22
Ein nettes Hotel war die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Die Empfangshalle hatte sie mit majestätischen Säulen begrüßt, die den Raum umrahmten, während ein imposanter Kronleuchter von der Decke herabhing und das warme Licht über die eleganten Marmorfliesen verteilte. Staunend hatte sie sich vom Aufzug Etage um Etage in die Höhe heben lassen, um dann durch einen mit dicken Teppichboden ausgestatteten Flur zu ihrem Zimmer zu wandeln. Ihr Zimmer wartete mit meterhohen Wänden auf, welche mit luxuriöser Stofftapete versehen waren und einen imposanten Rahmen für das elegante Bett in seiner Mitte, einem Tisch mit edlen Stühlen und eine Sofaecke boten.
All das stand ihr völlig alleine zur Verfügung, und sie nutzte es bereits seit Stunden, um sich ausgiebig zu entspannen. Nach einem ausgedehnten Bad in der überdimensionalen, freistehenden Badewanne, einem kurzen Nickerchen und einer Runde frische Luft Schnappen auf dem Balkon, wanderte sie nun im Zimmer auf und ab wie ein eingesperrtes Tier. So beeindruckend das Hotel auch auf sie wirkte, ihr wurden die Stunden lang. Und sie wollte auf keinen Fall anfangen, darüber nachzudenken, was Nicolas in diesem Moment vermutlich trieb. Der Schock, den sie erlitten hatte, als er ihr den Grund für ihren Ausflug mitteilte, saß noch immer tief.
Sie ließ ihre Finger über den geschmackvollen Stoffbezug der Sofalehne streifen, während sie auf den Zimmerservice wartete. Nicolas hatte ihr nahegelegt zu bestellen, was immer ihr beliebte. Und Melissa konnte keinen Grund erkennen, warum sie das nicht auskosten sollte. Offensichtlich hatte er seine übernatürlich lange Lebenszeit genutzt, um den Jackpot in einer Lotterie zu gewinnen.
Vielleicht sollte sie nach dem Essen eine kleine Sightseeing-Tour machen?
Sie hatte kurz in Erwägung gezogen, das Hotel kommentarlos zu verlassen, sodass Nicolas am nächsten Tag nur ein verwaistes Zimmer vorfinden würde, wenn er sie abholen kam. Doch wohin sollte sie in dieser fremden Stadt gehen, mittellos wie sie war? Aber abgesehen davon würde sie nicht weit kommen. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass ihr Aktionsradius um Nicolas sich verändert haben könnte. Für ihre Flucht standen ihr also ungefähr zwölf Kilometer Bewegungsfreiheit in jeder Richtung zur Verfügung. Möglicherweise etwas mehr oder weniger.
Es würde unweigerlich in einem erneuten Desaster enden und ihre Situation in keiner Weise verbessern.
Es klopfte. Endlich, ihr Essen, eine willkommende Abwechslung. Ungeduldig eilte sie zur Tür und drückte die Klinke hinab. Ein schmächtiger junger Mann mit aschblonden kurzen Haaren und einem professionellen Lächeln stand neben einem Servierwagen. Auf seinem schneeweißen Hemd prangte ein blau umrandetes Namensschild, das ihn als Herr Fisher auswies.
»Guten Abend, ihre Bestellung vom Lieferservice. Darf ich es ihnen ins Zimmer bringen?«
Melissa war mit der Situation leicht überfordert. Dieses Hotel stand in einem so drastischen Kontrast zu ihrem Leben, dass sie die letzten Jahre mit ihrem Vater geführt hatte. Nur die Einsamkeit war die gleiche.
Sie murmelte ein »Ja, gerne« und trat an die Seite, um dem Mann den Weg freizumachen. Dieser schob den Wagen ins Zimmer und arrangierte Teller und Salatschüssel, sowie Besteck auf dem Tisch. Danach platzierte er ein kelchartiges Wasserglas und goss aus einer teuer aussehenden Flasche ein, dessen Markenname Melissa noch nie gehört hatte. Melissa sah ihm verstohlen dabei zu, unsicher lächelnd. Die Anwesenheit dieses Fremden war ihr unangenehm, und sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie fühlte sich in diesem Hotel eigenartig fehlplatziert, als wäre sie nicht in einer fremden Stadt, sondern auf einem anderen Planeten gelandet. Als der Mann alles erledigt hatte, ging er zurück zur Tür und drehte sich noch einmal zu ihr um. »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?« Mit einem breiten Lächeln blieb er neben der Tür stehen und blickte sie erwartungsvoll an.
