19
»Wir machen heute einen Ausflug.«
Kein guten Morgen oder ein einfaches Hallo, kein wie geht es dir und vor allem: Es stellte keine Frage dar. Eine simple Mitteilung. Mehr nicht.
Melissa hatte es sich mit Amia, einigen Blättern Papier und einer Packung Buntstifte am Küchentisch bequem gemacht, als Nicolas sich so schnell und lautlos in den Raum bewegte, wie es nur jemanden mit den Superfähigkeiten eines Vampirs möglich war. Und bevor Melissa seine Anwesenheit überhaupt bemerkte, drang seine dunkel Stimme selbstgefällig bis zu ihrem Ohr vor. Sie zuckte heftig zusammen, sodass sie dabei einen der Stifte auf den Boden stieß und ihr Puls beschleunigte sich, ohne die Erlaubnis ihres Willen dafür abzuwarten. Sie ärgerte sich maßlos über ihre unkontrollierbaren körperlichen Reaktionen, insbesondere da ihr klar war, dass Nicolas diese nicht entgingen. Das musste sie dringend in den Griff bekommen. Vielleicht wäre ein Herzschrittmacher eine Option.
Bis zu diesem Moment hatte Melissa nicht gewusst, ob er sich überhaupt im Haus aufhielt und hatte die leise Hoffnung gehegt, ihm an diesem Tag nicht begegnen zu müssen. Jetzt grinste Nicolas sie provozierend freundlich quer durch den Raum an, seine Augen kühl und klar. Betont lässig schritt er auf sie zu und Melissa hätte schwören können, dass die Luft im Zimmer mit einem Mal ganz dünn wurde.
Wo waren Tara und Adam? Gerade hatte sie sie doch noch gesehen.
Hilfe.
Melissa strengte sich an, den Impuls zu unterdrücken, Amias Hand zu ergreifen, um sich an dem kleinen Mädchen festzuklammern.
»Das heißt ›Guten Morgen‹, wenn man den Raum betritt.« Das Mädchen malte zuerst in Seelenruhe ein paar Striche an ihrem Kunstwerk zu Ende, bevor sie den Stift beiseitelegte und Nicolas anlächelte. »Adam sagt, es ist immer Zeit für Höflichkeit.«
Nicolas zog amüsiert über die Belehrung die Augenbrauen in die Höhe und näherte sich Amia mit schwebenden Schritten. »Höflichkeit ist die angenehmste Form der Heuchelei.« Verschmitzt zwinkerte er ihr zu und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
Melissa kam es vor, als würde eine Decke aus Dunkelheit von Nicolas gezogen, während er mit Amia agierte. Welchen Zauber auch immer dieses Kind auf ihn ausübte, um ihn in Zaum zu halten, sie wollte auch etwas davon.
Nicolas ging um das Mädchen herum, so dass er direkt neben Melissa zum Stehen kam. Er legte den Kopf leicht schräg und steckte die Hände in die Taschen seiner eng anliegenden schwarzen Hosen, dann musterte er sie von oben bis unten. Seine dunklen Haare fielen ihm in die Stirn, während er einen Mundwinkel in seinem ebenmäßigen Gesicht kaum merklich nach oben zog. Und mit einem Mal war sie sich nicht mehr sicher, ob ihre Nervosität einzig aus ihrer Angst hervorwuchs. War es erlaubt, dass jemand, der so ein arroganter Arsch war, so unverschämt gut aussah? Irritiert schüttelte Melissa den Kopf. Sie durfte nicht vergessen, was sich hinter diesen vollen, etwas blassen Lippen befand. Sie konzentrierte sich darauf, ihre Atmung ruhig und gleichmäßig klingen zu lassen.
Nicolas schnalzte mit der Zunge. »Nette Schuhe. Nichts, das ich für dich ausgewählt hätte, aber ich vermute, sie erfüllen ihren Zweck.«
Melissa beschloss, dass dies keiner Antwort würdig war, und funkelte ihn nur verächtlich an. Dieses Spiel konnten auch zwei spielen.
Solange sie nicht vergaß, regelmäßig ein- und auszuatmen.
»Wohin gehen wir denn?«, erkundigte sich Amia jetzt nach dem Ausflugsziel.
