16
Melissa erwachte, als der feine Kies unter den Reifen knirschte und das monotone Brummen des Motors erstarb. Der Wagen kam in der Einfahrt des in Dunkelheit gehüllten Holzhauses zum Stehen.
Wie lange hatte sie geschlafen? Es konnten kaum mehr als wenige Minuten gewesen sein.
Ungläubig rieb sie sich über die Augen. Das brachte auch nur sie zustande, nachts alleine mit einem blutsaugenden Vampir in dessen Wagen einzuschlafen. Sie brauchte dringend Ruhe.
Nicolas zog den Zündschlüssel ab und das Licht im Inneren des Wagens leuchtete auf.
»Du bist wach. Gut.« eindringlich sah er sie aus tiefgrünen Augen an. Merkwürdig, sie hätte schwören können, seine Augen wären schwarz gewesen, als er ... Sie wollte nicht daran denken.
»Eines solltest du verstehen. Melissa.«
Es war seltsam, ihren Namen aus seinem Mund zu hören. Aber ihr fehlte die Kraft, weiter aufzubegehren. Sie sah ihn müde und fragend an. So müde.
»Ich werde dir nichts antun. Dir wird in meiner Nähe nichts geschehen.«
Die Worte bedeuteten Melissa nichts. Sie befand sich jenseits aller Angst. Nur bleierne Gleichgültigkeit. »Ja klar,« sagte sie schlicht.
»Du glaubst mir nicht.«
»Nein.«
»Hmmm ... dazu hast du allen Grund«, brummte er und blickte sie abwartend an.
Melissa seufzte tief auf. »Du hast mich bewusstlos am Feuer liegen gelassen. Du wolltest mich nie in diesem Haus sehen. Dann hast du mich angegriffen und wolltest mich töten. Also nein, warum sollte ich dir glauben?« Es war eine Feststellung, die Melissa aussprach. Keine Anklage.
»Weil ich meine Versprechen halte.« Geduldig wartete er auf eine Reaktion ihrerseits.
»Amia«, stellte Melissa sachlich fest. Sie entsann sich, wie Nicolas sich dem kleinen Mädchen gegenüber verhalten hatte. Amia bedeutete ihm etwas. Das war unübersehbar. Dieses kleine Mädchen hatte Nicolas das Versprechen abgenommen, ihr nichts anzutun.
Nicolas nickte kaum merklich. »Genau.« Kurz hielt er inne, bevor er fortfuhr: »Und weil ich denke, dass es von Vorteil sein wird, wenn wir an dieser verfluchten Zauber-Sache zusammenarbeiten. Ich denke, es ist für keinen von uns von Interesse, diesen Zustand länger als nötig aufrecht zu erhalten.«
»Kann sein.« Melissa fragte sich, ob es überhaupt eine Möglichkeit gab, diese magischen Ketten zu lösen. Und was sie dazu beitragen könnte.
Es fiel ihr schwer, Nicolas zu vertrauen. Aber was blieb ihr übrig?
Und eine Tatsache konnte sie nicht leugnen. Er hatte ihr die freie Wahl gelassen, ob sie bleiben oder gehen wollte. Er hatte sie zu nichts gezwungen, nachdem er sie gesucht und gefunden hatte. Auf ihren eigenen Wunsch war sie zu diesem Haus zurückgekehrt.
Lebend.
Als sie versuchte aus dem Auto auszusteigen, war es ihr nicht mehr möglich, ihren verwundeten Fuß aufzusetzen. Tara kam aus dem Haus und stützte sie. Melissa war froh, nicht länger auf Nicolas angewiesen zu sein. Sie bemerkte, wie Tara Nicolas kaum wahrnehmbar zunickte. Eine kleine Bewegung von der Art Gut gemacht, geht doch! Niemanden schien es zu überraschen, dass Nicolas sie mitbrachte, als hätten alle davon gewusst, dass er auf der Suche nach ihr war.
Und dennoch hatten sie diesen unberechenbaren Mann alleine fahren lassen.
Tara verband Melissas verletzten Fuß neu. Die alte Bandage war völlig verdreckt und durchgeweicht und die Haut darunter sah entsetzlich aus, deutlich schlimmer als das Mal davor. Der Fuß war dick geschwollen und sah entzündet aus. Melissa versuchte, nicht hinzublicken, nicht zu ihrem Knöchel und nicht zu Taras tadelnden Blicken. Die Prozedur war eine Tortur. Ohne nachzufragen, nahm sie die Tabletten, die Tara ihr gab. Vermutlich nicht nur Schmerzmittel, sondern auch Antibiotika.