»Ja, alles ist bestens. Vielen Dank.« Melissa hoffte, dass der Mann endlich das Zimmer verlassen würde und sie wieder ungestört wäre. Doch der Service-Mitarbeiter blieb reglos neben der Tür stehen und lächelte stoisch.
Warum ging er nicht?
Und dann wurde ihr klar, dass er auf Trinkgeld wartete. Augenblicklich konnte Melissa spüren, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Noch immer verfügte sie über keinen einzigen Cent Bargeld. Woher auch, in ihrem Pyjama hatte sie keine Geldbörse mitgebracht. Und ihr wurde bewusst, wie abhängig sie vom Wohlwollen der sie umgebenden Personen war. Zu Hause bei ihrem Vater hatte sie zwei verschiedene Jobs gehabt. Und auch, wenn diese nichts Besonderes gewesen waren, so gaben sie ihr doch die Freiheit, über ihre eigenen Finanzen bestimmen zu können und dementsprechen selbstständig gewisse Entscheidungen zu treffen. Jetzt jedoch war sie nicht einmal in der Lage, ein Trinkgeld zu geben. Diese unerträgliche Situation würde sie so schnell wie möglich ändern müssen, sobald sie von diesem unerbetenen Ausflug zurück wäre.
»Das wäre dann alles«, fügte Melissa mit glühenden Wangen hinzu und endlich kehrte der Mann ihr den Rücken zu und verließ das Zimmer. Beschämt und wütend starrte sie die geschlossene Tür an. Warum nur hatte sie Nicolas Angebot, sie zurück nach Hause zu bringen, nicht angenommen? Sie könnte ihr Leben weiterleben wie bisher, nur eben in dem Wissen, dass ein Vampir im Verborgenden um sie herumschlich. Damit hätte sie doch leben können. Warum hatte sie es vorgezogen, lieber in einem Haus voller Vampire zu bleiben?
Es war, so merkwürdig es klang, vernünftig. Nur so konnten sie das Problem direkt angehen und den Zauber hoffentlich bald beenden, um dann nach Hause zurückzukehren. Das zumindest versuchte Melissa sich einzureden.
Nicolas konnte sie mit dem Tode bedrohen und sie in Angst und Schrecken versetzen. Aber ihr Vater hatte es fertig gebracht, sie ihren letzten Funken Glauben an die Welt verlieren zu lassen. Er hatte ihr beigebracht, dass es nie jemanden geben würde, der wirklich für sie da war, auf dem sie sich verlassen konnte.
Jeden Tag hatte er sich mehr dem Alkohol zu und sich von ihr abgewandt. Und dennoch wollte sie ihn nie ganz aufgeben. Aber dann war der Tag gekommen, an dem er ihr gezeigt hatte, dass nichts mehr in ihm für sie übrig geblieben war. Es hatte ihr das Herz zerrissen.
Und das war etwas, das Nicolas niemals zuwege bringen konnte.
Es klopfte noch einmal.
Hektisch scannte Melissa den Raum. Lag etwas herum, dass der Servicemitarbeiter vergessen hatte? Warum kam er zurück? Wollte er doch auf ein Trinkgeld bestehen? Kurz zog Melissa in Erwägung, das Klopfen zu ignorieren, konnte dieses jedoch nicht mit ihrem Gewissen vereinen. So unangenehm es ihr war, sie würde versuchen, dem Mann die Situation zu erklären und auf Verständnis hoffen. Nun gut, zumindest die Situation mit dem nicht vorhandenen Bargeld. Vampir und Magie verschwieg sie lieber.
