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Amia hatte so lange gebettelt, bis sie eingestimmt hatten, trotz des spontanen Unbehagens aller Beteiligter. Doch die Freude in den Augen des kleinen Mädchens war die Sache wert. Schnell hatten sie genug Brennholz geholt, das Lagerfeuer im Garten entzündet und saßen schließlich in einem Kreis um dieses herum. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und die Flammen züngelten träge gegen den dunkelblauen Himmel. Erste Sterne zeigten sich.

Es war noch keine vierundzwanzig Stunden her, seit Lia den Wald in eine Flammenhölle verwandelt hatte. Doch dieses Feuer hier in ihrem Garten, in ihrer Mitte, wirkte so auffallend anders. Friedlich, sanft und gemütlich. Es stellte keine Bedrohung da, nichts, was sie bei lebendigem Leib auffressen wollte, sondern bot ihnen in der kühlen Herbstluft eine angenehme Wärme.

Josi hatte sich nicht zum Gehen aufraffen können. Fast hatte Melissa den Eindruck, die alte Dame würde sich wahrhaftig wohlfühlen unter den Vampiren – trotz des ein oder anderen Schlagabtausches mit Nicolas. Während Marlon das Feuer entfacht hatte, war Josi zu ihrem Auto gelaufen und hatte tatsächlich ihr Strickzeug geholt. Nun saß sie selig lächelnd und mit klappernden Stricknadeln neben Melissa und lauschte den Gesprächen. Keiner wollte an diesem Abend alleine sein.

Gebannt beobachtete Melissa die leuchtenden Flammen, die fast schon eine hypnotische Wirkung auf sie ausübten. Sie genoss Nicolas Nähe neben sich und die gelöste Atmosphäre. Nicolas hatte ebenfalls eine Weile gebraucht, um seine Abneigung gegen das Feuer abzulegen, doch die Flammen waren nicht ihr Feind, waren es nie gewesen. Sie konnten nichts für Lias Taten und auch nicht für das, was die Männer im Wald Nicolas angetan hatten, damals, vor einer gefühlten Ewigkeit. Jetzt und hier waren sie nichts anderes als Licht- und Wärmespender und ermöglichten ihnen diesen entspannten Abend mit ihrer Familie.

Liebevoll drückte Melissa Nicolas' Hand. Er erwiderte den Druck und zog sie zu sich. Ihr Kopf sank automatisch an seine Schulter. Sie fühlte seine Wange auf ihrem Haar, sein herber Duft ließ sie tief einatmen und sie hörte seinen gleichmäßigen, beruhigenden Herzschlag. Als er den Arm sanft um sie legte, blickte sie zu ihm auf und lächelte ihn mit leuchtenden Augen an. Wie sehr sein makelloser Anblick sie noch immer faszinierte, niemals würde sie sich an ihm sattsehen oder auf den intensiven Blick aus seinen Augen verzichten können. Hier gehörte sie hin, an seine Seite. Und zu dieser Familie – die wieder etwas gewachsen war. Melissa liebte jeden Einzelnen von ihnen. Sie war angekommen.

»Guck mal, was ich in deiner Hütte gefunden habe.« Ungefragt hüpfte Amia auf Melissas Schoß und hielt ihr einen Stapel Blätter vor das Gesicht. »Auf den meisten ist bloß ein Bild von Nicolas drauf, aber es gibt auch noch ein paar andere.«

Ein Blatt nach dem anderen entfaltete das Mädchen und zahlreiche Porträts des großen Vampirs aus jeder erdenklichen Perspektive kamen zum Vorschein. Nicolas, der interessiert die Kunstvorstellung beobachtete, grinste immer breiter. Das waren verdammt viele Porträts – hatte Melissa die tatsächlich alle gezeichnet? Und das zu einem Zeitpunkt, als sie noch nicht einmal Interesse an ihm hatte? Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Als plötzlich ein gänzlich anders geartetes Kunstwerk auftauchte, griff sie dankbar zu diesem.