Mit geschmeidigen Bewegungen ging Nicolas vor dem Mädchen in die Hocke, genau zwischen Melissa und dem Kind, sodass er direkt in Amias Gesicht sehen konnte - und wie zufällig seine Schulter an Melissas stieß. Eine klare Herausforderung.
Fuck.
Einatmen. Ausatmen. Melissa weigerte sich, auch nur die Spur von Angst durchscheinen zu lassen. Es war so offensichtlich, dass er mit ihr spielte. - Und es genoss.
Sie konnte Nicolas aromatischen Geruch wahrnehmen und seine Körperwärme drang durch den Stoff ihrer Kleidung zu ihr durch. Fast glaubte sie, eine prickelnde Energie würde von ihm ausgehen. Nur eine Sekunde lang. Definitiv eine verstörende Sekunde.
»Du, mein Engel,« raunte Nicolas Amia zu, »bleibst heute leider zu Hause. Es tut mir leid, aber dieser Ausflug ist nur für mich und Melissa.«
Amia verzog schmollend den Mund und Nicolas erhob sich. Strahlend sah er Melissa an. »Also, bist du bereit?«
Mit offenem Mund starrte sie ihn an und trotz aller Anstrengungen raste ihr Puls jetzt wie ein wildes Pferd davon. Nicolas lachte leise auf. Nichts anderes hatte er beabsichtig.
Dieses kleine Lachen jedoch ließ eine heiße Welle des Zorns über Melissa zusammenschlagen. Wie konnte er es wagen, so über sie zu bestimmen. Ungehindert ließ Melissa die Wut in ihr anwachsen. Es war die beste Waffe gegen Angst, die sie kannte.
Sie biss die Zähne zusammen. »Ich werde mit dir nirgendwo hingehen«, presste sie heraus.
»Du ziehst es also vor, keinerlei Information über die Natur unsere zauberhaften Verbindung in Erfahrung zu bringen und dass wir den Rest unseres Lebens aneinandergekettet sind?«, fragte Nicolas vollkommen gelassen. »Eine interessante Vorstellung. Bist du dir sicher, dass das dein Wunsch ist?«
Melissas Mund wurde trocken. »Was sollen das denn für Informationen sein?« Mit zusammengepressten Lippen blickte sie Nicolas unmittelbar in die Augen.
»Zum Beispiel über die genaue Natur dieser ungeplanten Nebenwirkung. Marlon konnte sich leider nur bedauernd vage dazu äußern. Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als jemanden zu befragen, der sich in der Welt der Zauberei wirklich auskennt.«
»Und wer soll das sein?«
»Eine reizende kleine Hexe. Marlons Großmutter. Du wirst sie mögen.«
Darauf war Melissa nicht vorbereitet. Nicolas wollte Marlons Großmutter besuchen. Lia hatte ihr gesagt, dass Marlon bei dieser wohne. Eine Tatsache, für die Melissa jetzt unglaublich dankbar war, da dieser sicher ebenfalls anwesend wäre und sie damit nicht gänzlich alleine mit Nicolas und der ihr unbekannten Frau. Und auch wenn sie es niemals laut aussprechen würde, musste sie zugeben, dass Nicolas Idee Sinn zu machen schien. Aber dennoch, wie sollten sie dorthin gelangen? Sie vermutete, dass Marlon nicht direkt um die Ecke wohnte. Und noch einmal mit Nicolas alleine in seinem Auto zu fahren - dagegen wehrte sich alles in ihr.
Kaum zehn Minuten später fuhr der schwarze Audi aus der gekiesten Einfahrt.
In seinem Inneren befanden sich Nicolas und Adam. Und auf der Rückbank, hinter Adam, so weit wie möglich von Nicolas entfernt, saß Melissa. Sie hatte sich schlichtweg geweigert, mit Nicolas alleine zu fahren, und war bei Tara durchaus auf Verständnis gestoßen. Melissa hatte gehofft, Tara würde sie begleiten, aber zu ihrer Enttäuschung hatte sie Adam dazu abberufen.
Es war keine lange Fahrt, kaum länger als eine halbe Stunde. Doch das eiserne Schweigen der drei Insassen zog die Zeit in die Unendlichkeit. Melissa wünschte sich sehnlichst, Adam würde irgendetwas sagen oder mit Nicolas ein Gespräch beginnen. Aber er tat es nicht. Verdammt, angeblich standen die beiden sich doch nahe. Melissa hatte davon bislang nichts mitbekommen. Adam war ungewöhnlich still und wirkte gereizt. Er sah nicht wirklich fit aus, nicht so energiegeladen und unverwüstlich, wie sie ihn kennengelernt hatte. Konnten Vampire krank werden?