Melissa machte einen erschrockenen Hüpfer nach hinten. Sie hatte so fest mit dem Mann vom Hotel gerechnet, dass ihr Kopf eine Sekunde zu lange brauchte, um zu begreifen, wer da vor ihr stand. Nicolas breites Lächeln zusammen mit dem Funkeln seiner smaragdgrünen Augen brachte sie völlig aus dem Konzept. Seine schwarzen Haare und dunkle Kleidung bildeten einen unverschämt attraktiven Kontrast zu seiner hellen Haut. Nur seine Wangen wirkten ungewohnt rosig.
»Fall nicht!« Ein winziger Schimmer von Überraschung hatte sich in Nicolas Ausdruck geschlichen, als sie gestolpert war.
Melissa rang kurz mit ihrer Balance. »Danke für den Hinweis.« Verärgert starrte sie in Nicolas markante Gesichtszüge und erwiderte seinen durchdringenden Blick. »Was willst du denn?«
»Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Er legte den Kopf schief und musterte sie. Dann glitt sein Blick über ihre Schulter auf das angerichtete Essen auf dem Tisch. »Du hast dir etwas zu Essen bestellt. Gut. Obwohl ... sieht ein bisschen traurig aus. So alleine.«
»Da hab ich ja offenbar keine andere Wahl. Ich habe mir nicht ausgesucht, den ganzen Tag in diesem Zimmer zu verbringen.«
»Hmm. Keiner hält dich davon ab, einen Stadtbummel zu machen.«
»Das mache ich vielleicht noch. Könnte allerdings ziemlich frustrierend werden, wenn man sich zwischendurch nicht mal eine Postkarte kaufen kann.« Sie musste sich zwingen, nicht reflexartig die Hand auf den Mund zu legen. Sie hatte das nicht sagen wollen. Nicolas gingen ihre Geldsorgen nichts an. Er selbst verschwendete eindeutig keine Gedanken an dieses Thema.
Fragend legte Nicolas den Kopf schief und sah sie an. Es war ihm offenbar überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass sein Rettungszauber sie in eine völlig mittellose Situation katapultiert hatte.
»Leider hatte ich keine Zeit, meine Packliste abzuarbeiten, bevor ich zur Vampir-Errettungsparty gereist bin. Wirklich jeden einzelnen meiner Besitztümer habe ich zurücklassen müssen. Das ist zum Kotzen.« Ok, die Hand über dem Mund wäre definitiv die bessere Alternative gewesen.
Nicolas Lippen öffneten sich vor Überraschung und für einen winzigen Moment meinte Melissa, Bestürzung in seinem Gesicht zu erkennen. Aber das konnte kaum sein. Es war immer noch Nicolas, der da vor ihr stand. Der arrogante, provokante Mistkerl, der ihre Anwesenheit als lästiges Übel empfand.
»Deswegen hat der Küchenwagenschubser so eine säuerliche Miene gemacht.«
Na, Glückwunsch, er begann zu kapieren. »Ein Dankeschön scheint zumindest nicht die übliche Höhe des Trinkgeldes in diesem Haus zu sein.« Melissa war sich bewusst, dass sie ungerecht bissig war, aber einmal angefangen, konnte sie sich nicht mehr stoppen. »Hätte Tara mir nicht ihre Kleidung zur Verfügung gestellt, ich würde noch immer in einem verdreckten Pyjama durch die Gegend laufen. Der einzige Besitz, der mir geblieben ist. Alles andere sind nur Leihgaben oder Wohltätigkeitsspenden.« Sie hätte wirklich beide Hände ganz fest auf ihren Mund drücken sollen. Warum sagte sie diese Sachen. Was ging Nicolas das an? Der Deal war, dass er sie nicht killte, und im Gegenzug würde sie mithelfen, den Zauber zu beenden. Mehr war da nicht.
Nicolas dunkle Augen ruhten ernst auf Melissa, während er schweigend im Türrahmen stand.
Am liebsten hätte sie einfach die Tür geschlossen. Aber dafür hätte sie zunächst wieder einen Schritt auf Nicolas zumachen müssen und wäre ihm damit deutlich näher gekommen, als sie es beabsichtigte. Unbehaglich biss sie sich auf die Innenseite ihrer Wange und versuchte, ihn demonstrativ zu ignorieren.