»Das ist das Bild, das du für mich an meinem ersten Tag bei euch gemalt hast.« Melissa erinnerte sich, wie gut es ihr getan hatte, als das fröhliche Kind ihr damals auf den Schoß geklettert war und ihr alle Familienmitglieder in Buntstiftform vorgestellt hatte. Da waren sie wieder: Buntstift-Melissa, die Buntstift-Nicolas an den Händen hielt und anlächelte. Tara, Adam, Amia und Marlon daneben. Und etwas abseits eine blonde Frau – oder ein Mädchen? – das unglücklich in die Gegend sah.

Entgeistert sah sie Amia an. »Das da, das ist nicht nur irgendeine Frau, oder? Das ist Lia. Du hast sie nicht neben Marlon gemalt.« Schon damals nicht. Amia hatte Lia getrennt von allen anderen gemalt. »Woher hast du es gewusst? Das Lia nicht zu uns gehört?« Das Mädchen sah Melissa fragend an. »Ich habe das nicht gewusst. Ich habe das einfach so gemalt.«

»Aber warum?« Unmöglich konnten alle Erkenntnisse des Mädchens purer Zufall sein. »So oft weißt du Sachen, die du eigentlich nicht wissen kannst. Woher wusstest du das mit der Magie im Bernstein? Wie hast du herausgefunden, wie du diese Lia abnehmen kannst? Woher kam deine Ahnung, das Nicolas Hilfe brauchen würde, damals, bevor Marlon den Rettungszauber gesprochen hatte?« Es waren so viel mehr Momente gewesen, in denen Amia sich merkwürdig feinfühlig gezeigt hatte, doch diese kamen Melissa als Erstes in den Sinn.

»Ach das«, antwortete das kleine Mädchen, »das hat mir alles meine Schwester erzählt. Genauso, wie das mit dem Otter und wo ich ihn finden kann. Und den Bernstein hat sie mir gezeigt, damals am Strand. Sie hat mir gesagt, dass Adam bald nach Hause kommen würde, darum habe ich im Garten heute auf ihn gewartet. ... Sie sagt mir oft wichtige Sachen und ich vertraue ihr. Sie hat mich nie angelogen. Als ich noch klein war und Adam so krank, da hat sie mich zu Nicolas geschickt, um ihn zur Hilfe zu holen ... an dem Tag hab ich sie zum ersten Mal gesehen.«

Eine Gänsehaut kroch über Melissas Rücken. Bislang war sie davon ausgegangen, dass es sich bei Amias Schwester um eine imaginäre Freundin handelte, jemand, der der blühenden Fantasie des Mädchens entsprungen war, doch jetzt ...

»Hat deine Schwester auch einen Namen?«

»Natürlich!« Amia kicherte, als hätte Melissa einen besonders guten Scherz gemacht. »Jeder hat doch einen Namen.«

»Wie heißt sie denn?«, hakte Melissa nach, als Amia nicht weitersprach.

»Charlotte.«

Nicolas und Melissa starrten das kleine Mädchen mit offenen Mündern an und schlagartig hatte Amias Geplapper auch Taras gesamte Aufmerksamkeit.

»Was ist?«, fragte das Kind. »Ihr tut, als hättet ihr einen Geist gesehen.«

»Wir nicht«, antwortete Nicolas heiser. Er steckte eine zittrige Hand in seine Manteltasche und zog ein weiteres Blatt mit einer Zeichnung hervor, die er Amia vor die Nase hielt. »Sieht deine Schwester so aus?«

Das Mädchen betrachtete das Bild konzentriert. Es war eines der Porträts, die Melissa von Amia gemalt, aber auf denen sie das Mädchen nie richtig getroffen hatte. Es sah ihr lediglich ähnlich – eher wie eine Schwester.

»Ja, genau so. Das ist Charlotte.« Aus funkelnden Augen lächelte sie Nicolas an und sprang dann fröhlich davon.



ENDE

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