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Mehrmals spuckte Nicolas aus, um den Dreck aus seinem Mund zu befördern und rieb sich über die geröteten Augen. Noch schmerzte jede Bewegung, aber die Taubheit in seinem Körper und das Brennen auf seiner Haut ließen bereits spürbar nach. Er machte sich nicht die Mühe zurückzublicken. Weg von hier, das war alles, was zählte. An diesen Ort würde er so schnell nicht zurückkehren.

Noch immer taumelnd klopfte er sich Staub und Schmutz von der Kleidung, mit mäßigem Erfolg. Die Sachen waren komplett ruiniert und hatten irreparable Brandschäden, ihr ehemaliger Wert war nicht mehr erkennbar. Nicolas strich sich mit den Fingern durch die Haare und befreite sie notdürftig von Blattresten, Sand und Erdbrocken. Sein Inneres war in schrecklicher Aufruhr und er hatte Mühe, seine Anspannung unter Kontrolle zu bringen. Jede Bewegung kostete ihn noch immer ungewohnt viel Kraft. Die Ereignisse hatten ihn stärker mitgenommen, als er sich eingestand. Wenn die Rothaarige nicht wie aus dem Nichts aufgetaucht wäre ... er stellte es sich besser nicht vor. Wer sie war und woher sie kam – ein Rätsel. Doch über dieses konnte er später grübeln.

Der Fußweg durch diesen verhassten Wald wirkte endlos und er atmete erleichtert aus, als er sein Auto erreichte. Zum Glück hatte er einen untrüglichen Orientierungssinn und lief nicht Gefahr sich in dieser Finsternis zu verlaufen. Für einen Moment lehnte er sich schwer gegen die Tür, um kurz Kraft zu sammeln. Seine Beine zitterten noch immer, doch er spürte, wie die Heilung voranschritt. Noch ein paar Minuten, dann wäre er wieder voll bei Kräften. Aber das änderte nichts an der Erschöpfung, die ihm in den Knochen saß.

Ein Gedanke stellte alles andere in den Schatten: eine heiße Dusche. Für dieses simple Vergnügen hätte er getötet. Nichts erschien verlockender, als den Schmutz und die Erinnerungen von seinem Körper zu waschen, zur Ruhe zu kommen und alles zu vergessen. Er würde ohne Umwege sein Quartier aufsuchen.

Nach dem Einsteigen zog er gewohnheitsmäßig sein Handy aus dem Handschuhfach. Nur selten trug er es am Körper. Es reichte ihm, wenn es in seinem Wagen auf ihn wartete, immerhin hatte er fast zweihundert Jahre ohne so ein Ding als ständigen Begleiter überstanden. Er schaute kaum auf das Display, als er es einschaltete, doch plötzlich stockte er. Was war da los? Neun unbeantwortete Anrufe von Adam, sechs von Tara, zwei von Marlon. Und etliche Textnachrichten. Allesamt mit dem gleichen Tenor: Melde. Dich. Sofort!

Sein Nacken begann unangenehm zu kribbeln. Was war passiert, während er hier beinahe draufgegangen wäre? Sein Blick huschte über die Nachrichten. Waren sie in Gefahr? Hatte er in seiner Abwesenheit etwas Wichtiges verpasst?

Fluchend tippte er auf Adams Bild und klopfte ungeduldig auf das Lenkrad, während sich die Verbindung aufbaute. Noch vor dem ersten Freizeichen klickte es und Adams Stimme drang scharf und unvermittelt durch die Stille. »Nicolas! Endlich! Verdammt! Wo warst du? Warum meldest du dich nicht? Wir dachten, du bist tot!«

Irritiert hielt Nicolas das Handy weiter von sich weg. Bildete er sich das Zittern in Adams Stimme nur ein? Was wusste dieser über die heutige Nacht? Aber wie könnte Adam ahnen, in welche Schwierigkeiten Nicolas sich gebracht hatte? Das war unmöglich. Was also brachte den jungen Vampir derart aus der Fassung?

»Ich ... was? Was ist bei euch los?«, fragte Nicolas mit erzwungener Ruhe. »Ist was passiert? Warum terrorisiert ihr mein Handy?«

»Was bei uns passiert ist? Bei uns?«, brachte Adam gepresst hervor und knurrte dann: »Nicolas, du kommst besser her. Sofort.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf.