Danach zog sie sich um und humpelte in die Küche, und Adam stellte ihr etwas zu Essen auf den Tisch. Melissa hatte vergessen, wie hungrig sie war. Sie hatte keinen Gedanken für Essen übrig gehabt auf ihrer emotionalen Achterbahn. Nun erkannte sie erstaunt, welch wohltuende Wirkung eine schlichte Mahlzeit und eine kurze Verschnaufpause auf ihre strapazierten Nerven hatten. Nicolas hatte zusammen mit Tara das Haus verlassen. Melissa zeigte keinerlei Interessa daran, wohin die beiden gingen, einzig zu wissen, dass Nicolas sich nicht im Haus aufhielt, genügte ihr. Da Amia schlief und Marlon sich genug erholt hatte, um nach Hause zu gehen, war sie mit Adam alleine im Zimmer, der mit dem Laptop auf dem Sofa saß.
Unschlüssig blickte Melissa vom Küchentisch auf, ging dann aber doch zu ihm und ließ sich in den Sessel sinken.
»Es tut mir leid,« sagte Adam, »dass es dir im Augenblick nicht möglich ist, nach Hause zurückzukehren. Ich kann mir vorstellen, dass das schwer für dich sein muss.«
Melissa sah ihn überrascht an. Er wusste nichts von Nicolas Angebot sie nach Hause zu begleiten? Dann war er auch nicht über ihre Ablehnung diesbezüglich informiert. Sie beschloss, es dabei zu belassen. Als Antwort nickte sie ihm zögernd zu.
Nachdenklich betrachtete Melissa Adam. Er hatte die gleiche makellos glatte Haut wie Tara und Nicolas, ebenso perfekte, synchrone Gesichtszüge, welche die Vampire so auffallend attraktiv wirken ließen, die samtige Stimme und anmutigen Bewegungen. Jetzt, mit Ruhe und aus der Nähe, verstand Melissa selbst nicht, wie sie nicht sofort darauf gekommen war, dass diese drei auf eine spezielle Art anders waren.
Und doch unterschied Adam sich von den beiden Vampir-Geschwistern deutlich. Seine Haut war einen Hauch dunkler, wirkte leicht gebräunt, seine Augen leuchteten in einem warmen Braunton, ganz wie Amias'. Sein Körperbau war kleiner als Nicolas, kaum größer als Melissa selbst. Und er wirkte so viel jünger, unsicherer. Verletzlicher.
Nicolas und auch Tara schienen sich bei allem, dass sie taten ihrer einzigartigen Natur bewusst zu sein, sich darauf zu verlassen, dass ihr verlockender Charme ihnen zugutekam oder – in Nicolas Fall – ihre Überlegenheit Einschüchterung erzeugte.
Aber Adam wirkte, als hätte er keine Ahnung von seiner Wirkung auf andere. Wie ein Junge, der langsam erwachsen wurde und noch nicht herausgefunden hatte, was er alles bewirken konnte. Und vermutlich war auch genau das der Fall. Er hatte erzählt, dass er beim Tod seiner Mutter vor drei Jahren gerade alt genug war, um das Sorgerecht für Amia zu bekommen. Folglich musste er 21 sein.
Melissa fragte sich, was aus den wenigen Geschichten, die sie über Vampire kannte, der Wahrheit entsprach.
»Sind Vampire wirklich unsterblich?«
Erst zögerte Adam, aber dann antwortete er ihr: »Das kommt darauf an, was du unter unsterblich verstehst. Wenn du damit meinst, dass Vampire unter keinen Umständen sterben können, dann nein. Aber wenn du wissen willst, ob Vampire altern und irgendwann sterben – tun sie nicht. So gesehen sind sie unsterblich. Wenn sie keinen Unfall haben oder jemand nachhilft, leben Vampire ewig.«
»Und bleiben für immer jung«, stellte Melissa fest.
»Und bleiben für immer jung,« bestätigte Adam.
Melissa stellte sich vor, wie Adam ewig jung bleiben würde und Amia irgendwann zu einer alten Frau würde. Ein merkwürdiger Gedanke. Zu gerne hätte sie erfahren, wie es dazu kam, dass Adam überhaupt ein Vampir war. Aber diese Frage traute sie sich nicht zu stellen. Es kam ihr zu persönlich vor, zu intim. Und sie kannte Adam dafür auf keinen Fall lang genug und hätte auch nicht sagen können, wie er reagieren würde.