»Ok«, sagte Nicolas schließlich, »das ist wirklich eine inakzeptable Situation und sollte geändert werden. Warte kurz hier.« Er drehte sich um und betrat das Zimmer gegenüber des ihrigen. War ja klar, von allem Zimmern in diesem riesigen Hotel, musste er ausgerechnet in einem direkt neben ihrem wohnen.
Melissa blickte Nicolas mit gerunzelter Stirn hinterher.
Nach wenigen Sekunden schritt er aus seinem Raum zurück zu ihr, einen dunklen Gegenstand in der Hand. Melissa hatte sich in der Zeit keinen Zentimeter gerührt.
»Das hier hast du dir verdient.« Lässig reichte er ihr eine schwarze Brieftasche.
Melissa konnte es nicht fassen. Was beabsichtigte dieser Kerl damit? Wollte er sie kaufen? Damit sie besser mitspielte? Das konnte doch nicht sein Ernst sein. »Du kannst deine Almosen behalten«, schnaubte sie.
Entweder Nicolas war ein begnadeter Schauspieler, was Melissa ihm durchaus zutraute, oder er war jetzt ernsthaft erschüttert. »Warum Almosen? Das würde mir im Traum nicht einfallen.«
Nicolas wurde ganz sachlich. »Letzten Endes bin ich der Grund, warum du hier festhängst und dein eigentliches Leben derzeit nicht wieder aufnehmen kannst. Ich bin der Grund, warum es dich überhaupt hier herverschlagen hat. Du hättest nicht bleiben müssen. Dafür, dass du dich bereit erklärt hast, an der Lösung unserer Problematik zu arbeiten, hast du durchaus eine gewisse Bezahlung verdient. Alleine schon, um deinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten zu können.« Dann spannten sich Nicolas Züge an und er fuhr mit zusammengebissenen Zähnen weiter: »Und dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.«
Wow. Hatte er den letzten Satz ernsthaft gesagt? Melissa klappte der Mund auf, als sie Nicolas anstarrte. Dieser stand noch immer mit ausgestrecktem Arm vor ihr und hielt ihr die Brieftasche entgegen.
»Jetzt nimm endlich, sonst überlege ich es mir noch anders.«
Verwirrt griff Melissa nach dem Gegenstand. Seine Argumentation hatte logisch geklungen. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Er war auf ihre Mitarbeit angewiesen. Und sie brauchte etwas Geld, um für sich selbst Sorgen zu können, bis diese Geschichte ausgestanden war. Zumindest bis sie einen Job fand, für den Fall, dass diese zauberhafte Nebenwirkungen länger andauern sollten. »Danke« sagte sie kühl. Sie beschloss, es nicht als Almosen anzusehen, dann begutachtete sie den Inhalt der Brieftasche. Und fiel fast nach hinten über. Das war viel Geld. Verdammt viel Geld. Nur große Scheine und davon jede Menge. Das musste mehr sein, als sie im letzten halben Jahr verdient hatte.
»Gut«, sagte Nicolas, »und nachdem das geklärt ist, kommen wir zum nächsten Punkt. Möchtest du heute mit mir Abendessen gehen?«
»Warte«, unterbrach Melissa ihn. »Das ist viel zu viel Geld. Und – was?« Erst jetzt drangen Nicolas Worte zu ihr durch. Was sollte das denn jetzt? Abendessen? Nur sie und Nicolas? Was hatte er vor? Fassungslos starrte sie ihn an. – Wieder einmal.
Er sah mit Unschuldsmiene zurück und lächelte. Bildete er sich ernsthaft ein, er könne sie mit einem schlichten Lächeln überreden? Hatte er damit bei anderen Menschen Erfolg? Mit Sicherheit.
Melissa hatte es bis jetzt nie wirklich gewagt, ihn genauer zu mustern, aber wie er nun so abwartend vor ihr stand, war es, als würde ein Strahlen von ihm ausgehen. Er wirkte gleichzeitig so übernatürlich und so – aufrichtig, wie er sie mit seinen grünen Augen abwartend ansah.