Würde sie es nicht besser wissen, alle ihre unzureichenden Informationen, die sie bislang über Vampire hatte, würde sie zu dem Schluss bringen, dass Adam - nun ja, - hungrig war.
Und sie wusste es tatsächlich nicht besser.
Schließlich fuhren sie auf einer engen Küstenstraße, welche sich entlang von schroffen Klippen schlängelte und faszinierende Ausblicke auf das weite Meer bot. Melissa hätte durchaus Ehrfurcht vor diesem Anblick empfinden können, wäre Nicolas nicht in einem atemberaubenden Tempo um die engen Kurven gerast, an deren Rand die Felswände oft bedenklich tief hinabfielen und in schroffen Felsen im Meer mündeten. Melissa hoffte inständig, dass seine übermenschlichen Reflexe ihm dabei halfen, die riskanten Manöver zu kontrollieren. So aber saß sie angespannt und mit pochendem Herzen im Wagen und schloss mehr als einmal die Augen, um nicht versehentlich kurz aufzuschreien. Als sie schließlich an ihrem Ziel ankamen, fühlte Melissa sich regelrecht befreit und sie konnte fühlen, wie ihr Körper sich etwas entspannte.
Durch das Autofenster erblickte Melissa das alte Cottage von Marlons Großmutter, welches aus markanten Feldsteinen erbaut war und an dessen Seiten jeweils ein hoher Schornstein emporkroch. Die Wände waren von Moos und Efeu überwachsen, der sich bis zum schiefergedeckten Dach hinaufwand. Die Fenster des Cottages waren klein und tief in die Mauern eingelassen und die Holzrahmen wiesen eine sanfte Verwitterung auf. An der linken Seite befand sich ein kleiner Kräutergarten. Wilde, ungemähte Wiese und eine kaum kniehohe Steinmauer, in deren Ritzen die verschiedensten Pflanzen wucherten, umgaben das Häuschen. Hinter dem Cottage, nicht mehr als hundert Meter, streckte sich das tosende Meer aus, das weit unten gegen die scharfkantigen Klippen schlug.
Melissa wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber dieses kleine Anwesen inmitten der rauen Schönheit der schroffen Küstenlandschaft strahlte eine so geheimnisvolle und bezaubernde Aura aus, dass sie sich unweigerlich angezogen fühlte.
Die grüngestrichene schwere Eingangstür stand weit offen und eine alte Frau begutachtete sie misstrauisch. Sie wurden bereits erwartet.
Melissa überlegte, ob diese ihre Ankunft auf magische Weise erspürt hatte - aber vermutlich hatten Adam oder Tara sie schlicht telefonisch angekündigt. Nicolas besaß diese Höflichkeit eher nicht.
Noch bevor Melissa die Wagentür öffnen konnte, flog diese auch schon auf und Nicolas bedachte sie mit einem aufgesetzten Grinsen. »Na, was ist? Kommst du endlich? Du willst uns doch nicht warten lassen?«
Leise zischte Melissa etwas durch ihre Zähne, was klang wie: »Dich würde ich warten lassen, bis die Hölle einfriert.«
Sie stieg aus dem Wagen und lief demonstrativ an Nicolas vorbei in Richtung Haustür. Die beiden Vampire folgten ihr.
Marlons Großmutter - um diese musste es sich handeln - war eine kleine Frau mit durch Alter gebeugter Haltung und langen grauen Haaren, die ihr in einem dicken Flechtzopf den Rücken hinunterhingen. Sie trug einen weiten Pullover und fließende Hosen und beobachtete die drei Neuankömmlinge aus wachen Augen, welche in ihrem runzeligen Gesicht voller Energie aufleuchteten.
»Hallo, du musst Josephina sein.« Melissa hielt der alten Dame die Hand hin, welche diese mit beiden Händen ergriff und unerwartet fest drückte.
»Und du bist Melissa. Ich habe dich bereits erwartet. Komm rein, wir haben einiges zu besprechen.« Sie fasste Melissa am Ellbogen und schob sie durch die Tür, ohne auf die beiden Männer weiter zu achten. Überrascht folgte Melissa der humpelnden Frau durch einen dunklen Flur in eine überraschend geräumige Küche. Nicolas und Adam folgten unaufgefordert.