»Wie ist es mit den anderen Sachen, die man über Vampire erzählt? Stimmen die alle?«
»Alle? Kaum.« Adam lachte. »Es wird so viel erzählt, einiges widerspricht sich sogar.«
»Knoblauch?« Melissa hatte keine Ahnung, warum ihr gerade das als Erstes einfiel.
»War im Abendessen.«
»Ich habe alleine gegessen...«
»Weil du lange unterwegs warst. Wir haben zusammen mit Amia gegessen. Ich möchte ihr so gut wie möglich ein stabiles Umfeld geben. Und ich denke, ein gemeinsames Abendessen ist sehr förderlich für das Familienleben.«
Das gab Melissa einen Stich. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wann sie zum letzten Mal zusammen mit ihrem Vater an einen Tisch gesessen hatte. Es war absolut üblich geworden, dass jeder sich eine Kleinigkeit nahm, wenn er Hunger hatte. Nur selten hatte sie was Richtiges gekocht. – Aber sie war froh für Amia, dass ihr Bruder ihr eine solche Fürsorge entgegenbrachte.
»Ich denke, die Sache mit dem Knoblauch ist nur zustande gekommen, weil Vampire einen sehr guten Geruchssinn haben. Und zu viel von dieser Knolle kann wirklich anstrengend für unsere Nasen sein. Was noch?«
Melissa brauchte nicht lange nachzudenken. »Herzschlag. Habt ihr wirklich keinen?«
»Klar haben wir einen Herzschlag. Wir sind doch nicht tot. Unser Organismus ist nur verwandelt.«
»Tageslicht?« Melissas Blick wanderte zu den bodentiefen Fenstern, die jetzt von ebenso langen, schweren Vorhängen verhüllt waren.
»Genieße ich sehr. Aber schaurige Geschichten über Vampire wirken natürlich viel besser in der gruseligen Finsternis.« Adam hob seine gekrümmten Hände neben seinen Kopf, verzog das Gesicht raubtierhaft und heulte theatralisch auf.
»Bist du sicher, dass du nicht gerade einen Geist nachmachst?«
»Zweifelst du an meinem Schauspieltalent?«
»Etwas.« Melissa huschte ein Lächeln übers Gesicht. Bevor Adam protestieren konnte, hörten die beiden einen Schlüssel in der Haustür und Tara und Nicolas kamen herein.
Misstrauisch begutachtete Melissa die schwarz gekleidete Gestalt neben Tara. Nicolas verströmte eine Gelassenheit, die ganz im Gegensatz zu seinem Auftreten bei ihren ersten Begegnungen stand. Lässig lehnte er sich an den Türrahmen und schien auf etwas zu warten.
Tara setze sich zu Adam aufs Sofa und wendete sich Melissa entgegen.
»Da wir offenkundig noch ein Problem zu lösen haben, was dich und Nicolas anbelangt, sind wir zu dem Schluss gekommen, es wäre das beste, wenn ihr beide zunächst hier in diesem Haus bleibt.« Sie warf ihrem Bruder einen strengen Blick zu, als wolle sie sichergehen, dass er keinen Widerspruch erhob. »So könnten wir in aller Ruhe überlegen, wie wir als nächstes Vorgehen wollen. Nicolas hat sich freundlicherweise dazu bereit erklärt, ins Gartenhaus zu ziehen, so dass das Gästezimmer für dich frei wird. Ich werde ebenfalls hierbleiben, bis die Sache geklärt ist und wieder im alten Schlafzimmer von Adams Mutter wohnen. Sind soweit alle einverstanden?«
Adam nickte zustimmend, aber Nicolas verzog abfällig das Gesicht. Es war offenkundig, dass die Freiwilligkeit seiner Meinung nach deutlich überstrapaziert wurde. Doch er widersprach nicht. Ungeniert beobachtete er Melissa.
Diese stellte sich vor, wie sie in dem Zimmer wohnen würde, in dem sich sonst Nicolas aufhielt. Waren die Schränke gefüllt mit seinen Sachen? Sie würde in dem Bett liegen, indem zuvor er geschlafen hatte. Falls Vampire überhaupt schliefen.
Diese Vorstellung bereitete ihr Gänsehaut. Nur weil zwischen ihnen im Moment eine Art Waffenstillstand herrschte, hieß dass noch lange nicht, dass sie diese Nähe zulassen konnte. Obwohl Nicolas natürlich nicht mit im Zimmer sein würde. Auch wenn es Gästezimmer genannt wurde, war ihr klar, dass es in erster Linie für Nicolas Aufenthalte bereitstand. Dort zu nächtigen kam Melissa deutlich zu intim vor.
