12
Melissa konnte spüren, wie ihr Blut zu Eis gefror und aufhörte, sich durch ihre Adern zu bewegen. Ihr Körper erkaltete innerhalb von Millisekunden, unfähig weiter zu funktionieren.
Wir sind Vampire.
Nicolas war ein Vampir. Einmal ausgesprochen war es so offensichtlich. Seine Fähigkeit, in kürzester Zeit zu heilen, seine Schnelligkeit - seine Zähne. Diese unnatürlich langen, bedrohlichen Zähne. Wenn es Zauberer gab, dann konnte es ebenfalls Vampire geben. Alle Zweifel verließen sie widerstandslos. Es gab Vampire und Nicolas war einer.
Wir sind Vampire.
Wir.
Nicht nur Nicolas war ein Vampir. Dieser Gedanke schlug über Melissa zusammen wie eine riesige Welle und drohte sie fortzuspühlen. Nicht nur er besaß diese übernatürlichen Fähigkeiten. Melissas schreckgeweiteter Blick glitt zu Adam, dann zu Tara. Tara, die noch immer ihren Arm hielt, um sie zu stützen.
Melissa stolperte einen Schritt zurück, riss sich von Taras Griff los und taumelte ein weiteres Stück rückwärts. Sie stieß gegen den großen Tisch, gegen einen Stuhl, der krachend zu Boden fiel. Keiner folgte ihr, aber weiter zurückweichen konnte sie auch nicht. Sie fühlte sich wie ein in die Ecke gedrängtes Tier.
»Melissa!«, sagte Tara sanft. »Du bist bei uns sicher.«
»Wie kann ich bei euch sicher sein?«, brachte Melissa heiser hervor. »Ihr seid Vampire. Deshalb seid ihr so schnell. Deshalb heilt ihr umgehend. Und ihr trinkt Blut. Von Menschen. Ihr saugt Menschen aus!« Sie hob eine Hand und zeigte auf Nicolas. »Er wollte mich umbringen. Er...«
»Wir wollen dir nichts tun.« Tara stockte kurz, fuhr dann jedoch fort: »sonst hätten wir es lange getan. Wir wollen dir helfen. Das ist alles.« Ihr Tonfall klang süß wie Honig, einzig dafür gedacht Melissas seelische Wunden zu verschließen.
Aber Melissa schüttelte abwehrend mit dem Kopf. »Nein, er will mich umbringen. Es waren seine Worte. Er wollte mich von Anfang an nicht hier haben - weil ich nicht hierhergehöre. Weil er ein Vampir ist. Und ihr seid wie er.«
Tara hob empört die Augenbrauen. »Oh nein. Wir mögen Vampire sein. Aber wir mutieren nicht ständig zu einem arroganten Arschloch, sowie Nicolas. Und ich hätte niemals zugelassen, dass er dir etwas antut.« Nicolas macht ein unbestimmtes Geräusch, aus dem sich ableiten ließ, dass er Tara zwar gehört hatte, aber dieser wenig Beachtung schenkte.
»Ihr trinkt Blut, ihr alle«, stieß Melissa schrill hervor.
»Ähem, ich nicht, ist nicht so mein Geschmack«, meldete sich da Marlon zu Wort.
Melissa hatte völlig verdrängt, dass Marlon noch im Raum stand, seine Anwesenheit wurde von der Präsenz der drei Vampiren gänzlich überschattet. Es war so offensichtlich, dass Marlon kein Blutsauger war, mit seiner Unsicherheit, seinen ungeschickten Bewegungen und seinen hektischen Flecken, dass seine Aussage sie völlig aus dem Konzept brachte.
»Du kannst ihnen vertrauen, Melissa, Tara hat Recht, du bist sicher bei ihnen.« Marlon fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. »Ich kenne Adam jetzt seit über einem Jahr, und er hat noch nie versucht, mir Blut abzuzapfen - im Gegenteil, er ist mein bester Freund. Und Tara ist auch ein ganz wunderbarer Mensch, äh... Vampir, der niemanden etwas antut.« Marlons Wangen röteten sich leicht. »Sogar Nicolas hat seine guten Seiten ... manchmal ... nun ja, auf jeden Fall lebe ich noch.«
Wie konnte es sein, dass Marlon, ein Mensch aus Fleisch und Blut, also insbesondere mit Blut, in diesem Hause ein und auszugehen schien, ohne dass ihm etwas geschah? Melissa hatte sich nie sonderlich mit Vampirgeschichten auseinandergesetzt, aber im Groben konnte sie zusammenfassen, dass diese jeden Menschen anfielen, der ihnen in die Quere kam.