Die Küche war mit alten, massiven Holzmöbeln eingerichtet und von der Decke hingen Bündel verschiedener, getrockneter Kräuter, die ihren Duft verströmten. Auf den Regalen befanden sich zahllose Bücher und Dutzende verschiedener Gläser unterschiedlicher Größe, gefüllt mit Gewürzen und Kräutern und weiteren undefinierbaren Inhalten. Alles war akkurat beschriftet und sortiert. Ein alter, gusseiserner Herd rundete das Gesamtbild ab. Fasziniert blickte Melissa durch das kleine Küchenfenster, durch das man einen atemberaubenden Blick auf die wilden Wellen und majestätischen Klippen hatte, die in der Ferne aufragten.
»Setz dich, meine Liebe.« Die alte Frau schenkte ihr ein warmes Lächeln, dann wandte sie sich zu Nicolas und Adam: »Und ihr zwei auch, ist ja unerträglich, wie ihr im Weg herumsteht.«
Nicolas schnappte sich ungerührt einen der schweren Stühle und ließ sich elegant auf diesen nieder. Adam jedoch kniff die Augen zusammen und ihm war ein gewisses Unbehagen anzusehen. Josephina machte keinen Hehl daraus, dass ihr diese zwei ihrer Gäste nicht willkommen waren.
Mit einer Seelenruhe goss Josephina dampfenden Tee aus einer Kanne in eine Tasse und stellte diese vor Melissa auf den Tisch.
»Für euch beiden hab' ich leider nichts.«
»Wir kommen prima zurecht. Danke für die Fürsorge.« Nicolas verzog spöttisch einen Mundwinkel. Fast erwartete Melissa, dass er demonstrativ die Füße auf den Tisch legen würde. Zu ihrer Erleichterung tat er nichts dergleichen.
»Vielen Dank für die Einladung«, sagte Adam.
»Ich habe euch sicher nicht eingeladen.« Josephina verzog verächtlich das Gesicht. »Das fehlte mir gerade noch, Blutsauger in meinem Haus. Nein, ihr seid nur hier, weil Marlon darauf gepocht hat. Und das erstaunlich hartnäckig. Ist mir ein Rätsel, was er an dir findet. Du wärst als Mensch schon kein guter Umgang gewesen, aber so...« Verächtlich wanderte ihr Blick nun an Adam hoch und runter.
Melissas Mund öffnete sich irritiert. Mit dieser Wendung hatte sie nicht gerechnet. Doch bevor sie Partei für Adam ergreifen konnte, hörte sie eine empörte Stimme von der Küchentür. Marlon hatte den Raum betreten.
»Josi! So wirst du nicht mit meinen Freunden reden. Wir wissen alle, was du von Vampiren hältst. Du musst es nicht betonen. Entweder du reißt dich jetzt zusammen, oder wir brechen das Ganze hier ab.«
Melissa konnte sich nicht erinnern, Marlon jemals so bestimmt sprechen gehört zu haben. Unwillkürlich musste sie lächeln.
»Schon gut, schon gut. Scheint ja immerhin eine gute Sache zu haben. Ist bis jetzt das einzige Thema, bei dem du mal etwas Kampfgeist zeigst,« murrte Josephina. »Das will ich natürlich nicht unterbinden. Wobei du durchaus in der Lage bist, nettere Freunde zu finden. Bei Lia hat es ja auch geklappt.« Mürrisch streckte die alte Frau das Kinn hervor.
Melissa war überrascht, wie gelassen die beiden Vampire blieben. Keiner von ihnen verzog eine Miene.
»Zum Glück entscheide ich immer noch selbst, mit wem ich meine Zeit verbringe.« Marlon setzte sich jetzt zwischen Adam und Nicolas an den Tisch und blickte seine Großmutter finster an. Keiner sprach.
Melissa nestelte nervös an ihrem Ärmel. Die alte Frau hatte sie herzlich begrüßt. Eigentlich konnte sie sich nicht beschweren. Aber Adam hatte diese Behandlung nicht verdient. Nicht einmal Nicolas hatte sich bislang etwas zu Schulden kommen lassen. Die beiden taten ihr leid - Okay, Adam tat ihr leid. »Vielleicht sollten wir einfach mit dem Thema beginnen, weswegen wir hier sind?«, schlug sie nervös vor.