Einen Moment lang starrte Nicolas fassungslos auf den Bildschirm. Er hasste es, durch die Gegend kommandiert zu werden, und normalerweise hätte er sich geweigert, einfach zu springen. Andererseits hatte Nicolas Adam selten so außer sich erlebt und dessen Verhalten ließ keine Zweifel – das hier war ernst. Trotzdem regte sich Widerstand in Nicolas. Er hatte gerade diesen Albtraum überstanden, er brauchte nur ein paar Minuten, um den Kopf frei zu bekommen. Für einen Moment wollte er das Handy einfach wegwerfen. Aber er wusste, dass das keine Option war. Was auch immer passiert war, es war wichtig. Mit einem tiefen Seufzen griff er nach dem Zündschlüssel. »Na toll«, murmelte er. Die Dusche musste warten.

Wenige Minuten später bog er schwungvoll in die kleine Straße am Waldrand. Der Kies knirschte unter seinen Reifen, als er auf die geschotterte Einfahrt einbog und den Audi zum Stehen brachte. Er parkte direkt neben Adams klapprigen Volvo, der vermutlich nur noch vom Rost zusammengehalten wurde. Nicolas war sich deutlich bewusst, welchen Kontrast dieses Bild darstellte. Das windschiefe Holzhaus vor ihm hätte zwar durchaus einen neuen Anstrich vertragen können, doch abgesehen davon gab es keine weiteren Auffälligkeiten. Das wertete er als gutes Zeichen.

Beim Aussteigen griff er nach seinem langen, schwarzen Mantel und zog diesen über. Ihm war nicht kühl, er fror eigentlich nie. Aber er hoffte, dass es ihm die ein oder andere Frage nach seinem ramponierten Outfit ersparte, hatte der noch saubere und wie gewohnt gepflegte Mantel doch während seines Waldausfluges im Wagen auf ihn gewartet. Ein Blick an sich hinab verriet ihm jedoch, dass an seinen versenkten Hosenbeinen nichts mehr schönzureden war. Es ließ sich nicht ändern.

Er stieg die wenigen Holzstufen zur Eingangstür hinauf. noch bevor er oben ankam, flog die Tür auf und ein wirbelwindartiges Etwas auf ihn zu.

Amia drückte sich fest an ihn und schluchzte seinen Namen. Erschrocken blickte Nicolas auf den an seinen Bauch gepressten braungelockten Wuschelkopf hinab. Schließlich löste er das kleine Mädchen mit leichten Druck von sich, kniete nieder und wischte ihr mit seinem Handrücken die Tränen von den Wangen. »Was ist denn los?«

»Wir hatten alle solche Angst um dich! Aber eigentlich dachte ich die ganze Zeit, du schaffst das. Aber dann war ich mir auch wieder nicht sicher«, brach es aus ihr heraus. »Ich war mir überhaupt nicht mehr sicher!« Erneut füllten sich ihre großen runden Augen mit schimmernden Tränen.

In Nicolas Besorgnis mischte sich Verwirrung. »Ihr hattet Angst? Um mich? – Und ich dachte, bei euch ist etwas passiert.«

»Bei uns ist alles gut,« schluchzte es weiter an seiner Brust. »Außer dass Adam dich jetzt umbringen will, weil du noch lebst.« Nicolas Verwirrung wuchs. Konnte seine kleine Familie wirklich wissen, was er in dieser Nacht durchgemacht hatte? Aber woher? Ein schleichendes Unbehagen breitete sich in seiner Brust aus.

Stirnrunzelnd blickte Nicolas auf. Hinter Amia stand Adam im Türrahmen mit zu Fäusten geballten Händen und zusammengepressten Kiefern. Der junge Vampir hatte die gleichen nussbraunen Augen wie seine Schwester, doch von Amias Sorge war dort keine Spur zu erkennen. Oder täuschte Nicolas sich? Er musterte seinen Freund genauer.

»Du kommst besser erst einmal herein«, knurrte Adam frostig und trat aus dem Türrahmen, um Nicolas Platz zu machen.

Mit Adam und Amia auf den Fersen und ohne sich die Mühe zu machen, die schweren Stiefel auszuziehen, betrat Nicolas den kleinen Vorraum und ging durch eine weitere Tür in das großzügig geschnittene Wohnzimmer des Hauses. Dieses strahlte eine einladende Wärme und Gemütlichkeit aus. Bei Tag gaben hier große Fensterfronten den Blick auf den Wald und den Garten frei, wurden jetzt aber von schweren Vorhängen verhüllt. Im Kamin knisterte ein Feuer und sorgte für wohlige Behaglichkeit im Raum.