»Wie wäre es, wenn ich in das Gartenhaus ziehe? Dann braucht sich Nicolas keine Mühe mit einem Umzug zu machen.«
Nachdenklich fuhr Tara sich durch die Haare. »Ich glaube nicht, dass wir das Gartenhaus Gästen anbieten...«
»Das ist eine wunderbare Idee«, fiel Nicolas ihr ins Wort. »Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin.« Er stieß sich mit einer eleganten Bewegung vom Türrahmen ab und ein triumphierendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus. Es war für jeden erkennbar, dass er diesbezüglich eine Meinungsverschiedenheit mit Tara gehabt hatte, aus der er nun als unerwarteter Sieger hervorging.
»Ich wünsche noch viel Spaß beim Einzug. Ihr macht das schon.«
Er drehte sich um und hob eine Hand zum Abschied. Dann verschwand er nach oben.
Tara sah ihrem Bruder tief seufzend hinterher. »Du musst nicht im Gartenhaus schlafen. Der Raum ist überhaupt nicht für Gäste vorbereitet und du würdest dich ausgeschlossen fühlen. Bleib einfach dort, wo du schon bist. Auch wenn der Raum sehr klein ist.«
Melissa wurde mit einem Mal klar, wohin Tara ausgewichen war, als Melissa in ihrem Zimmer geschlafen hatte und sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Nein, Gartenhaus klang super. Sie würde Taras Gastfreundschaft nicht weiter strapazieren.
»Ich möchte aber. Es macht mir nichts aus, wenn es nicht gut eingerichtet ist. Eine Schlafgelegenheit reicht mir völlig aus.«
»Wie du willst. Zumindest hat die Hütte ein eigenes Badezimmer, wenn auch winzig klein. Immerhin etwas Luxus. Ich bereite schnell alles so gut wie möglich vor, du musst müde sein.«
Melissa wurde bewusst, wie die Ereignisse der letzten Stunden ihr alle Kraft gekostet hatten und sie sich nach Schlaf sehnte.
»Ist schon okay, dass schaff ich selbst. Ich geh jetzt gleich hin.«
Zweifelnd blickte Tara sie an, sagte aber nichts weiter. Sie begleite Melissa zur Hütte, schloss ihr auf und übergab ihr den Schlüssel.
»Bitte sehr, dein neues Reich. Ich hoffe, du hast dir nicht zu viel versprochen.« In ihrem Blick lag eine unausgesprochene Entschuldigung.
Melissa betrat den unerwartet geräumigen Raum. Sofort verstand sie, warum Tara ihr diesen nicht anbieten wollte. Von der Decke hing eine nackte, eingestaubte Glühbirne und in die hintere Ecke war ein Feldbett mit einem aufgeschlagenen Schlafsack geschoben worden, das eindeutig nur als Notbehelf gedacht war. Ein Campingtisch und ein schlichter Holzstuhl, von dem die Farbe an etlichen Stellen abblätterte, vervollständigten die Einrichtung.
Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch. Tara hatte also wirklich hier geschlafen.
»Und? Noch immer so überzeugt, dass du hier bleiben möchtest?«
Melissa war überrumpelt von der Kargheit des Raumes, aber sie wollte sich keine Blöße geben. Und für ihre Zwecke war es durchaus ausreichend.
Aber besonders gefiel ihr die Vorstellung, dass sie eine abschließbare Tür zwischen sich und immerhin drei Vampiren hatte. Zwar bezweifelte sie, dass diese im Ernstfall auch nur einen von ihnen aufhalten würde, aber es erzeugte dennoch ein beruhigendes Gefühl in ihr. »Alles super. Ich komme klar.«
Sie humpelte zu dem Stuhl und ließ sich auf diesen sinken. Dann lächelte sie Tara demonstrativ zu.
»Warte, ich bringe dir noch richtige Bettwäsche. Möchtest du etwas zum Lesen? Mit diesem bin ich gerade beschäftigt.« Tara griff sich das Buch und sah sie fragend an.
»Ja, gerne.«
Tara schloss leise die Tür hinter sich und Melissa wechselte zum Feldbett rüber und ließ sich auf den Schlafsack sinken. Es fiel ihr schwer, sich die stilvolle, anmutige Vampirin in diesem provisorischen Lager vorzustellen. Sich auszumalen, wie Nicolas mit dieser Behausung vorliebnehmen sollte, überforderte ihre Fantasie.
Ein leichter Vanillegeruch im Schlafsack verriet Melissa, dass Tara tatsächlich hier geschlafen hatte. Es störte sie nicht.
Sie war eingeschlafen, bevor Tara mit der Bettwäsche zurückkehrte.
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