»Gut«, sagte Josephina, »umso schneller sind wir fertig.«
»Marlon hat dir sicher schon erklärt, was an dem betreffenden Abend vorgefallen ist?« Nicolas seidigweiche Stimme floss jetzt durch den Raum.
Wow, Nicolas konnte sich beherrschen. Nicht nur das, er klang geradezu freundlich, ja charmant. Das brachte Melissa mehr aus dem Konzept, als Josephinas vorhergehende Ablehnung den Vampiren gegenüber. Für einen Moment starrte sie ihn mit offenem Mund an.
Doch Josephina ließ sich nicht beeindrucken. »Ja, ja. Natürlich. Er hat mir erzählt, dass er ungefragt eine Zauberformel von mir eingesteckt hatte. Den ultimo Salvatio Zauber,ein Rettungszauber. Und schließlich wendete er diesen an, ohne den Hauch einer Ahnung zu haben, was er da tut. Nicht sonderlich schlau, wenn man mich fragt.« Grantig wackelte die alte Frau mit dem Kopf.
»Aber in diesem Fall«, und jetzt stahl sich ein schadenfrohes Grinsen auf ihr Gesicht, »hat es den Richtigen getroffen.«
Josephinas Blick hing provokativ an Nicolas. Dieser jedoch ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Marlon hat uns erklärt, der Zauber habe Nebenwirkungen. Wie kommen diese genau zustande?«
»Marlon hat stärkere Kräfte, als er weiß. Deutlich stärkere, als ich selbst. Und es handelt sich um eine mächtige Formel. Doch diese anzuwenden, ohne zu wissen wie sie wirkt, ohne seine eigenen Kräfte kontrollieren zu können und somit ohne den Zauber in seine Schranken zu weisen, war ein großes Wagnis. Ihr könnt froh sein, dass ihr so glimpflich davon gekommen seid. Wenn Magie keinen konkreten Auftrag erhält, dann handelt sie nach ihren eigenen Regeln. Was auch immer die Magie für den besten Ausgang des Zaubers hält, den Weg erwählt sie. Und das kann so ziemlich alles sein. Warum sie jedoch der Meinung war, dass dein Leben würdig war, erhalten zu werden, ist mir ein Rätsel.« Wieder richtete sich Josephinas Blick auf Nicolas.
»Danke«, antwortete dieser zuckersüß. »Aber mit diesem Aspekt des Zaubers bin ich ganz zufrieden, das war nicht der Punkt, den wir heute klären wollten.«
Josephina prustete verächtlich aus.
Nervös rutschte Melissa auf ihrem Stuhl hin und her. Sie wusste, was Nicolas wissen wollte. Aber sie selbst hatte noch eine ganz andere Frage, die ihr seit der verhängnisvollen Nacht im Wald unter den Nägeln brannte: »Warum ich?« Angespannt strich Melissa mit den Fingerspitzen über die raue Tischplatte. »Warum hat der Zauber ausgerechnet mich in den Wald gebracht? Von allen Menschen auf dieser Welt. Wenn er doch jeden hätte wählen können.«
»Das ist eine gute Frage.« Josephina nickte ihr lächelnd zu. »Da der Zauber so frei und unkontrolliert gesprochen wurde und nun seinen eigenen Regel folgt, kann ich es nur vermuten. Es handelt sich um einen Errettungszauber. Das kann vieles bedeuten. Entweder, er befand dich am geeignetsten zur Rettung von Nicolas Leben, oder du selbst befandest dich in einer Situation, aus der du eine Rettung bedurftest. Eventuell ist auch beides der Fall.«
Melissa konnte spüren, wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich. Ihr fiel umgehend wieder die Dramatik ihrer Situation ein, in der sie sich befunden hatte, als der Zauber sie erfasst hatte.
Ihr war klar, dass den anderen bereits bewusst war, dass in ihrem eigentlichen Leben nicht alles zum Besten stand, obwohl sie nie über ihr Leben vor dem Zauber sprach und keiner sie zum Erzählen gedrängt hatte. Aber jetzt konnte sie die bohrenden Blicke körperlich spüren.
»Also ging es nicht nur um die Rettung von Nicolas?« Nachdenklich strich Adam sich über die Unterlippe.