Auf dem weichgepolsterten Sofa hing, anders konnte man das bei aller Liebe nicht ausdrücken, Marlons lange schlaksige Gestalt. Seine rotblonden Locken standen wirr von seinem Kopf ab und auch seine nicht zu seinem Gesicht passen wollenden Brille auf der zu großen Nase konnte nicht verbergen, wie angeschlagen dieser wirkte. Das der Zauberer zu dieser nächtlichen Zeit bei ihnen im Haus war, konnte nichts Gutes bedeuten. Nicolas nickte Marlon grimmig zu.

Neben der Tür entdeckte er Tara. Was nur hatte sie hergeführt? Mit verschränkten Armen lehnte die Vampirin an der Wand und schien geradewegs auf ihn hinabzublicken. Wie sie das anstellte, war Nicolas ein Rätsel, war sie doch ein gutes Stück kleiner als er selbst. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte sie ihn von oben bis unten und zweifelsfrei entging ihr kein Detail seines ungewöhnlich mitgenommenen Zustandes. Spöttisch blickte sie ihn an, als wolle sie sagen: Na, kleiner Bruder, da hast du ja wieder was angestellt.

Tara schlenderte auf Nicolas zu. Wie selbstverständlich drückte sie ihn auf das Sofa direkt neben Marlon. Nicolas sah keinen Sinn darin, sich zu wehren, hob entwaffnend die Hände und ließ sich sinken. Sollte sie ihren Spaß haben, Nicolas war zu erleichtert, um sie aufzuhalten. Offenbar ging es allen gut. Jetzt wollte er wissen, was los war.

Es war Redezeit.

»Also dann mal los, erzähl!«, kam Tara direkt zur Sache.

Fragend hob Nicolas eine Augenbraue. »Ihr habt mich angerufen. Ihr wolltet, dass ich herkomme. Vielleicht klärt ihr mich erst einmal auf, was los ist?«

Bei diesen betont lässig dahin geworfenen Worten verlor Adam die Beherrschung. »Verdammt! Findest du das lustig? Du weißt genau, worum es geht. Oder hast du deinen Abend etwa genossen? – Nichts Ungewöhnliches passiert, nein? Also wir hatten ja einen Heidenspaß, während wir fast gestorben sind vor Angst um dich«, schoss es aus ihm heraus. Da war sie, die Sorge, die Nicolas zuvor noch nicht in Adams Miene hatte erkennen können.

Er erinnerte sich nicht, seinen Freund jemals so aufgebracht gesehen zu haben. Aber wenn Adam tatsächlich über den vergangenen Abend Bescheid wusste ... Er beschloss, erst einmal abzuwarten.

»Was Adam dir verständlich machen möchte,« setze nun Tara mit gelassener Stimme an, »ist, dass wir alle Hände voll zu tun hatten, dich heute Abend nicht sterben zu lassen – kein Problem, gern geschehen. Der besondere Dank geht dann bitte an Amia und Marlon.« Mit ausladenden Gesten zeigte sie auf die beiden. »Hast du nun etwas dazu zu sagen?«

Nicolas stöhnte innerlich auf. Sie wussten es also. Woher?

»Also offensichtlich nicht«, fuhr Tara fort. »Dann alles der Reihe nach. Unsere süße, kleine Amia hier,« dabei drückte sie das Mädchen demonstrativ und schenkte diesem ein kurzes, warmes Lächeln, »hatte heute Abend urplötzlich angefangen sich um dich zu sorgen. Regelrecht panisch wurde sie. Und wir alle kennen unser kluges Mädchen und wissen um ihre Feinfühligkeit. Sie machte Adam die Hölle heiß, dass etwas mit dir nicht in Ordnung wäre.«

Es stimmte, was Tara über Amia sagte. Ihr empathisches Einfühlungsvermögen war erstaunlich und immer wieder fand sie wie zufällig die unwahrscheinlichsten Dinge, gerade in dem Moment, wo diese benötigt wurden. Adam witzelte hin und wieder, dass Amias Intuition schon an Hellseherei grenzte. Nicolas war sich nicht sicher, ob diese Grenze überhaupt existierte. Das Kind hatte eine Intuition, die unheimlich war.

»Zum Glück war Marlon gerade zu Besuch. Amia flehte ihn an, nach dir zu sehen.«

»Oh, oh!«, entfuhr es Nicolas gequält. Langsam begannen sich einige Puzzleteile zusammenzusetzen. Und das Bild, das sich bildete, gefiel ihm nicht.