Möglicherweis verschonten sie Marlon, weil er über Zauberkräfte verfügte? Hatten sie Angst vor ihm? Nein, das war lächerlich, wenn hier jemand Angst hatte, dann Marlon vor Nicolas, das hätte jeder Fremde selbst durch dickes Milchglas klar erkannt. Und Melissa hatte nicht das Gefühl, dass Marlon ein begnadeter Lügner war, eher im Gegenteil. Wäre er in der Lage, sie so überzeugend anzulügen? So viele Gedanken schrien in ihrem Kopf wild durcheinander. Aber einer drängte sich weit vor die anderen.
»Was ist mit Amia?« Melissas Stimmer klang kratzig, fast tonlos. Konnte es sowas geben? Ein Vampirmädchen? Ein kleines Kind? Amia war ein ungewöhnliches Kind, keine Frage. Aber das hier war ein ganz neues Level auf der Ungewöhnlichkeits-Skala.
»Du meinst, ob Amia ein Vampir ist?«, fragte Tara. Melissa nickte schwach.
»Nein, sie ist ein Mensch wie du. Außergewöhnlich, aber absolut unvampirisch. Nur weil sie Adams Schwester ist, macht sie das noch lange nicht zu einem Vampir.«
Es überraschte Melissa, wie sehr sie das erleichterte. Dennoch blieb da diese eine Sache, die sie nich abtun konnte. »Aber ihr trinkt Blut...«
»Das lässt sich nicht leugnen«, antwortete Tara. »Das ist jedoch kein Grund, jemanden umzubringen.«
Melissa schüttelte ungläubig den Kopf. »Ist es nicht? Wie das? Supplementiert ihr mit Tomatensaft?«
Nicolas lachte kurz auf. Ein dunkler und rauer Klang, welcher sämtliche Nervenbahnen Melissas erzittern ließ. »Die Kleine hat Humor«, stellte er anerkennend fest, während er sich lässig in den schweren Sessel sinken ließ, sich chillig zurücklehnte und den Kopf auf eine Hand abstützte, um die Szene entspannt weiterzuverfolgen. Seine ungebremste Aggression vor wenigen Minuten Melissa gegenüber war kaum noch zu erahnen.
»Im Normalfall begnügen wir uns mit willigen Spendern. - Oder unwilligen Mistkerlen«, sagte Tara. »Je nachdem, wer sich als Erster meldet. Aber es bleibt dabei, niemals kann das ein Grund sein, jemanden zu töten.«
»Du sagst mir also gerade, dass Vampire nie Menschen töten? All die Geschichten über schreckliche Blutsauger sind nur Ammenmärchen und echte Vampire ganz anders?« Melissa war sich darüber bewusst, wie abstrus ihre Frage klang. So weit war sie in diesem Haus schon gekommen - sie diskutierte die wahre Natur von Vampiren. Wie sie waren. Nicht ob sie waren.
»Oh doch, das gibt es. Aber kein Vampir muss jemanden umbringen. Wenn man seine Mahlzeiten ordentlich über mehrere Spender aufteilt, stellt dieses kein großes Problem für jeden Einzelnen dar. Stell es dir vor, als wenn du zur Blutspende gehst. Eine Blutspende ist völlig in Ordnung. Gehst du zehnmal hintereinander dorthin, hast du ein Problem - oder auch nicht mehr. Wenn ein Vampir tötet, dann weil er töten will. Diese Vampire gibt es. Nicht anders, als bei Menschen. Oder ein Vampir verliert die Beherrschung, das kann auch passieren, insbesondere bei sehr jungen Vampiren - und ja, die meisten Geschichten, die es über Vampire gibt, sind tatsächlich weit entfernt von jeder Realität.«
Aber Nicolas wollte sie töten, daran gab es keinen Zweifel. Er hatte sich da klar ausgedrückt. Und dass ihm ihr Schicksal nicht interessierte, hatte er bereits eindrucksvoll bewiesen.