»Warum?«
»Ich dachte, dir könnte die Zeit hier etwas lang werden. Und es wäre eine Schande, in dieser schönen Stadt nicht auszugehen, wo du schon einmal hier bist.«
Er meinte es ernst. Seine Augen ruhten auf ihr und sie war unfähig ihren Blick von dem seinen zu lösen, und Nicolas machte keinerlei Anstalten sie zu entlassen. Ihr Nacken prickelte und sie merkte wie ihr Puls davonholperte. Verdammt, was war nur los mit ihr? Er hatte bereits so viele Gelegenheiten gehabt, ihr etwas anzutun, ohne diese zu ergreifen. Also warum reagierte ihr Körper noch immer so hoffnungslos über?
Nicolas Mundwinkel zuckte amüsiert. »Ich höre kein Nein. Also abgemacht? Heute Abend um acht?«
Melissa schluckte trocken. Zog sie ernsthaft in Erwägung, der Verabredung zuzustimmen? So langweilig konnte es doch nicht sein in diesem Hotel. Hatte sie nicht etwas schwerwiegendes vergessen? »Und wer wird dein Abendessen sein?«, schoss es aus ihrem Mund.
Für eine Millisekunde erfasste ein merkwürdiger Ausdruck Nicolas Züge, den Melissa nicht deuten konnte. Doch sogleich zuckte er wie beiläufig mit den Schultern. »Das braucht dich nicht zu interessieren. – Ich hatte bereits einen kleinen Drink. Und vor dem Nachtimbiss bringe ich dich wohlbehütet zurück. Zwischenzeitlich werde ich mit ganz normaler menschlicher Nahrung vorlieb nehmen. Also entspann dich!«
Nicolas hatte bereits getrunken. Und er machte keinen Hehl daraus. Nun wusste sie, warum sein sonst so blasser Teint so strahlend wirkte. Was waren das für Menschen, von denen er trank? Handelten sie freiwillig? Nahmen sie Schaden? Ihr Blick glitt zu seinen vollen Lippen. Sie wollte sich nicht vorstellen, was er mit den scharfen Zähnen darunter angestellt hatte.
Was zählte, war, dass er ihr im Moment nichts antun würde. Und sie musste sich ernsthaft desensibilisieren, was seine Gegenwart anbelangte. Nicolas hatte sich bislang an sein Versprechen Amia gegenüber, ihr nicht zu schaden, gehalten. Und Melissa begann, ihm zu glauben. Da war ein harmloses Abendessen nicht der schlechteste Anfang, wenn man es mit Vernunft betrachtete.
»Ok.« Melissas Stimme klang deutlich höher, als sie beabsichtigt hatte. Fast glaubte sie, sich bei ihren eigenen Worten verhört zu haben.
»Ok, du entspannst dich?«
»Ok, ich komme mit.«
Kurz blitzte Überraschung in Nicolas Augen auf, bevor sich sein Mund zu einem breiten Lächeln verzog, »Dann bis heute Abend.« Und ehe sie es sich anders überlegen konnte, war er verschwunden.
Bevor Melissa ernsthaft darüber nachdenken konnte, wie vernünftig ihre Zusage tatsächlich gewesen war, verspeiste sie lieber ihr spätes Mittagessen und machte sich auf, die Stadt schon ein wenig alleine zu erkunden. Diese verzauberte mit ihrer mittelalterlichen Architektur, deren steinerne Fassaden von Jahrhunderten geprägt war. Sie ging durch schmale Gassen, welche sich zwischen den historischen Gebäuden hindurchschlängelten und zu charmanten Plätzen mit Kopfsteinpflaster und gemütlichen Cafés führten. Melissa sonnte sich in der Herbstsonne, während der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und traditionellen Gerichten ihr in Nase stieg und der Klang von Straßenmusikanten die Gassen durchdrang.
Aber besonders interessierte sie sich für die vielen kleinen Boutiquen, die entlang der gepflasterten Straßen verstreut waren. Sie würde es nie zugeben, aber sie war erleichtert, endlich eigene Kleidung kaufen zu können, welche ihrer Körpergröße und ihrem Stil entsprach. Taras Garderobe war elegant und edel und sie war ihr dankbar für die Leihgaben, aber die Sachen passten ihr nur mäßig und entsprachen nicht ihrem Stil. Ständig schob, zog und zupfte sie an den Stücken herum, aber es änderte nichts daran, dass sie für eine größere Frau, als sie selbst gemacht waren.
