18
Nach einer knappen halben Stunde erreichten sie einen kleinen Hafen, dessen Wasser in winzigen Wellen hin- und herschaukelte und dabei die Sonne reflektierte, als würde es glitzern. Kreischende Möwen umkreisten die schwankenden Boote und der Küstenwind schmeckte salzig auf ihren Lippen. Der Hafen war umgeben von kleinen Geschäften und emsigen Treiben. Sie stellten ihre Räder ab und Lia zog Melissa zu einem der Läden.
Beim Betreten fiel ihr Blick sofort auf die Unmenge an kuriosen Gegenständen, die in liebevoll arrangierten Regalen und Vitrinen aufgebaut waren, alte Bücher und Schreibgeräten bis hin zu Vintage-Schmuck und Porzellan. Doch es waren die subtilen maritimen Akzente, die das besondere Flair des Ladens ausmachten: Muschelschmuck, kunstvoll gefertigte Segelboote und ein meisterhaft geknüpfter Seemannsknoten, der als Dekoration an der Ladentheke hing. Ein antiker Holztischen präsentierte sogar ein vergilbtes Seekartenbuch, dessen Seiten von vergangenen Abenteuern und unentdeckten Küsten erzählten.
Die Atmosphäre war warm und gemütlich, und der Duft von altem Holz und Zimt lag in der Luft. Im hinteren Teil des Ladens befand sich ein Café mit ein paar Tischen und Stühlen, an denen man sich niederlassen konnte.
Sie nahmen Platz und Melissa fühlte sich regelrecht verzaubert, wie in eine andere Welt versetzt. – Was, angesichts ihrer Situation, eine gewisse Ironie in sich barg.
Lia saß ihr gegenüber, der lange Pferdeschwanz des quirligen Mädchens hüpfte munter in der Gegend herum.
»Seit wann bist du mit Marlon zusammen?«
»Seit ein paar Monaten schon. Wir haben uns an einer Bushaltestelle kennengelernt. Kaum zu glauben, nicht? Wir haben uns auf Anhieb verstanden.«
»Tara hat erwähnt, du würdest Marlon helfen mit seinen – Fähigkeiten.« Es kam Melissa noch immer seltsam vor, so selbstverständlich von Magie zu reden. Und das nach allem, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte.
»Ja, es hat sich herausgestellt, dass wir ein gutes Team sind, was die Zauberei angeht. Marlon fällt es schwer, sich zu konzentrieren, wenn er mit seinen Kräften arbeitet. Eines Tages hatte er meine Hände genommen, und die Energien durch mich durchlaufen lassen. Er wollte mir ermöglichen, diese selbst einmal zu erleben. Es war unglaublich, diese Kräfte zum ersten Mal zu spüren. Schnell stellten wir fest, dass es ihm mehr Kontrolle über seine Zauber gab, wenn er meine Hände hielt. Er sagte, er spüre meinen festen Willen, was der Zauber wirken soll. Der fehlt ihm, er ist dann zu unsicher, und die Energien suchen sich eigene Wege. Aber ich wisse immer genau, was ich will, und das lenkt alles in die geplante Richtung.«
»Das ist erstaunlich. Dann bist du sozusagen die Assistentin eines Zauberers. Aber eines Echten.«
Lias Mund zuckte kurz, dann fuhr sie fort: »Ja, so kann man das sagen. Wir üben fast täglich zusammen und Marlon ist in der Zeit viel besser geworden. Die Zauberkräfte hat er von seiner Großmutter geerbt. Josephina. Am Anfang hatte er die Energie kaum unter Kontrolle und Josi versuchte verzweifelt, ihm ein paar Sachen beizubringen. Deswegen wohnt er bei ihr. Marlon hielt sich leider nicht für sehr talentiert und die Energien machten meistens, was sie wollten. Aber ein paar Sachen klappten tatsächlich schon. Wobei er es bevorzugte beim Üben stets eine feste Decke in der Nähe zu haben, mit der man gegebenenfalls einige Flammen ersticken konnte.« Lia konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