Tara schien Melissas Gedanken zu erraten. »Ich würde nie zulassen, dass Nicolas dir was antut. Wir haben dich in dieses Haus gehohlt, und damit stehst du unter unserem persönlichen Schutz. Und solange du hier bleiben möchtest, werden wir uns bemühen, dass es dir gut bei uns geht.«
»Du glaubst, ihr könntet ihn daran hindern?« Noch immer bevorzugte Melissa es, über Nicolas zu reden, als wäre er nicht im gleichen Raum mit ihr. Ein kleiner irrer Teil in ihr war offenbar der Meinung, dass, wenn sie ihn nicht ansah, er sie ebenfalls nicht sehen konnte. Oder so ähnlich. Ihre Nerven waren unverkennbar bis auf ihren Grundkern aufgerieben und sie versuchte mit aller Macht und den aberwitzigsten Mitteln ihren letzten Rest Verstand zusammenzuhalten.
Tara zuckte mit den Schultern. »Wir haben es verhindert, oder etwa nicht?«
Melissas Blick huschte nur eine Millisekunde in Nicolas Richtung, der sie seinerseits provokativ betrachtete. Dieser Mann wollte nichts Gutes. Auf eine eigentümliche Art und Weise war ihr klar, dass Tara meinte, was sie sagte. Und das Marlon das Wort für die Vampire ergriffen hatte, steigerte Melissas Vertrauen enorm, sowohl Tara, als auch Adam gegenüber. Aber sich in Nicolas Gegenwart sicher zu fühlen, das würde ihr nie gelingen. Sie schaffte es nicht einmal, ihren Körper zu überreden, mit dem Zittern aufzuhören, solange dieser Mann mit ihr in einem Raum war. Er hatte versucht sie umzubringen, verdammt noch mal. Er war ein Vampir, und er benahm sich genau so, wie sie es von einem solchen erwarten würde.
»Egal was ihr sagt, ich werde hier nie sicher sein. In einer Sache hatte Nicolas recht. Ich sollte dieses Haus sofort verlassen.« Aber die Wahrheit war, dass Melissa nicht annahm, dass sie es lebendig bis zur Tür schaffen würde, so bedrohlich wirkte Nicolas düstere Präsenz auf sie.
»Melissa, Nicolas hat versprochen dir nichts zu tun. Man kann viel über ihn sagen, aber er hält seine Versprechen. Er wird dir nichts antun« sagte Tara.
Adam sah Tara skeptisch an. Die Gewissheit, welche sie verströmte, schien er nicht zu teilen.
Nicolas Blick wanderte von oben bis unten über Melissas Körper, taxierend, abschätzend. Es war unverkennbar, dass er ihre Reaktion genoss. Zum ersten Mal schien er sie mit echtem Interesse wahrzunehmen. Aber dieses Interesse gefiel Melissa absolut nicht. Er war der Jäger und sie war die Beute. Für ihn war das Ganze ein Spiel.
»Es spielt keine Rolle, ob du mir vertraust oder nicht«, ertönte jetzt Nicolas sonore Stimme. »Unser guter Freund Marlon hat es fertig gebracht, uns in eine Situation zu manövrieren, in der wir, zumindest in einem gewissen Rahmen, zusammenbleiben müssen. Das gefällt dir nicht und ganz sicher nicht mir. Leider ist es nicht zu ändern. Also machen wir das Beste daraus,bis Marlon hoffentlich eine akzeptable Lösung gefunden hat. Und so lange wird dir nicht viel anderes übrig bleiben, als mir zu folgen, wo immer ich hingehe.« Provokativ grinste er sie an und legte dabei lässig einen Fuß über den gegenüberliegenden Oberschenkel. »Zumindest wirst du ganz neue Erfahrungen machen.«
Melissa blieb der Mund offen stehen. Das konnte dieser Dreckskerl jetzt nicht ernst meinen. Hatte er den Verstand verloren? Besaß er überhaupt welchen? Er wollte sie - ja was wollte er? Sie als Gefangene nehmen? Sie zu seinem persönlichen Schoßhündchen machen, dass ihm auf Schritt und Tritt folgte? Der Kerl hatte versucht, sie umzubringen. Sie auszusaugen. Weil sie ihm lästig war. Und nun sollte sie dorthin gehen, wo immer er hinging, ihn begleiten, bei allem, was immer er tat? Völlig seinem Willen unterworfen.