Noch nie hatte sie so viel Geld an einem Tag bei einem Stadtbummel ausgegeben. Sie hatte aber auch noch nie eine ganze Garderobe auf einmal zusammenstellen müssen. Als sie nach Stunden vollbepackt mit etlichen Taschen in ihr Zimmer zurückkehrte, war sie erschöpft und verschwitzt und nahm schnell eine Dusche.
Sie hoffte, dass Nicolas Restaurantwahl nicht genauso luxuriös ausfallen würde, wie seine Hotelwahl. Sie fühlte sich in dieser steifen und teuer anmutenden Umgebung immer unwohler.
Melissa wählte ein langärmeliges cremefarbenes Kleid mit verspielten Details aus, welches ihre Figur sanft umspielte und ihr fast bis zu den Knien reichte. Darunter zog sie schwarze Strumpfhosen an, um vor der herbstlichen Kühle geschützt zu sein. Sie würde ausgehen, also legte sie etwas Wimperntusche und Lipgloss auf. Nicht mehr, sie hatte ja kein Date.
Eine kleine schwarze Handtasche diente ihr als Aufbewahrungsort für ein wenig Bargeld und ihr neues Handy von Josephina.
Unruhig tigerte sie im Zimmer auf und ab. Es war gerade einen Tag her, dass Nicolas gedroht hatte, sie zu töten, und ihr unmissverständlich gezeigt hatte, dass er sie nicht in seiner Nähe haben wollte. Und jetzt hatte er sie zum Essen eingeladen. Und sie hatte angenommen. Sie wusste, dass sie manchmal zu Überreaktionen neigte, aber was in den letzten Tagen passiert war, übertraf alles. In was für einen Strudel war sie da nur hineingeraten?
Melissa hatte Nicolas Klopfen erwartet, aber gerade deswegen zuckte sie erschrocken zusammen, als es tatsächlich sanft an der Tür pochte. Angestrengt versuchte sie, sich zusammenzureißen. Es gab keinen Grund zur Aufregung, sie konnte gelassen bleiben. Sie würde es schaffen. Tief holte sie Luft und atmete langsam aus. Dann öffnete sie die Tür.
»Hallo.« Nicolas stand lässig vor ihr und seine Präsenz flutete den Raum. Zu seinen üblichen schwarzen Hosen trug er ein enganliegendes hellgrauen T-Shirt und darüber seinen schwarzen Mantel. Eigentlich ein ausgesprochen unspektakuläres Outfit, aber Nicolas brachte es fertig, darin wie ein verfluchter Engel auszusehen.
»Hallo«, brachte Melissa heraus.
Interessiert musterte Nicolas sie und seine Miene machte kein Geheimnis daraus, dass ihm gefiel, was er sah. Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht und erst jetzt fiel Melissa auf, dass sie ihn ein paar Sekunden zu lange mit offenem Mund angestarrt hatte. »Bist du bereit?«
Schnell presste sie die Lippen zusammen. Hierfür konnte man gar nicht bereit sein. Statt einer Antwort griff sie betont selbstbewusst zu ihrem neuen dunkelroten Wollmantel. Als sie diesen in einer kleinen versteckten Boutique entdeckt hatte, wusste sie, dass er nur für sie gemacht war. Er hatte den gleichen Farbton, wie ihre Haare und harmonierte perfekt mit ihrer milchhellen Haut. Mit ihren Armen fuhr sie in die Ärmel und zog danach vorsichtig ihre Haare hervor, sodass sie sich in sanften Wellen über ihren Rücken ergossen. Sie griff nach ihrer Handtasche und nickte mit klopfendem Herzen.
Einen schrecklich langen Moment rührte Nicolas sich nicht und starrte sie an. Sein Lächeln war einem undefinierbaren Ausdruck gewichen, hungrig und erschrocken zugleich. Dann trat er zur Seite und ließ ihr den Vortritt.
Lasst gerne ein Sternchen da, wenn es euch gefallen hat!
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