»Nein, bei dieser Art der Ausführung ist es ziemlich wahrscheinlich, dass der Zauber die Rettung aller Beteiligten im Sinn hatte.«
»Willst du damit sagen, dass auch Melissas Leben zum Zeitpunkt der Durchführung in Gefahr war?«
Melissa versteifte sich. Sie wollte auf keinen Fall von ihrem häuslichen Drama vor ihrem Auftauchen im Wald berichten.
»Nicht unbedingt«, sagte Josephina und Melissa entspannte sich etwas. »Menschen - oder Vampire - können auf vielerlei Arten errettet werden. Es ist kein spezifischer ›Lebensrettungszauber‹. Möglicherweise sieht der Zauber mehr eine Art metaphorische Rettung vor - die Erlösung aus einer bestimmten bedrohlichen Situation, in der man Schaden nehmen könnte, oder einer ungünstigen Lebenssituation. Eventuell zielt die Magie auch darauf ab, eine einschränkende innere Haltung zu überwinden, oder eine bestimmte Lernaufgabe zu vollführen. Der Zauber könnte auch versuchen ein zukünftiges bedrohendes Ereignis zu verhindern. Es könnte quasi alles sein. Oder ich irre mich und es ging doch immer nur um die Rettung des Lebens. Was weiß denn ich schon?«
»Offensichtlich weniger, als wir gehofft hatten.« Nicolas wirkte eher nachdenklich als vorwurfsvoll. »Wie kommen die Nebenwirkungen zustande? Kannst du uns das genauer erklären?«
Josephina legte beide Handflächen aufeinander und atmete tief ein. »Nachwirkungen eines Zaubers gibt es nur, wenn der Zauber noch nicht vollendet ist. Dann zeigen sich unerwartete ›Symptome‹. Diese bleiben solange erhalten, bis der Zauber sein Ziel erreicht hat.«
»Was heißt das in diesem Fall?« Nicolas Stimme klang angespannt.
»Das heißt, einer von euch wurde noch nicht gänzlich errettet.« Josephina tippte jetzt mit den Fingerspitzen gegeneinander. »Und keiner kann euch sagen, worauf genau diese Rettung abzielt. Und würde diese ganze Angelegenheit nicht auch Melissa betreffen, so fände ich sie tatsächlich recht amüsant.«
»Was können wir jetzt tun?« Melissa war verwirrter als zu Beginn des Gesprächs.
»Oh Liebes, für dich tut es mir ehrlich leid. Aber wenn ihr diese magische Verkettung auflösen wollt, dann bleibt euch nichts anderes übrig, als den Zauber zu vollenden. Erst, wenn dieser sein Ziel erreicht hat, werden alle seine Symptome enden. Erretet euch gegenseitig. Auf welche Art, das müsst ihr selbst herausfinden.« Bedauernd zuckte sie mit den Schultern.
»Gibt es denn keine Alternativen? Ein Gegenzauber, Auflösungszauber, irgendwas?« Melissa schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte vor sich. Sie konnte nicht glauben, was sie hörte. Der Zauber war nicht beendet. Es waren nicht alle Beteiligten auf die richtige Art errettet worden. Was sollte das überhaupt sein, die richtige Art? Es war zum Schreien unkonkret. Und genau das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Ja, sie fühlte sich wohl bei Adam und Tara und Amia. Besser als seit langer Zeit. Aber an Nicolas wollte sie keinen Tag länger gebunden sein. Dieser Zauber musste beendet werden, so schnell wie möglich. Warum war er das nicht schon lange? Hatte sie Nicolas nicht bereits das Leben gerettet? Feuer tötete Vampire, so viel hatte auch Melissa mittlerweile verstanden. Ohne sie hätte er keine Chance gehabt. Warum war der Zauber dann nicht beendet?
Und sie selbst? Sie war durchaus einer Ausnahmesituation entrissen worden. Das musste doch zählen. Was übersahen sie?
»Es gibt keine Alternative.« Mitleid stand in Josephinas Augen.
Melissas sprang auf und ihre Stimme wurde schrill. »Das kann ich nicht akzeptieren!«
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Nicolas sie mit schräggelegtem Kopf merkwürdig musterte. Doch er sagte nichts. Er musste sich doch mindestens genauso aufregen, wie sie selbst. Wie konnte dieser Mistkerl nur so ruhig bleiben? Gerade jetzt? Irgendwie mussten sie Josephina dazu bringen, sich eine andere Lösung einfallen zu lassen.