»Aber als wir anfingen, zusammen zu üben, schaffte er es bald, leichte Gegenstände schweben zu lassen, also sehr leichte und er konnte den Fliegen an der Wand befehlen, das Zimmer zu verlassen. Praktisch, aber noch nicht so beeindruckend. Später übten wir mit Mäusen und Katzen. Und die Katzen sind nicht in Flammen aufgegangen. Er wurde dann tatsächlich besser. Er konnte irgendwann kleine Gegenstände erscheinen lassen und größere schweben. Er erfuhr von der Nachbarskatze, dass es drei Gärten weiter ein Mäusenest gab, und konnte sehen, wo sich jemand aufhielt, der nicht weiter als ein paar Autominuten weg war und was er gerade tat. So fand er auch heraus, dass sein Zahnarzt eine Affaire hatte, was wir eigentlich nicht wissen wollten. Aber das wir es wissen konnten, war einfach der Wahnsinn.«
Das nannte Melissa mal einen ausführlichen Bericht. Sie versuchte, die neuen Informationen zu verarbeiten, als eine Frau mittleren Alters an ihren Tisch trat. »Guten Morgen, die jungen Damen. Ich sehe, ein neues Gesicht.« Freundlich lächelte sie Melissa an. »Darf ich mich vorstellen? Ich bin Helena, die stolze Besitzerin dieses bescheidenen Ladens. Womit kann ich euch heute eine Freude machen?«
Vor Melissa stand eine hochgewachsene, auffällig gekleidete Frau mit einem weit geschnittenen dunkelgrünen Pullover und helle flattrige Hosen. Lange, markant designte Ketten fügten sich harmonisch in ihren Style und sie erschien genauso einzigartig, wie ihr Lokal.
»Ihr Laden ist ein wunderbarer Ort«, sprudelte es aus Melissa heraus. »Ich habe so etwas beeindruckendes selten gesehen.«
»Ich fühle mich sehr geehrt, Danke. Tatsächlich teile ich deine Meinung. Aber es ist immer wieder schön zu hören, wenn Menschen gefällt, was ich geschaffen habe.« Helena zwinkerte Melissa zu. »Ich hoffe, das Essen gefällt dir hier genauso gut wie das Ambiente, also, was darf es sein?«
»Wir hätten gerne das große Frühstück mit Tee und Kaffee«, bestellte Lia für Melissa mit, bevor diese eine Gelegenheit hatte, etwas zu sagen.
»Kommt sofort.« Helena drehte sich um und entschwand ihren Blicken.
Lia wendete ihre Aufmerksamkeit wieder Melissa zu.
»Möchtest du noch etwas wissen über Marlons Fähigkeiten? Immerhin betrifft es dich direkt und ich denke, du hast alles Recht dazu, genau Bescheid zu wissen.«
»Tara hat erwähnt, du warst dabei, als Marlon den Rettungszauber gesprochen hat. Wie war das genau?« Zu gerne wollte Melissa wissen, welche Rolle Lia bei der Geschichte gespielt hatte.
»Ja – nein – also nicht die ganze Zeit. Ich war leider nicht in der Nähe, um schnell genug dort zu sein. Erst als Marlon den verhängnisvollen Zauber bereits gesprochen hatte, bin ich eingetroffen. Ich habe dann trotzdem versucht, ihn so gut ich konnte zu unterstützen. Das war irre, sag ich dir. Es katapultierte mich geradewegs zu Nicolas, welcher sich in einem Wald befand, reglos auf dem Boden liegend. Wie ein Geist schwebte ich über ihn und betrachtete die Situation, Marlon konnte ich an meiner Seite spüren. Zwei Männer und eine Frau waren bei Nicolas und sie waren ziemlich ekelig zu ihm. Du hast das auch alles mit angesehen, richtig? Du warst dort?« Lia sah Melissa mit großen Augen an. Mitgefühl lag in ihrem Blick.
Melissa fühlte sich auf einmal, als wäre sie wieder in der Nacht im Wald und würde die Szene erneut miterleben. »Ja – ich hatte mich versteckt.« Ihre Stimme war so dünn, dass sie fast nicht zu hören war.
»Du musst große Angst gehabt haben. Soll ich wirklich weitererzählen?«
»Ja, auf jeden Fall. Ich halte das aus.« Melissa klang optimistischer, als sie sich fühlte.
