantelärmel und schloss diesen. Dann betrachtete sie den Gegenstand in ihrer Hand. Die Schlüsselkarte für das Hotelzimmer. Gab es eine eindeutigere Art jemanden aufzufordern sofort zu verschwinden? Die Situation hatte sich so unerwartet gewendet, dass ihre Gedanken nicht mehr hinterherkamen. Hatte Nicolas sie ernsthaft vor die Tür gesetzt? Weil er jemand anderem begegnet ist? Einer Freundin? Oder war es etwas anderes? Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Wie sollte sie diese Situation bewerten? Nicolas hatte sie rausgeschmissen, im denkbar unpassendsten Moment. Er hatte mit ihr gespielt.

Wieder einmal.

Aber diesmal fühlte es sich anders an. Er hatte sie beschwichtigt, getröstet, in Sicherheit gewiegt. Er hatte sie sich besser fühlen lassen als seit Monaten. Glücklich. Und schließlich hatte er ... ja was denn? Hatte er sie verführt? Das wäre eine Übertreibung, schließlich war ja überhaupt nichts passiert.

Und dann hatte er sie geradewegs vor die Tür gestellt, als wenn es ein großer Fehler war, sich mit ihr sehen zu lassen. Als wenn er nichts mit ihr zu tun hatte, sie kaum kennen würde. Was ja auf eine gewisse Art stimmte. Er war ihr nichts schuldig.

Aber warum fühlte es sich dann so mies an? Wie ein Verlust? Sie hatte nichts verloren, sie hatte nie etwas gehabt. Nur dieses Gefühl auf Hoffnung, das sich wie ein Versprechen in ihr Innerstes gewühlt hatte, als sein Blick sie so unumwunden fixiert hatte. Um jetzt genau dort zu verglühen, in ihrem Innersten.

So würde sie sich nicht abfertigen lassen. So durfte Nicolas nicht länger mit ihr umspringen. Entschlossen griff sie nach der Pubtür und öffnete diese energisch. Kaum hatte sie einen Blick hineingeworfen, wurde sie schon wieder von einem fremden Mann hinausgeschoben. Gerade so erhaschte sie einen Blick auf Nicolas, der die unverschämt attraktive Vampirin mit Wangenküssen begrüßte. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht, ähnlich dem einer schnurrenden Katze. Es war offenkundig, dass die beiden eine äußerst vertraute Bindung miteinander hatten.

Der Fremde ergriff, ganz in Nicolas' Manier, ihren Arm und zog sie fort. »Komm bitte mit, ich bringe dich zurück zu deinem Hotel«, sagte der Mann höflich.

»Hey, was soll das?« Sie riss ihren Arm los und starrte ihn bitterböse an. Jemand, an dem sie ihre verwirrten Gefühle auslassen konnte, kam ihr gerade Recht. »Ich kenne dich überhaupt nicht.«
»Entschuldige bitte. Du hasst natürlich recht. Ich bin Maurice.«

»Aha«, sagte Melissa uneinsichtig, »und was soll mir das sagen? Ich kenne dich trotzdem nicht. Warum sollte ich mit dir irgendwohin gehen?«

Der Mann seufzte tief. »Weil ich dich ungern alleine den Weg machen lassen möchte. Und weil Nicolas mich gebeten hat, dich zu begleiten, um sicher zu gehen, dass du gut ankommst.«

Jetzt war sie aufgebracht. »Das sind keine 200 Meter. Ich werde das doch alleine schaffen. ... Du kennst Nicolas? Warum sollte er dich um so etwas bitten? Er hätte mich ja gar nicht erst vor die Tür setzten müssen. Ich bezweifle stark, dass er sich solche Gedanken macht. Sonst wäre er selbst mitgekommen.«

Der Mann betrachtete sie entschuldigend. »Wäre er sicher gerne, aber jetzt hat er ein wichtiges Gespräch. Deshalb springe ich ein.«

»Und du bist sein Handlanger, wenn er gerade ein wichtiges Gespäch hat?«

»Ich bin der Geschäftsführer des Pubs und sein Freund, wenn du es genau wissen willst.« Seine Stimme wurde mittlerweile etwas ungeduldiger.

»Ja, klar. Und du lässt sofort deinen Laden im Stich, nur weil er mit den Finger schnippt?«

Melissa glaubte ihm kein Wort. Dieser Mann wurde ihr unheimlich und sie wollte ihn schleunigst wieder loswerden.