»Bitte!«, wimmerte Melissa jetzt deutlich leiser. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Bitte! Etwas muss es geben, dass wir tun können.« Josephina erhob sich ebenfalls und griff nach Melissas Hand und tätschelte diese. »Es tut mir leid, ich kann dir nichts anderes sagen. Es bleibt euch nur die Möglichkeit zusammenzuarbeiten und das Ziel des Zaubers zu erreichen oder ewig mit euren Ketten zu leben.«
Melissa schloss resigniert die Augen. Sie würde für immer in dieser verfluchten Verbindung gefangen bleiben.
Josephina hob den Kopf und ihr Ausdruck verhärtete sich, als sie zu den zwei Vampiren blickte.
»Es wird Zeit, dass ihr wieder geht. Ich habe euch alles gesagt, was ich weiß. Jetzt verlasst mein Haus.«
Wortlos erhoben sich Nicolas und Adam und gingen Richtung Tür. Josephinas Hand hielt Melissas jedoch weiterhin fest umklammert. »Und du, meine Liebe, kannst mich jederzeit um Rat fragen. Versprich mir, dass du das tun wirst, wenn du Hilfe brauchst. Wer weiß, wie sich die Geschichte entwickelt.«
Melissa verstand nicht, was das bringen sollte. Bis jetzt war die alte Frau nicht ernsthaft hilfreich gewesen. Aber sie registrierte die gute Absicht hinter dem Angebot und nickte schwach, dann löste sie ihre Hand aus Josephinas Griff und drehte sich Richtung Tür.
»Und wenn du nicht mehr bei den Blutsaugern wohnen willst, hier ist jederzeit ein Platz für dich. Vergiss das nie!«
Abrupt wandte Melissa sich wieder zur Hexe. Sie konnte hierbleiben? Fast hätte sie eingewilligt, als ihr einfiel, wie lange sie zu Josephinas Haus gefahren waren. Mit dem Auto. Das überstieg absolut ihren Radius, den sie sich von Nicolas entfernen konnte, und sie schloss ihren bereits zum Antworten geöffneten Mund.
»Keine Sorge, ist mir völlig einerlei, ob der Blutsauger dann noch bis nach Hause kommt. Soll er sich einen Unterschlupf in der Nähe suchen. Irgendeine Brücke oder Felsspalte. Der friert ja nicht mal. Er ist alt genug, der kommt schon klar.«
Melissa zögerte aus zweierlei Gründen. Zum einen war sie tatsächlich versucht, Josephinas Angebot anzunehmen, und zum zweiten hatte sie noch nie darüber nachgedacht, wie alt Nicolas wirklich war. Klar, er sah aus wie Anfang oder Mitte zwanzig. Aber Vampire alterten nicht. Bei Adam war die Sache klar, aber Melissa hatte keine Ahnung, mit wem sie es bei Nicolas zu tun hatte.
»Danke für das Angebot. Ich werde es mir gut merken. Aber im Augenblick sehe ich keine Chance, wie wir es jemals schaffen sollen, den Zauber zu vollenden, ohne ein Minimum an Zusammenarbeit. Und das wird wohl nicht besser, wenn ich Nicolas völlig verärgere.« Und außerdem wollte Melissa lieber bei Tara und Adam und Amia bleiben. Aber das wollte sie der alten Dame nicht vor den Kopf knallen.
»Ich hatte befürchtet, dass du dich so entscheiden wirst. Es ist ein Jammer. Aber na gut, es ist deine Wahl. Ich habe trotzdem noch etwas für dich.«
Melissa zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als Josephina ihr einen kleinen Gegenstand in die Hand drückte.
»Ein Handy?«
»Ich weiß, neumodischer Schnickschnack. Aber kann manchmal wirklich nützlich sein. Man glaubt es nicht. Ruf an, wann immer du willst. Meine Nummer ist bereits eingespeichert. Und jetzt lass nicht so lange auf dich warten, sonst werden deine Grummelvampire noch grummeliger.« Und mit diesen Worten schob Josephina Melissa sanft aber bestimmt zur Tür hinaus.
Hat es dir gefallen? Ich freue mich über jeden Stern oder Kommentar! <3<3<3
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top