»Ok. Die fremde Frau im Wald schlug schließlich vor, sie sollten Nicolas verbrennen.« Lia strich sich angespannt eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Marlon begann immer hektischer zu atmen und ich konnte seine Panik fast körperlich spüren – und dann war ich nicht mehr im Wald, sondern wieder in Adams Stube und Marlon kippte neben mir um. Diese Art Zauber hatte alle Energie aus ihm herausgezerrt. Der war mindestens drei Nummern zu hoch für ihn. Zum Glück hat er sich gut erholt. Keiner bei uns wusste zu dem Zeitpunkt, wie die Sache ausgegangen war. Ich fuhr schließlich nach Hause und ließ Marlon bei Adam zurück, damit er sich erholen konnte. Erst später erzählte Marlon mir, dass eine Frau, die einfach im Wald aufploppte Nicolas das Leben gerettet hatte. – Du.«
Melissa wusste nicht, wie sie auf diesen Bericht reagieren sollte, und war dankbar, als Helena mit den dampfenden Getränken an ihren Tisch trat und sie damit um eine Antwort herumkam. Sie fand es erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Lia die Existenz von Magie hinnahm, ihr selbst fiel dieses noch immer schwer.
Lia war eine offene Persönlichkeit und es war leicht mit ihr eine angenehme Ebene zu finden. Nachdem Helena ebenfalls das üppige Frühstück gebracht hatte, tauschten die beiden sich, die verschiedenen Köstlichkeiten genießend, ausgiebig über verschiedenste Sachen aus. Melissa genoß die Zeit mit Lia und erfuhr weitere Details über die Natur der Magie, aber auch über Lia selbst. Lia ging noch zur Schule und wohnte bei ihren Eltern, verbrachte jedoch soviel Zeit wie möglich bei Josephina und Marlon.
Melissa ihrerseits beschränkte sich auf Erzählungen von Eindrücken der letzten Tage, wie sie die Ereignisse im Wald wahrgenommen hatte, dass Tara und Adam sich ausgiebig um sie gekümmert hatte und dass sie nun das Gartenhaus bewohnte. Auch wie sie die Bindung an Nicolas entdeckt hatten, schilderte sie. Nicolas Reaktion darauf ließ sie jedoch aus.
So viel Lia auch über Marlons Besonderheiten berichten konnte, Melissa war sich noch immer nicht im Klaren darüber, ob Lia über die Vampire Bescheid wusste.
Doch als sie das Frühstück fast beendet hatten, beugte sich Lia geheimnisvoll zu Melissa vor.
»Ich muss dich das fragen, Melissa«, begann diese flüsternd. »Als du im Wald die fremden Männer beobachtet hast, konntest du da erkennen, was der eine von ihnen am Hals hatte?«
Melissa kniff irritiert die Augen zusammen. Vage erinnerte sie sich, wie einer der Männer die Hand auf seinen Hals gepresst hatte. Weitere Details hatte sie in dem flackernden Schein des Feuers nicht wahrnehmen können. Sie schüttelte langsam den Kopf. In ihr keimte ein Verdacht auf, was das gewesen war.
Eine Ernsthaftigkeit und Härte traten in Lias Züge, wie Melissa sie bislang nicht bei ihr gesehen hatte. »Dort war eine große Wunde. Eine Bisswunde.« Lias Worte waren kaum mehr als ein Hauchen.
Die Männer im Wald – sie hatten so aggressiv agiert, weil Nicolas einen von ihnen gebissen hatte. Das erklärte einiges.
»Nicolas ist ein Vampir.« Abwägend musterte Lia sie.
Melissa leckte sich über die trockenen Lippen, zeigte aber weiter keine Anzeichen von Erstaunen. Lia war in dieses Geheimnis eingeweiht und hatte sich genauso, wie sie selbst, gefragt, ob ihr gegenüber Bescheid wusste. Das wäre damit geklärt.
»Macht dir das keine Angst?«, wollte Lia wissen.
