20

»Wie alt bist du eigentlich?«

Überrascht drehte Nicolas den Kopf nach hinten, um Melissa genau anzusehen. Diese krallte sich augenblicklich an den Griff der Innenseite der Wagentür. Das konnte nicht gut gehen. Selbst ein Vampir mit übernatürlichen Instinkten war doch mit Sicherheit darauf angewiesen, auf die Straße zu sehen, wenn er schlangenartige Küstenstraßen mit quietschenden Reifen entlangbretterte.

Offenbar war das nicht der Fall und Nicolas behielt die Kontrolle über den Wagen, bis er mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht den Kopf wieder Richtung Fahrbahn wendete. »Du kannst ja sprechen. Mit mir. Und das ganz ohne Beschimpfungen. Es geschehen doch noch Wunder.« Da war er wieder, der Mistkerl, den sie kennengelernt hatte.

»Und du kannst genauso ekelig sein, wie eh und je. Ein Wunder ist wohl eher, wie du deinen Aufenthalt bei Josephina so anständig über die Bühne gebracht hast.«

»Och, das musste sein. Immerhin hatte ich Marlon und Adam versprochen, mich zu benehmen – Und ich habe es dir bereits gesagt, ich halte meine Versprechen.« Nicolas tiefe Stimme füllte den Innenraum des Wagens und versuchte Melissa unter die Haut zu kriechen. Aber darauf würde sie nicht reinfallen. Seinen Vampircharme konnte er sich sonst wo hinstecken.

»Das war mit Sicherheit die Bedingung, damit Josephina dich überhaupt in ihrem Haus duldet.«

»Nun, dulden ist fast übertrieben. Aber ja, das war die Bedingung. Und das, obwohl die alte Dame so reizend sein kann.«

Melissa lachte laut auf und überraschte sich selbst am meisten damit. »Ich fand sie ausgesprochen entgegenkommend.« Zugegeben, das war nicht ganz fair Adam gegenüber, den Josephinas abfällige Behandlung genauso getroffen hatte, wie Nicolas. Aber Melissa konnte darauf gerade keine Rücksicht nehmen. Sie hatte eine Schlacht zu gewinnen. Oder sowas Ähnliches. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, was sie hier tat. Sie hoffte inständig, Adam, der dem Gespräch vom Beifahrersitz interessiert folgte, möge ihr verzeihen.

»Du kannst also umgänglich sein, wenn du das willst.« Hatte sie das gerade tatsächlich laut gesagt? Autsch, Melissa biss sich fest auf die Zunge. Nicolas Anwesenheit, zumal auf so engen Raum wie in einem Wagen, machte sie noch immer nervös. Aber war es wirklich die beste Taktik, ihn zu provozieren, um das zu überspielen? Es war kaum mehr als einige Stunden her, da wollte er ihr an den Hals. Im wörtlichsten Sinne. Und sie wäre niemals alleine in der Lage, das zu verhindern.

»Sagen wir, ich weiß, was ich tun muss, um zu bekommen, was ich will.« Melissa konnte Nicolas im Rückspiegel selbstzufrieden grinsen sehen. Aus ihr unverständlichen Gründen fiel es ihr leichter, mit ihm zu reden, wenn sie sich nicht direkt ansehen konnten.

»Und?«, fragte Melissa knapp.

»Was und?«

»Wie alt bist du wirklich?« Melissa klang mutiger, als sie sich fühlte.

»Sieht man mir meine 23 Jahre nicht an?« Nicolas tiefe Stimme schnurrte jetzt fast. Er hatte eindeutig seinen Spaß an der Situation.

»Ich glaube dir kein Wort.«

»Du möchtest doch nicht etwa wissen, wie lange ich schon 23 bin?«

»So kann man es natürlich auch ausdrücken.«

Erneut drehte Nicolas seelenruhig den Kopf zu ihr um, inmitten einer schmalen Kurve. Sie hätte doch den Platz direkt hinter ihm wählen sollen. Mist, jetzt kam ihnen auch noch ein Auto entgegen. Reflexartig kniff Melissa die Augen zusammen und klammerte sich an dem Türgriff. Nicolas lachte leise.

»Ich wurde vor 158 Jahren zu einem Vampir.«

Der Gegenverkehr brauste an ihnen vorbei und Melissa atmete erleichtert aus.

Oh.

Was hatte er gerade gesagt? Wie alt war der Kerl?

Wow.

Melissa blieb der Mund offen stehen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Dass Nicolas älter war, als er aussah, auf jeden Fall. Dass es vielleicht sogar viele Jahre waren, möglich. Aber so verdammt alt. Das war Wahnsinn. Er stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert!

»Hat es dir die Sprache verschlagen? Oder bist du einfach zu deinem eisigen Schweigen, nur unterbrochen von kurzen Beschimpfungen, zurückgekehrt?«

Schnell schloss Melissa den Mund. Ihr Gehirn war noch viel zu sehr damit beschäftig, Nicolas Geburtszeit auszurechnen, als das es sich eine angemessene Antwort ausdenken konnte.

»Schade«, fuhr Nicolas fort, »wo wir uns gerade so nett unterhalten hatten.«

»Ich habe lediglich eine Frage gestellt. Nett unterhalten ist wirklich was völlig anderes. Das wird zwischen uns kaum passieren.« Also doch Provokation. Melissa zweifelte an ihrem Verstand. 

Warum zum Teufel sagte Adam denn nichts? Bislang hatte sie ihn als durchaus zuvorkommend und sympathisch erlebt. Doch jetzt saß er nur angespannt und schrecklich blass auf dem Beifahrersitz und schwieg.