Etwas in Melissa hakte aus. Als würde ihr Verstand sich umschauen, denken mit mir nicht, seine Koffer packen und gehen.
Melissa war durch einen unverständlichen Zauber in einen Wald transportiert worden, hatte einen Unbekannten aus einem Feuer gezogen und sich dabei selbst verletzt. Sie war in einem Haus gelandet, in dem sie akzeptieren musste, dass es Magie gab, und fand sich zwischen Vampiren wieder. Man wollte ihr weismachen, dass sie an dem Schlimmsten von ihnen durch übernatürliche Kräfte gebunden war. Und jetzt wollte dieser eine Vampir, der sie am liebsten tot gesehen hätte, sie als persönliche Gefangene nehmen.
Nein. Zuviel.
Mit Melissa geschah etwas Eigentümliches. Ihr Körper hörte auf zu zittern, ihre Hände waren mit einem Mal ganz ruhig. All ihre Angst, ihre Panik fielen von ihr ab, verpufften in einem Feuerball aus Wut und Wahnsinn. Der Teil von ihr, der zuvor vor Todesangst fast gestorben war, löste sich von ihr, beobachtete nur noch aus weiter Ferne. Der andere Teil übernahm die Führung.
Dieser Teil sah Nicolas geradewegs in die Augen, angstbefreit, lodernd vor Zorn. Niemals würde sie diesem Mann irgendwohin folgen. Nicht einen Meter.
Mit einem Ruck stieß sie sich vom Tisch ab, drängte sich zwischen Tara und Adam durch, an Nicolas vorbei. Eine Hand legte sich auf ihren linken Unterarm. Erbost fuhr sie herum. Es war nur Adam, der sie überrascht ansah, nicht Nicolas.
»Melissa, wo willst du hin?«
Melissa schüttelte den Arm unwirsch ab. »Nach Hause. Ich spiel hier nicht mehr mit. Ihr seid doch alle durchgeknallt.«
Sie verließ den Raum mit so wütend aufstampfenden Schritten, wie das auf Socken, mit einem verletzten Fuß und einem anmutig die Beine umspielenden bodenlangen Rock eben möglich war.
Als sie die Eingangstür erreicht hatte, zog sie diese auf, stürmte hindurch und knallte sie hinter sich so fest zu, dass die Tür zurückprallte und wieder weit aufschwang. Sie konnte Nicolas unbeeindruckte Stimme aus dem Haus dringen hören: »Lasst sie gehen. Die kommt sowieso gleich wieder. Ist heute ein Mistwetter da draußen.«
Der Wind peitschte Melissa dicke Regentropfen ins Gesicht, als sie sich ohne Schuhe und Jacke auf der Treppe vor dem Haus wiederfand. Die das Haus umgebenden Bäume schwanken wild in den kräftigen Böen vor dem nachtschwarzen Himmel hin und her. Sofort durchdrang eine eisige Feuchtigkeit ihre Kleidung und ihre Socken zogen sich mit Wasser voll. Verdammt, war das eisig.
Fluchend drehte sie sich um, stolperte zurück in den Vorraum des Hauses und stellte sich vor die Garderobe.
Sie hörte ein heiteres Auflachen aus dem Wohnraum. »Na, was habe ich gesagt? Das ging schneller als erwartet.«
»Ich hätte dich verbrennen lassen sollen.«, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Ohne zu überlegen griff sie nach einem viel zu großen, schwarzen Mantel, den sie sich überwarf und ließ ihre Füße in ein paar Gummistiefel gleiten. Sie presste die Kiefer zusammen, als ihre Brandverletzung heftig gegen diese Behandlung protestierte, ließ sich davon jedoch nicht aufhalten.
Durch die Tür zum hellerleuchteten Wohnraum konnte sie die entgeisterten Gesichter von Tara und Adam ausmachen.
»Melissa...«, setzte Tara ein letztes Mal an. Aber Melissa riss nur abwehrend die Hände hoch und machte auf dem Absatz kehrt.
Niemals wieder würde sie dieses Haus betreten. Das schwor Melissa sich, als sie die Treppe hinab in die Einfahrt und weiter die Straße entlang stapfte. Sie musste hier weg.
Einfach weg.
Keiner folgte ihr.
Gut so.
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