»Doch, schon«, antwortete Melissa zögernd. »Aber was bleibt mir übrig, als darauf zu vertrauen, dass mir nichts geschehen wird? Und Tara meint, ich wäre sicher ...«
Ein undefinierbarer Ausdruck huschte über Lias Gesicht. Dann lächelte sie Melissa an. »Ich bin beeindruckt, wie gelassen du mit der Sache umgehst. Die meisten Menschen wären wohl schreiend davongerannt – wobei, Marlon hat etwas von einer Meinungsverschiedenheit zwischen dir und Nicolas erzählt und dass du einen kleinen Spaziergang gebraucht hattest?«
Unbehaglich rutschte Melissa auf ihrem Stuhl hin und her. Wie detailliert mochte Marlon seiner Freundin Bericht erstattet haben? Sie mochte Lia, aber sie hatte sie gerade erst kennengelernt und war noch nicht bereit, ihre gesamte Gefühlsachterbahn mit ihr zu teilen. »Ja. Ich habe vielleicht etwas überreagiert. Ich empfinde Nicolas durchaus als eine anstrengende Persönlichkeit.«
Einerseits war es Melissa ein wenig unangenehm, einem fast fremden Menschen gegenüber schlecht über Nicolas zu sprechen, andererseits wirkte Lia so vertrauenserweckend und unkompliziert. Und Melissa hoffte, dass Lia ihr diese Worte nicht übel nehmen würde.
Diese lachte hell auf. »Anstrengend? Da hab ich Marlon und Adam aber schon Schlimmeres über Nicolas sagen hören. Ich denke, du wirst allen Grund gehabt haben für deine Reaktion. Ich kann dich zu gut verstehen. Und an so eine Neuigkeit, dass jemand ein Vampir ist, muss man sich auch erst gewöhnen. Ich an deiner Stelle wäre bestimmt völlig in Panik verfallen ... Nicolas wirkt so bedrohlich. Dennoch – Marlon meint, man könne Nicolas vertrauen.«
Das wiederum überraschte Melissa zutiefst. Gerade Marlon bewahrte in Nicolas Gegenwart nicht unbedingt vertrauensvolle Gelassenheit. Andererseits hatte selbst Melissa ihn in Nervosität versinken lassen, als es darum ging, ihre Hände zu berühren. Möglicherweise handelte es sich eher um eine soziale Problematik, als dass er tatsächlich Angst um sein Leben hatte.
»Weißt du diese Sache schon lange?«, fragte Melissa.
»Nein, erst nachdem ich die Bisswunde am Hals des Mannes gesehen hatte, habe ich Marlon später dazu befragt. Er meint, Nicolas sieht es überhaupt nicht gerne, wenn andere über ihn Bescheid wissen. Und das kann ich sogar verstehen.« Lia tippte sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Ich hatte nur große Sorge, wie du darauf reagieren wirst. Aber im Dunkeln lassen wollte ich dich auch nicht. Du solltest wissen, mit wem du es zu tun hast. – Ist schon ziemlich unheimlich, an einen waschechten Vampir gebunden zu sein.«
Das war die Untertreibung des Jahrhunderts.
Lia trank den letzten Schluck ihres erkalteten Tees und stellte die Tasse zurück. »Aber vermutlich ist das wirklich keine große Sache und wir müssen uns nur an den Gedanken gewöhnen. Auch Adam vertraut Nicolas offenbar blind. Sonst würde er ihn niemals in Amias Nähe kommen lassen. Wir sollten nichts überdramatisieren. Aber wenn es dir doch mal zu gruselig wird, dann melde dich. Dann machen wir wieder einen Ausflug.« Ein breites Lächeln erstrahlte auf ihrem Gesicht und Melissa hatte das Gefühl, eine Freundin gefunden zu haben.
»Moment mal.« Lia kramte in ihrer Jackentasche, zog einen Kugelschreiber hervor und kritzelte etwas auf eine Serviette. »Hier, das steckst du ein, und wenn du mal jemand zum Reden brauchst, dann meldest du dich.« Lia reichte Melissa das Papierstück, auf dem eine Handynummer stand.
»Dankeschön.« Melissa lächelte schwach. Sie brauchte dringend ein Handy.
Erst auf dem Rückweg wurde Melissa bewusst, dass Lia lediglich von Nicolas als Vampir gesprochen hatte. – Sie wusste nicht über Adam und Tara Bescheid.
Warum hatte Marlon ihr das nicht ebenfalls anvertraut, wenn sie schon bei dem Thema waren? Die Vampire schienen sich nur zu offenbaren, wenn es sich absolut nicht verhindern ließ.
Melissa beschloss, es dabei zu belassen. Lia würde auch ohne dieses Wissen wunderbar leben können. Und sicher besser schlafen.
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