»Das ist schade.« Theatralisch seufzte Nicolas auf. Mittlerweile waren sie in das Waldstück eingebogen, in dem Adams Haus stand.

»Wir könnten uns so toll amüsieren.« Er drosselte das Tempo und fuhr in die Einfahrt zum Haus ein. Das Auto stoppte.

»Bei unserem zweisamen Städtetrip heute Nacht.«

»WAS?« Melissa musste sich verhört haben. Was hatte der den eingeschmissen? Das konnte selbst Nicolas nicht erst meinen. Oder doch?

»Ich habe dir doch gesagt, das wir einen Ausflug machen.« Nicolas hatte den Motor abgestellt, sich ihr gänzlich zugedreht und dabei lässig den Arm über seine Rücklehne gelegt. Seine Augen funkelten belustigt, während er sie angrinste.

»Den haben wir doch gerade hinter uns gebracht.« Die Unsicherheit war ihrer Stimme deutlich anzuhören. Verdammt, nicht schon wieder.

»Das war nur ein kleiner Abstecher. Ich habe uns etwas Einladendes reserviert, in einem netten Hotel. Es wird dir gefallen.« Nicolas samtweiche Stimme jagte ihr eine Gänsehaut über den Körper und ihr Puls raste jetzt. Sie würde gleich heute anfangen mit Meditationsübungen, um ihre Körperfunktionen besser unter Kontrolle zu bekommen.

Adam stieß ein missbilligendes Zischen aus, was sein einziger Beitrag zum Gespräch blieb. Was war nur los mit ihm? Egal, sie konnte Nicolas durchaus alleine erklären, dass seine kruden Fantasien niemals Wirklichkeit werden würden. Was auch immer er sich von einem solchen Ausflug versprach ...

»Was lässt dich glauben, dass ich dich auf einen solchen Trip begleiten werde?«

»Es war keine Frage.«

Melissa wich das Blut aus dem Gesicht. Was hatte er vor? Der Typ litt eindeutig an völlig übersteigertem Selbstbewusstsein.

»Verdammt, Nicolas!«, schimpfte Adam jetzt. Na endlich. »Du solltest ihr die Situation auf eine anständige Art erklären. Falls du es nicht germerkt hast: das war nicht anständig.«

Nicht ohne Nicolas noch einen giftigen Blick zuzuwerfen, drehte sich Adam jetzt Melissa zu. »Was Nicolas dir versucht zu erklären, ist, dass er einige Angelegenheiten in der nächsten Stadt zu erledigen hat. Und da er nun mal nicht so weit reisen kann, ohne dass du ihn begleitest ...«
Bitte was? Adam ergriff das Wort für Nicolas? Das durfte doch nicht wahr sein. »Und wenn ich mich weigere?«, schoss sie giftig zurück? »Was kann schon so dringend sein, dass es sich nicht einige Tage aufschieben ließe?«

»Es tut mir leid Melissa.« Adam fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. »Du wirst dein eigenes Zimmer haben und musst Nicolas überhaupt nicht sehen. Tara hat einen Koffer für dich gepackt. Ist im Kofferraum. Morgen seid ihr schon wieder hier.«

»Aber ...«

»Wie gesagt, es tut mir wirklich leid.« Schneller als es jedem Menschen möglich gewesen wäre, hatte Adam den Wagen verlassen und die Tür hinter sich geschlossen.

Melissa starrte überrumpelt auf den nun leeren Beifahrersitz, während Nicolas bereits wieder von der Einfahrt fuhr. Was war hier los? Das war ein abgekartetes Spiel. Und Adam und Tara wussten es!

Panisch nestelte Melissa an ihrer Gurtschnalle, aber ihre zitternden Finger fanden nicht schnell genug den Knopf.

»Lass das lieber dran. Ist sicherer.« Nicolas zeigte auf ihren Gurt. »Andererseits: ich bin ein ausgesprochen umsichtiger Autofahrer.« Und ein zügiger Autofahrer war er obendrein. Der Wagen hatte bereits wieder Fahrt aufgenommen, und eine Flucht aus der Tür stellte keine ernsthafte Option mehr da.

»Was ist so verflucht dringend, dass du mich dafür entführst?« Einatmen, ausatmen. Melissa spürte, wie die altbekannte Wut sich in ihrem Inneren heiß ausbreitete.

»Ich entführe dich nicht. Morgen wirst du wohlbehalten und hoffentlich erholt zurücksein. Ich muss mich offensichtlich wiederholen: Dir wird bei mir nichts passieren.« Eine gewisse Verärgerung war ihm jetzt deutlich anzumerken.

»Aber mich selbst entscheiden lassen, ob ich das hier will, lässt du mich auch nicht.«

»Das kann ich nicht«, stieß er hervor. »Nicht in dieser Angelegenheit. Außer vielleicht ...«

»Außer was?« Am liebsten hätte Melissa das Lenkrad rumgerissen und das Auto schnurstracks zurückgefahren. Allerdings hätte sie damit im besten Fall einen für sie potentiell tödlichen Unfall provoziert, aus dem Nicolas selbstverständlich unbeschadet hervorgehen würde. Dieser drehte sich jetzt gereizt zu ihr um – verdammt, schaute der denn nie auf die Straße beim Fahren? – und ließ seine Zähne gefährlich aufblitzen. Der Anblick seiner markanten Eckzähne wirken wie ein unvermittelter Eisguss auf Melissa.

Nicolas Blick verdunkelte sich. »Außer, du meldest dich freiwillig zum Abendessen.«


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