»Nichts oh, oh. Was hätten sie denn sonst tun sollen? Ans Handy bist du ja nicht gegangen. Und Marlon ist mittlerweile wirklich gut darin, jemanden mit seiner Magie aufzuspüren.«

Marlon, der nach wie vor neben Nicolas saß und inzwischen wieder etwas Farbe im Gesicht hatte, konnte sich ein nervöses Lächeln nicht verkneifen. Vermutlich war Lob für den Zauberer eine Seltenheit. Meistens, wenn er seine Fähigkeiten einsetzte, fing etwas Feuer oder es gab kleine Explosionen. Nicolas zog es vor, Abstand von dessen Wirken zu halten, wobei er durchaus der Meinung war, dass ein schlechter Zauberer im Bekanntenkreis besser war, als gar keiner. Dass dieser aber nun seine Fähigkeiten auf Nicolas ausgerichtet hatte, ließ nichts Gutes ahnen.

»Was hat er angerichtet?«, finster betrachtete Nicolas Marlon. Dieser schwieg.

»Er hat getan, was er konnte«, sagte Tara scharf. »Er hat dich ausfindig gemacht, durch sein geistiges Auge, oder wie auch immer man das ausdrückt. Doch was er gesehen hat, hat Adam und Amia zutiefst erschreckt. Soll er dir erzählen, in welcher Situation er dich vorfand, oder ziehst du es vor, dich wieder an deinen Abend zu erinnern?«

Marlon verschluckte sich fast bei Taras Vorschlag und alle Farbe, die sein Gesicht gerade erst wiedergefunden hatte, verschwand erneut. »Entschuldige, Nicolas, ich wollte nicht spionieren ...«, stammelte er.

»Schon gut,« knurrte Nicolas ohne den Zauberer eines Blickes zu würdigen, »ich weiß ausgesprochen gut, was passiert ist. Es besteht keine Notwendigkeit, alles zu wiederholen ... wann genau seid ihr eingestiegen?«

»Als du dich von den Typen zu Brei schlagen lassen hast. Ohne jede Gegenwehr. Nicht gerade dein typisches Verhalten. Hat ein wenig für Panik bei allen Anwesenden hier geführt. Später haben wir gemeinsam gegrübelt, was es mit der Frau am Feuer auf sich hatte. Sicher wäre es eine bösartige Unterstellung zu behaupten, diese könnte dich zu einer gewissen Unvorsichtigkeit verleitet haben. Oder dass du deinen Verstand direkt komplett abgestellt hattest.«

Fuck. Sie hatten ihn ausspioniert und alles miterlebt, genau den Teil seines Tages, von dem er sich fest vorgenommen hatte ihn möglichst tief in seinen Erinnerungen zu vergraben und nie wieder herauszuholen. Das verpasste seiner schlechten Laune einen erheblichen Dämpfer. Marlon musste das klar sein, so wie er sich neben ihm wand. Hatte der kleine Zauberer sich doch einfach in sein Leben eingeklinkt, als würde er ihn mit geheimen Kameras verfolgen. Magische Kameras, aber das Ergebnis war dasselbe: Big Brother Show.

Und was die Frau betraf, musste Tara natürlich gleich die richtigen Schlüsse ziehen. Er schloss die Augen, hauptsächlich um zu verbergen, wie er diese genervt verdrehte. Seine Schwester kannte ihn einfach zu gut. Zumindest verstand Nicolas jetzt, warum Adam und Amia so aufgebracht waren. Hoffentlich hatte Marlon nicht zu detailliert bericht erstattet. Nicolas' Blick huschte zu dem kleinen Mädchen, um zu prüfen, wie traumatisiert dieses wirkte. Amia sah ihn mit großen Augen an. Schwer zu sagen, was sie dachte. Ihren Blick zu ertragen fiel Nicolas ungleich schwerer, als Taras scharfem Verhör standzuhalten.

Mit Grausen stellte Nicolas sich vor, wie Marlon in tiefer Trance verharrt haben musste, seinen Geist ganz auf das Geschehen im Wald gerichtet. Die anderen unverzüglich über jede Entwicklung informierend. Live.

Warum dies Nicolas aber das Leben gerettet haben sollte, war ihm schleierhaft, war es doch die fremde Frau im Wald gewesen, der ihn vor den Flammen gerettet hatte. Nichts, mit dem Marlon zu tun haben konnte.

Es seie denn ...

Oh, nein!


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