»Wenn es sein muss, ja. Dauert ja auch nicht lange, wenn wir nur mal losgehen würden.«

»Weißt du was? Ich gehe los. Aber alleine. Und fass mich nie wieder an.«

»In Ordnung, mach ich nicht, aber begleiten werde ich dich dennoch.«

»Habe ich irgendeine Chance, dass zu vermeiden?« Melissa klang spöttischer, als sie sich fühlte.

»Nein«, antwortete Maurice ruhig aber bestimmt.

Melissa sah sich um. Es waren noch etliche Leute hier unterwegs. Schnell überlegte sie, ob er ihr ernsthaft gefährlich werden könnte. Aber der Weg war lächerlich kurz und nirgends gab es so dunkle Stellen, dass er eine Chance gehabt hätte, sie unbemerkt anzugreifen. Spätesten im Hotel hätte sie ihn abgeschüttelt. Abrupt lief sie los, ohne darauf zu warten, dass ihr Begleiter hinterherkam.

Maurice hielt sich gute zwei Meter hinter ihr, ließ sich aber nicht abschütteln. Wenn er glaubte, ihr damit das Gefühl zu geben, sich vor ihm sicherer zu fühlen, dann erreichte er genau das Gegenteil damit. Was sollte diese Verfolgung auf so einer kurzen belebten Straße? Melissa musste sich beherrschen, um nicht gänzlich loszurennen. Als sie das Hotel betrat, schaute sie noch einmal über die Schulter und erblickte Maurice ein letztes Mal wie er vor der Eingangstür innehielt, ihr zunickte und Richtung Pub verschwand.

Gehetzt grüßte sie die verdutzte Dame hinter dem Empfangstresen und hechtete in den Fahrstuhl. Keuchend holte sie Luft und drehte die Schlüsselkarte in ihrer Hand nervös hin und her, als diese plötzlich in zwei Teile zerfiel und eine Hälfte zu Boden sank. Sie bückte sich und hob diese auf. Verwundert schaute sie die Teile an und stellte fest, dass diese nicht etwa beschädigt war, sondern, dass es sich um zwei Karten handelte, die exakt aufeinandergelegen und so wie eins gewirkt hatten. Nicolas hatte ihr versehentlich seine eigene Karte mit in die Hand gegeben. Nachdenklich stopfte sie beide in ihre Manteltasche.

Melissas Gedanken fuhren Achterbahn. Sie versuchte zu verstehen, was geschehen war. Nicht nur, dass sie zurück zum Hotel von diesem Maurice verfolgt wurde, der sie tatsächlich nur bis ins Hotel behelligt ... nein, begleitet hatte. Auch und insbesondere die Ereignisse zuvor wollten keinen Sinn ergeben. Nicolas, der sie ausgeführt und sich unbegreiflicherweise die ganze Zeit charmant verhalten hatte und um ihr Wohlergehen besorgt gewesen schien. Der berauschende Tanz und die Nähe zwischen ihnen, die Spannung, sein Gesicht so nah vor ihrem.

Melissa wurde selbst bei der Erinnerung wieder heiß.

Und dann diese kalte, klare Stimme. Und Nicolas hatte sie ohne Zögern stehen gelassen ... nein, ... sie hinausgeschoben. Wie eine Fremde, wie einen Störfaktor. Wie etwas, das ihm unangenehm war vor dieser bildhübschen Frau. Dieser Frau, die er so gut zu kennen schien, die offenbar nicht wissen sollte, dass sie sich gerade mit Nicolas vergnügt hatte. Aber sie musste es gesehen haben, sie auf der Tanzfläche zusammen entdeckt haben. Und dann hatte sie Nicolas' Namen gerufen und er war zu ihr geeilt. Er hatte seine Prioritäten mehr als deutlich gemacht. Diese Frau war die Gesellschaft, die er, ohne mit der Wimper zu zucken, der ihren vorzog. Melissa war nur ein Spiel für Nicolas gewesen, als ihm langweilig war. Es war alles nur Show gewesen. Er war der Jäger. Und sie das kleine Mäuschen. Mal wieder. Und sie hatte dem Ganzen auch noch willentlich zugestimmt.

Wut kroch in Melissas Bauch und Brust und breitete sich unaufhaltsam in ihrem gesamten Körper aus. Was bildete sich dieser Bastard eigentlich ein? Dass sie einzig zu seiner Belustigung existierte? Dass sie sein Spielzeug war, das er nach Belieben manipulieren konnte? Und immer sollte sie tun, was er sagte. Das musste sich dringend ändern.

Die Fahrstuhltür öffnete sich sirrend und Melissa stampfte ungehalten den Flur entlang. Dass ihre erbosten Schritte vom dicken Teppich fast vollständig abgedämpft wurden, brachte sie nur noch mehr in Rage. Grimmig angelte sie nach der Schlüsselkarte in ihrer Tasche, zog sie hervor und versuchte, ihre Tür zu öffnen. Sie blieb verschlossen. Verdammt, falsche Karte. Gerade wollte sie nach der anderen Karte greifen, als sie innehielt. Nicolas wollte ganz bestimmt, dass sie auf ihr Zimmer ging und dort brav wartete, bis er weitere Pläne mit ihr hatte. Nun, es wurde Zeit, dass sie selbst Pläne hatte. Sie drehte sich um hundertachtzig Grad und hielt das weiße Rechteck an den Sensor des gegenüberliegenden Zimmers. Mit hoch erhobenen Kopf schritt sie in Nicolas Zimmer, ohne zu wissen, was sie hier genau suchte. Nicolas würde sicher noch eine Weile wegbleiben.

Neugierig musterte sie den Raum. Er war überraschend aufgeräumt, als hätte Nicolas sich nicht weiter hier aufgehalten. Was vermutlich auch der Fall war. Das Bett war unberührt, die Stühle standen ordentlich am leeren Tisch. Vor dem Schrank stand eine kleine schwarze Reisetasche, was scheinbar der einzige Beweis darstellte, dass Nicolas hiergewesen war – nein, auf dem Couchtisch in der Sofaecke lagen seine Autoschlüssel.

Melissa wusste nicht, was sie sich erhofft hatte, aber etwas mehr war es in jedem Fall gewesen.
Enttäuscht ließ sie ihren Blick ein letztes Mal durch den nichtssagenden Raum wandern und drehte sich schließlich zum Gehen, als ihre Augen erneut die Autoschlüssel fanden. Zögernd hielt sie inne.

Sie sollte einen Ausflug in diese Stadt mit Nicolas machen. Sie sollte im Hotel bleiben. Sie sollte nicht im Hotel bleiben und mit ihm ausgehen. Sie sollte kein Auto ohne ihn fahren. Sie sollte wieder ins Hotel gehen.

Sie würde einen Ausflug in dieser schönen Stadt machen. Und sie würde das Hotel alleine verlassen, alleine mit seinem Wagen eine Spritztour machen und sich alleine die Zeit vertreiben. Und ganz sicher nicht alleine in ihrem Zimmer hocken und die Minuten zählen, bis ER zurückkäme. Sie brauchte so dringend Abstand. So viel wie möglich. In ihrem Fall also etwa bis zu 12 Kilometer. Wenn sie auf Nummer sicher gehen wollte, nicht im Wagen zerquetscht zu werden, besser deutlich weniger. Blieben immer noch ein paar wenige Kilometer. Immerhin.

Melissa ergriff das Schlüsselbund und eilte zurück zum Fahrstuhl, drückte den Knopf für die Parkgarage und summte trotzig und aufgeregt vor sich hin. Noch immer spürte sie leicht den Alkohol in ihrem Kopf rauschen. Wie viel von dem Bier hatte sie eigentlich getrunken? Sie konnte es nicht mehr sagen. Sie vertrug aber auch einfach nichts. Ihr fehlte das Training. Wenn man mit einem Menschen zusammenlebte, der einem täglich die ekligste Seite des Alkoholkonsums vorführte, kam man nicht so schnell auf die Idee, Alkohol als ein Genussmittel zu verstehen. Aber heute Abend hatte sie ihn gebraucht – Sie sollte ganz unbedingt darüber nachdenken, ob dieses die beste Argumentation war. Später.

Spielte ihr kleiner Schwips überhaupt eine Rolle für ihren Plan, in Anbetracht der Tatsache, dass sie nicht mal einen Führerschein besaß? Eventuell.

Irgendwas in ihrem Kopf schrie sie an, dass das Ganze eine saublöde Idee war. Aber es war ihre saublöde Idee, ihre ganz eigene Entscheidung, endlich einmal nicht fremdbestimmt, und sie hatte wirklich nichts übrig für dieses irgendwas in ihrem Kopf.

Sie wollte weg. Weg von Nicolas. Und weg von dieser Kari. Und sie war ganz sicher nicht eifersüchtig.

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